Conrad Ferdinand Meyer
Gedichte
Conrad Ferdinand Meyer

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Miltons Rache

        Am Grab der Republik ist er gestanden,
Doch sah er nicht des Stuart Schiffe landen,
Ihn hüllt' in Dunkel eine gütge Macht,
Er ist erblindet! Herrlich füllt mit lichten
Gebilden und dämonischen Gesichten
Die Muse seines Auges Nacht ...

Ein eifrig Mädchenantlitz neigt sich neben
Der müden Ampel, feine Finger schweben
Auf leichte Blätter schreibt des Dichters Kind
Mit eines Stiftes ungehörtem Gleiten
Die Wucht der Worte, die für alle Zeiten
In Marmelstein gehauen sind ...

Er spricht: »Zur Stunde, da« – Hohnrufe gellen,
Das Haupt, das blinde, bleiche, zuckt in grellen
Lodernden Fackelgluten, zürnt und lauscht ...
Durch Londons Gassen wandern um die Horden
Der Kavaliere, Schlaf und Scham zu morden
Von Wein und Übermut berauscht:

»Schaut auf! Das ist des Puritaners Erker!
Der Schreiber hält ein blühend Kind im Kerker!
Der Schuhu hütet einen duftgen Kranz!
Wir schreiten schlank und jung, wir sind die Sünden
Und kommen ihr das Herzchen zu entzünden
Mit Saitenspiel und Reigentanz!

Vertreibt den Kauz vom Nest! Umarmt die Dirne! ...«
Geklirr! Ein Stein! ... Still blutet eine Stirne,
Der Vater schirmt das Mädchen mit dem Leib,
Die Bleiche drückt er auf den Schemel nieder,
Ein Richter, kehrt zu seinem Lied er wieder:
»Nimm deinen Stift, mein Kind, und schreib!

Zur Stunde, da des Lasterkönigs Knechte
Umwandern, die Entheiliger der Nächte ...
Zur Stunde, da die Hölle frechen Schalls
Aufschreit, empor zu den erhabnen Türmen ...
Zur Stunde, da die Riesenstadt durchstürmen
Die blutgen Söhne Belials ...«

So sang mit wunder Stirn der geisterblasse
Poet. Verschollen ist der Lärm der Gasse,
Doch ob Jahrhundert um Jahrhundert flieht,
Von einem bangen Mädchen aufgeschrieben,
Sind Miltons Rächerverse stehn geblieben,
Verwoben in sein ewig Lied.

 


 


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