Conrad Ferdinand Meyer
Gedichte
Conrad Ferdinand Meyer

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Ohne Datum

An meine Schwester

        Du scherzest, dass ein Datum ich vergass
Und meinst, ich dürfte bei dem Stundenmass
Mit einem Federstriche mich verweilen.
Du schreibst: »Datiere künftig deine Zeilen!«
Doch war das Zählen meine Sache nie,
Nach dem Wievielten such ich stets vergebens,
Auch diese Zeilen, wie datier ich sie?
»Aus allen Augenblicken meines Lebens!«

Kurz ist und eilig eines Menschen Tag,
Er drängt, er pulst, er flutet Schlag um Schlag,
Wie eines Herzens ungestümes Klopfen ...
Wer teilt die Jagd des Bluts und seiner Tropfen?
Es ist der Sturm, der nie zur Rüste geht,
Die Wechselglut des Nehmens und des Gebens,
Und meine Haare flattern windverweht
In allen Augenblicken meines Lebens.

Zu ruhn ist mir versagt, es treibt mich fort,
Die Stunde rennt – doch hab ich einen Hort,
Den keiner mir entführt, in deiner Treue!
Sie ist die alte wie die ewig neue,
Sie ist die Rast in dieser Flucht und Flut,
Ein fromm Geleite leisen Flügelschwebens,
Sie ist der Segen, der beständig ruht
Auf allen Augenblicken meines Lebens.

Ich hemme die beschwingten Rosse nicht,
Ich freue mich, mit jedem neuen Licht,
Das Feld gestreckten Laufes zu durchmessen,
Ein fernes, dunkles Gestern zu vergessen,
Ich fliege – hinter mir versinkt die Zeit –
Im Morgensonnenstrahl verjüngten Strebens! ...
Vorbei! ... Nur du allein weisst noch Bescheid
Von allen Augenblicken meines Lebens.

 


 


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