Conrad Ferdinand Meyer
Gedichte
Conrad Ferdinand Meyer

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Die sterbende Meduse

            Ein kurzes Schwert gezückt in nervger Rechten,
Belauert Perseus bang in seinem Schild
Der schlummernden Meduse Spiegelbild,
Das süsse Haupt mit müden Schlangenflechten.
Zur Hälfte zeigt der Spiegel längs der Erde
Des jungen Wuchses atmende Gebärde –
»Raub ich das arge Haupt mit raschem Hiebe,
Verderblich der Verderberin genaht?
Wenn nur die blonde Wimper schlummern bliebe!
Der Blick versteint! Gefährlich ist die Tat.
Die Mörderin! Sie schliesst vielleicht aus List
Die wachen Augen! Sie, die grausam ist!
Durch weisse Lider schimmert blaues Licht
Und – zischte dort der Kopf der Natter nicht?«

Medusen träumt, dass einen Kranz sie winde,
Der Menschen schöner Liebling, der sie war,
Bevor die Stirn der Göttin Angebinde
Verschattet ihr mit wirrem Schlangenhaar.
Mit den Gespielen glaubt sie noch zu wandern
Und spendet ihnen lockenschüttelnd Grüsse,
In blühndem Reigen, regt sie mit den andern
Die freudehellen, die beschwingten Füsse.
Ihr Antlitz hat vergessen, dass es töte,
Es glaubt, es glaubt an die barmherzge Lüge
Des Traums. Es lauscht dem Hauch der Hirtenflöte,
Der weichmelodisch zieht durch seine Züge.
Es lächelt still, von schwerem Bann befreit,
In unverlorner erster Lieblichkeit.

Der Mörder tritt an ihre Seite dicht
Und dunkler träumt Medusens Angesicht.

Ihr ist, sie habe Hass empfunden schon,
Vor sich geschaudert, dumpf und bang gelitten,
Die Menschen habe scheu sie erst geflohn,
Dann ihnen nachgestellt mit Meuchlerschritten –
Sie sinnt, was Unheilbares sie gequält,
Dass sie dem eignen Leben feind geworden
Und andres Leben sich ergötzt zu morden –
Sie sinnt umsonst. Ihr hälts der Traum verhehlt,
Die grause Larve, die sie lang geschreckt,
Ist wie mit einem Purpurtuch bedeckt.
Das Graun ist aufgelöst in Seligkeit,
Begonnen hat der Seele Feierzeit.
Der Dämmer herrscht. Das harte Licht verblich.
Als eine der Erlösten fühlt sie sich.
Sie fürchtet keines Schreckens Wiederkehr,
Sie weiss, die Qualen kommen nimmermehr,
Nein, nimmermehr, und nun ist alles gut!

Sie liegt, den Hals gebogen, auf dem Rasen,
Sie hört die Hirtenflöte wieder blasen
Und lauscht. Sie zuckt. Sie windet sich. Sie ruht.

 


 


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