Conrad Ferdinand Meyer
Gedichte
Conrad Ferdinand Meyer

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Die Dryas

              O Liebe, wie schnell verrinnest du,
Du flüchtige, schöne Stunde,
Mit einer Wunde beginnest du
Und endest mit einer Wunde.

Ein Jüngling irrt im Waldesraum,
Umspielt von goldnen Schimmern,
Und späht nach einem schönen Baum,
Sich draus ein Boot zu zimmern.

»Jungeiche mit dem stolzen Wuchs,
Du bist mir gleich die rechte,
Dich zeichn ich mit dem Beile flugs,
Dann ruf ich meine Knechte.«

Er führt den Streich. Ein schmerzlich Ach
Macht jählings ihn erbleichen.
»Ich sterbe!« stöhnts im Stamme schwach,
»Die jüngste dieser Eichen!«

Ein Tröpfchen Blutes oder zwei
Sieht er am Beile hangen
Und schleuderts weg mit einem Schrei,
Als hätt er Mord begangen.

Schnell flüsterts aus dem Baume jetzt:
»Der Mord ist nicht vollendet!
Ich bin nur leicht am Arm verletzt.
Ich hatt mich umgewendet.«

»Komm, Göttin«, fleht er, »Waldeskind,
Dass ich Vergebung finde!«
Die Schultern schmiegend schlüpft geschwind
Die Dryas aus der Rinde.

Ein Dämmer lag auf Stirn und Haar,
Ein Brüten und ein Weben,
Von grünem Blätterschatten war
Der schlanke Wuchs umgeben.

Er fing den Arm zu küssen an
Die Stelle mit dem Hiebe,
Und, der er viel zu Leid getan
Die tat ihm viel zu Liebe.

»In meinem Baum – ist lauter Traum ...«
Sie schlüpft zurück behende
Und lispelt in den Waldesraum:
»Ich weiss, wen ich dir sende!«

Der Botin Biene Dienst ist schwer
Sie muss sich redlich plagen
Honig und Wermut hin und her
Waldaus, waldein zu tragen.

Einmal kam Bienchen wild gebrummt.
»Dryas, mich kanns entrüsten!«
Es setzt sich an den Stamm und summt:
»Ich sahs, wie sie sich küssten!

Sie ist ein blühend Nachbarkind
Muss ihn beständig necken –
Dich lässt er nun bei Wetter und Wind
In deinem Baume stecken!«

Ein schmerzlich Ach, als wände sich
Ein schlanker Leib und stürbe!
Das Laub vergilbt, die Krone blich,
Die Rinde bröckelt mürbe.

 


 


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