Conrad Ferdinand Meyer
Gedichte
Conrad Ferdinand Meyer

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Die Rehe

        Fern von dem fürstlichen keuschen Gemahl
Jubelt ein blühender Jüngling im Saal:
»Hebet die Becher und ruft, dass es schallt:
Freiheit, sie lebe! Die Freiheit im Wald!«
All die Genossen der waldlichen Lust
Bringen das Hoch aus erglühender Brust:
»Lebe die Jugend und Bacchus' Gewalt!
Freiheit, sie lebe! Die Freiheit im Wald!«

Schmetternde Hörner! Dann flüstern sie sacht,
Scherzen und locken die Elfen der Nacht
Aus ihren Waldesverstecken hervor –
Ängstliche Schläge bestürmen das Tor.
»Setz dich ans Feuer, du herziges Kind!«
Lärmt im erleuchteten Hof das Gesind.
»Fürstlich bewirten mit Kuchen dich wir!
Drinnen was suchst du? Bescheide dich hier!«

Rasch in den Saal, in den fürstlichen tritt,
Eine Gescheuchte mit hastigem Schritt,
Über den Busen, vom Laufe bewegt,
Kreuzweis die flehenden Arme gelegt –
Blätter am Röcklein, herbströtlich und falb!
Krausdunkle Haare, noch flattern sie halb,
Süssbraune Augen und schmerzlich dabei,
Blutende Füsse – nicht die einer Fei!

»Sage, wer bist du, krauslockiges Haupt,
Schimmernd von purpurnen Blättern umlaubt?«
– »Rehe, die Rehe, so heiss ich im Land
Von meinem braunen Gelock und Gewand –«
»Mein ist die Rehe! Des Herrn ist die Jagd!«
Jubelt der Jüngling, es sträubt sich die Magd ...
»Halali!« hetzt es und tobt es und hallt.
Ringend entwindet sie sich der Gewalt.

Lodernde Augen, wie Blitze der Nacht –
Doch sie besinnt sich. Dann redet sie sacht:
»Rehe, die Rehe so heiss ich im Land
Wilpert der Schütz ist der Vater genannt –
Auf eine Jagd, die dem Herrn nur gebührt
Hat ihn ein äsendes Rudel verführt.
Siehe, da kniet er, da zielt er und knallt –
Heut hat der Vater gefrevelt im Wald!
Doch deine Förster ergriffen ihn, weh,
Ihn und das sündlich erbeutete Reh.
Ich, von der Angst und dem Jammer gejagt
Lief in den Wald, eine hilflose Magd.
Da schier das Herz mir im Busen zersprang
Sah ich die Kerzen und hörte den Klang –
Glaubte die gütige Herzogin hier
Und nun erzittr ich und steh ich vor dir.
Gib mir den Vater und gib mir ihn bald,
Das ich getröstet verlasse den Wald!
Gnade!« Der Herzog gesteht sich verwirrt,
Dass man sich leichtlich im Walde verirrt,
Und er bekennt, vom Gewissen gerührt,
Dass eine Rehe vom Wege verführt.
Murmelnd verlangt er ein Blatt, einen Stift,
Schreibt eine Zeile mit schwankender Schrift:
»Wilpert dem Schützen gewähr ich Pardon!«
Und sie bedankt sich und fort ist sie schon.
Er tritt ans Fenster und öffnet es sacht:
Leuchtende Sterne der ruhigen Nacht ...
Dort eine flüchtige dunkle Gestalt!
Und eine Rehe verschwindet im Wald.

 


 


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