Conrad Ferdinand Meyer
Gedichte
Conrad Ferdinand Meyer

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Der Gesang der Parze

        In der Wiege schlummert ein schönes Römerkind,
Die graue Parze sitzt daneben und spinnt.
Sie schweigt und spinnt. Doch ist die Mutter fort,
So singt die Parze murmelnd ein dunkles Wort

»Jetzt liegst du, Kindlein, noch in der Traumesruh.
Bald, kleine Claudia, spinnest am Rocken du –
Du wachsest rasch und entwächst den Kleidlein bald!
Du wachsest schlank! Du wirst eine Wohlgestalt!

Die Fackel lodert und wirft einen grellen Schein,
Sie kleiden dich mit dem Hochzeitsschleier ein!
Die Knaben hüpfen empor am Festgelag
Und scherzen ausgelassen zum ernsten Tag.

Eine Herrin wandelt in ihrem eignen Raum,
Und ihre Mägd und die Sklaven atmen kaum.
Ihr ziemt, dass all die Hände geflügelt sind.
Ihr ziemt, dass all die Lippen gezügelt sind.

Die blühenden Horen schwingen im Reigen sich:
Dir ward ein Knabe, Julier, freue dich!
Doch wann die Freude schwebt und die Flöte schallt,
Dann« – singt die Parze – »kommt der Jammer bald.

Der Tiber flutet und überschwemmt den Strand,
Das bleiche Fieber steigt empor ans Land,
Der Rufer ruft und kündet von Haus zu Haus:
'Vernehmt! Den Julier tragen sie heut hinaus!'

Jetzt, kleine Claudia, trägst du unträglich Leid!
In strenge Falten legst du dein Witwenkleid.
Dein Römerknabe springt dir behend vom Schoss
Und grüsst dich helmumflattert herab vom Ross ...

Die Tuben blasen Schlacht und sie blasen Sieg ...
Da nahts. Da kommts, was empor die Stufen stieg:
Vier Männer und die Bahre, Claudia, sinds
Mit der bekränzten Leiche deines Kinds!

Jetzt, kleine Claudia, bist du zu Tode wund« –
Das Kindlein lächelt. Es klirrt ein Schlüsselbund.
Die Mutter tritt besorgt in die Kammer ein,
Und die Parze bleicht im goldenen Morgenschein.

 


 


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