Conrad Ferdinand Meyer
Gedichte
Conrad Ferdinand Meyer

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Sonntags

                Ich liebe, Nymphe, deine keusche Flut,
Die kühl im allertiefsten Walde ruht.
Du spiegelst weder Stadt noch Firneschnee,
Den Himmel schimmerst du, mein kleiner See!
Dein Antlitz sagt mir alles, rasch erregt,
Was dir das kindliche Gemüt bewegt,
Und leicht erhellt, verdunkelt ohne Grund,
Macht es mir alle deine Launen kund.

Der Kahn geborgen tief im Schilfe dort,
Gefesselt ist er durch ein Zauberwort.
Nie hat gelöst ihn eine trunkne Schar,
Nie hat sich eine Dirn im Flatterhaar,
Von rohen Buhlen durch den Wald gehetzt,
Vor deinen Spiegel keuchend hingesetzt.
Nie hat ein unstet zuckend Fackelrot
Dir über deine kühle Stirn geloht!

Horch! Stimmen durch den Wald! Ein Lustgeschrei!
Gekreisch! Gewieher! Freches Volk, vorbei!
Den Gassenhauer, liederlich gejohlt –
Schäme dich, Echo! – hast du wiederholt!
Verhülle, Nymphe, deiner Augen Schein,
Verbirg dich tiefer in den Wald hinein!
Und zürnend gegen den Tumult gewandt: »Hinweg!«
gebot ich mit erhobner Hand.

»Nicht näher!« Und im Walde ward es Ruh.
Der Jubel zog sich einer Schenke zu.
Du bliebst in deinem blauen Kleide rein
In deinem grünen Waldesdämmerschein –
Indessen hat die Sonne sich geneigt.
Wie süss in jedem Blatt die Stille schweigt!
In Tannenduft und unter Himmelsruh
Bewacht von meinem Blick, entschlummerst du!

 


 


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