Conrad Ferdinand Meyer
Gedichte
Conrad Ferdinand Meyer

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fiebernacht

        »Berggeist, ich höre deine Ströme rauschen –
Gib mir Gehör! Wir wollen Rede tauschen!
Du von der Firn und aus der Gletscher Kühle,
Ich aus der engen Krankenkammer Schwüle!
Du weisst es, Geist, ich liege hier gefangen
Und lasse den geknickten Flügel hangen,
Ich ächz und stöhne, den gelähmten, wunden
Gebrochnen Arm dicht an den Leib gebunden.
Zwei kurzer Wandertage süsses Träumen –
Und dich verdross ein Gast in deinen Räumen.
Von deinem Tische stiessest du den Zecher,
Entrissest ihm den eisgewürzten Becher
Und rolltest ihn hohnlachend durch die Klüfte
Hinunter in des Fieberlagers Grüfte.
Verräter, schmählich hast du mich betrogen!
Hast du mich leise rufend nicht gezogen?
Warst du mir lange Jahre nicht gewogen?
Und wann in deinem Reich ich mich verirrte,
Schritt nicht, wie Zufall, mir voran ein Hirte
Und liess mich – ungerufen, ungebeten –
Bergab in seine sichern Stapfen treten?
Du bist mir gram geworden? Lass dich fragen!
Muss ich der führerlosen Fahrt entsagen?
Des hohen Irreganges mich entwöhnen?«
Mir gab Bescheid der Geist mit tiefen Tönen
Im Flutensturz und in der Laue Dröhnen,
Es klang wie Drohn und wieder klangs wie Höhnen:
»Ein junger Wandrer kam zu mir gefahren
Mit hastgen Schritten und mit wehnden Haaren,
Ein bleiches Bild! So ist er ohne Bangen
Auf meinen schmalen Gräten umgegangen,
Und über Klüften, schwindelnd abgrundtiefen,
Aus welchen jubelnd ihn die Wogen riefen,
Ist er gewandelt auf gestürzten Föhren
Und schien in meine Wildnis zu gehören,
Ein dumpfer Ton in meinen dumpfen Chören –
Du warsts ... und gingst an eines Abgrunds Saume,
Unkundig der Gefahr, in wachem Traume.
Doch mir gefiel der Kühne und der Blinde,
Und Sorge trug ich dir als einem Kinde –
Jetzt, lieber Herr, bist leidlich du vernünftig,
Hast Weib und Hof, bist in der Gilde zünftig,
Verlass dich nicht auf meine Flügel künftig!«

 


 


 << zurück weiter >>