Conrad Ferdinand Meyer
Gedichte
Conrad Ferdinand Meyer

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Reisephantasie

            Mittagsruhe haltend auf den Matten
In der morschen Burg gezacktem Schatten,
Vor dem Türmchen eppichübersponnen,
Hab ich einen Sommerwunsch gesonnen,
Während ich ein Eidechsschwänzchen blitzen
Sah und, husch, verschwinden durch die Ritzen ...

Wenn es lauschte ... wenn es meiner harrte ...
Wenn – das Pförtchen in der Mauer knarrte ...
Dem Geräusche folgend einer Schleppe,
Fänd ich eine schmale Wendeltreppe
Und, von leiser Hand emporgeleitet,
Droben einen Becher Wein bereitet ...
Dann im Erker sässen wir alleine,
Plauderten von nichts im Dämmerscheine,
Bis der Pendel stünde, der da tickte,
Und ein blondes Haupt entschlummernd nickte,
Unter seines Lides dünner Hülle
Regte sich des blauen Quelles Fülle ...
Und das unbekannte Antlitz trüge
Ähnlichkeiten und Geschwisterzüge
Alles Schönen, was mir je entgegen
Trat auf allen meinen Erdewegen ...
Was ich Tiefstes, Zartestes empfunden,
Wär an dieses blonde Haupt gebunden
Und in eine Schlummernde vereinigt
Was mich je beseligt und gepeinigt ...
Dringend hätt es mich emporgerufen
Dieser Wendeltreppe Trümmerstufen,
Dass ich einem ganzen vollen Glücke
Stillen Kuss auf stumme Lippen drücke ...
Einmal nur in einem Menschenleben –
Aber nimmer wird es sich begeben!

 


 


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