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Wir tanzten an jenem Abend bis spät in die Nacht hinein. Mutter war seelenvergnügt und wollte nichts von Schlafengehen hören; sie beobachtete, wie lebhaft sich der Junker Marwood mit Annchen unterhielt und sah, daß Ruth Huckaback und ich schon ganz gute Freunde geworden waren. Die arme Mutter – sie ahnte nicht, wie geringe Aussicht auf Erfüllung ihre stolzen Pläne hatten.
Es ging uns allen sehr im Kopfe herum, was Onkel Ruben wohl bewogen haben mochte, mitten in seiner besten Geschäftszeit von Dulverton herüber zu kommen, zumal wir uns auch wegen der Ernte fast gar nicht um ihn bekümmern konnten. Noch unbegreiflicher war mir aber, weshalb er seine Enkelin mitbrachte, statt der Abteilung Dragoner, ohne die er nie wieder einen Fuß nach Exmoor setzen wollte, wie er damals gelobt hatte.
Er schien auch mit seiner Abreise gar keine Eile zu haben, obgleich er doch sehen mußte, wie unbequem uns sein Besuch jetzt gerade war. Elise, die immer alles am besten wußte, behauptete, er habe absichtlich diese Zeit gewählt, damit er nach Belieben seine eigenen Zwecke verfolgen könne, ohne von unserer Seite eine Störung befürchten zu müssen. Annchen und ich hielten das nicht für unmöglich, aber Mutter war anderer Meinung.
Herrn Huckabacks Thun und Treiben heimlich nachzuspüren, hätte ich für wenig ehrenwert gehalten, obgleich er nach meiner Ansicht das Gastrecht ungebührlich mißbrauchte und uns bei den wilden, unruhigen Zeiten, in denen wir lebten, leicht in Ungelegenheiten bringen konnte. Er machte nämlich Tag für Tag lange Ausflüge, niemand wußte wohin. Gleich nach dem Frühstück sattelte er Annchens Dolly, ein sicheres ruhiges Pferdchen, versah sich mit einem Sack voll Eßwaren, steckte zwei große Reiterpistolen ein und ritt auf und davon. Seine goldene Uhr und den Geldbeutel ließ er stets daheim und zog die schäbigsten Kleider an, damit kein Räuber in Versuchung käme mit ihm anzubinden. Erst bei einbrechender Nacht, kurz ehe wir vom Felde kamen, kehrte er wieder heim. Dann konnte sich Dolly jedesmal vor Müdigkeit kaum mehr schleppen und der Schmutz, mit dem sie über und über bespritzt war, stammte, seiner Farbe nach, nicht aus unserem Sprengel.
Das alles hatten die Mädchen ganz allein herausgebracht, denn ich war von früh bis spät bei der Arbeit. Sie plagten mich sehr, ich solle Onkels Spur verfolgen und auskundschaften, wohin er ginge, aber ich schlug es ihnen rundweg ab, weil es völlig unter meiner Würde sei. Mich in das Doonethal zu schleichen und dort Umschau zu halten, war etwas ganz anderes, als einem schwachen Greise, unserm Gast und nahen Verwandten, heimlich aufzupassen. Die Doones waren Feinde der öffentlichen Sicherheit, und ich setzte dort bei jedem Schritt mein eigenes Leben auf's Spiel.
Mit mir konnten die Mädchen also nichts ausrichten, doch wußten sie sich zu helfen. Als wir tags darauf bei der Gersten-Ernte waren, zählte ich zu meiner Verwunderung nur dreizehn Schnitter, während es doch vierzehn sein sollten.
»Wer fehlt denn heute bei der Arbeit?« fragte ich streng.
Die Leute sahen mich verwundert an. »Jakob Fry ist ja schon vor dem Frühstück über Land gegangen,« meinte Bill Dodds. »Wußtet Ihr das nicht, Herr?«
»Ganz recht, weiß was er zu thun hat,« entgegnete ich, denn Jakob Fry war eine Art Aufseher und ich durfte sein Ansehen nicht schmälern. Im Stillen nahm ich mir aber vor, es ihm unter vier Augen ordentlich einzutränken, weil das seiner Würde nichts schadete.
Wenn ich sonst abends heim kam, war Annchen stets geschäftig, mein Abendbrot zu bereiten, während Lieschen beim Kaminfeuer las und die kleine Ruth die Schatten an der Wand beobachtete. Heute fand ich die Küche leer. In ziemlich schlechter Laune ging ich in das Zimmer der Mädchen hinauf, wo sie alle drei beisammen saßen und Jakob zuhörten, der irgend ein wunderbares Abenteuer zu berichten hatte. Neben ihm stand eine große Kanne Bier, er hielt einen leeren Humpen in der Hand und kam sich offenbar wie ein Held vor. Die Mädchen bestärkten ihn auch noch in dieser Ansicht.
»Bravo, Jakob, das habt Ihr recht gemacht,« sagte meine Schwester, »und wie mutig Ihr Euch benommen habt! Erzählt nur rasch weiter.«
»Was treibt Ihr hier für Unsinn?« rief ich so laut, daß sie vor Schrecken zusammenfuhren. »Geh' auf der Stelle heim zu deinem Weibe, Jakob, sonst bekommst du den Denkzettel, der dir gebührt, gleich jetzt, anstatt morgen früh.«
Elise sah mich mit zornigen Blicken an. »Du hast hier gar nichts zu suchen,« rief sie dreist und ungezogen. »Wer giebt dir das Recht, unaufgefordert in unser Zimmer zu kommen und uns zu stören?«
»Nun gut, so wird wohl Mutter selbst Ordnung schaffen müssen,« sagte ich, im Begriff fortzugehen. Aber Annchen hielt mich fest, die kleine Ruth vertrat mir den Weg und Elise rief:
»Wenn du so albern bist uns zu verklagen, John, so werden auch gegen dich allerlei Dinge zur Sprache kommen – wir wissen mehr, als du denkst.«
Hatte Annchen doch geplaudert? – Nein, ein Blick in ihre treuen Augen beruhigte mich.
»Was sprichst du da, Lieschen,« sagte sie; »niemand weiß etwas von unserm Bruder, dessen er sich schämen müßte. Er arbeitet von Morgen bis Abend für uns und kann gehen und kommen wie und wohin er will, ohne erst ein kleines Ding um Erlaubnis zu fragen, das fünf Jahre jünger ist als er. Komm', setze dich zu uns, John, du sollst hören was wir gethan haben, wenn du auch schwerlich damit einverstanden sein wirst: – du weißt, wir waren sehr neugierig, dahinter zu kommen, was Onkel Ruben eigentlich im Schilde führt. Wir hatten gehofft, Ruth würde uns sagen können zu welchem Zweck er gekommen sei, sie war jedoch gerade so sehr im Dunkeln darüber wie wir selbst. Nun brachte aber Onkel jeden Abend meine liebe Dolly in jämmerlichem Zustand heim. Das konnte ich nicht länger mit ansehen und sagte ihm einmal: Dolly sei mein Eigentum. Aber, denke dir nur, er meinte, wir hätten damals den kleinen Bergpony behalten, der ihm gehöre, und er werde Dolly statt dessen mit nach Dulverton nehmen, wo er sie gut brauchen könne. – Das wäre doch die größte Ungerechtigkeit; nicht wahr, John, du gibst es nicht zu?«
»Nur unter der Bedingung, daß er sich ihr auf den Rücken schnallen läßt, wie ich ihn damals fand. Zu dem Pony gehören auch die Riemen.«
Annchen lachte hell auf und fuhr dann fort: »Wenn ich Dolly abends fragte, wo sie gewesen sei, ließ sie die Ohren hängen und rollte die Augen, aber reden konnte sie leider nicht. Einmal flocht ich ihr, wie zum Schmuck, ein weißes Band in den Schweif, damit man sie schon von weitem sehen könne, aber Onkel ließ sich nicht täuschen; er schnitt das Band ab und meinte, er solle sich wohl die Doones auf den Hals jagen. Du wolltest uns auch nicht helfen, lieber Bruder, und da mußten wir uns zuletzt an Jakob wenden. Wir trugen ihm auf, eben jenen Bergpony zu satteln und Onkels Fährte im Gebirge zu verfolgen, ohne sich von ihm erblicken zu lassen.«
»Und ich hab' alles besorgt wie ich sollte,« rief Jakob froh endlich zu Worte zu kommen.
»So – und was hast du denn gesehen?« fragte ich in großer Spannung, obwohl ich mich gleichgiltig stellte.
»Er wollte es gerade erzählen, als du uns unterbrochen hast,« sagte Elise schnippisch.
»Dann soll er nur wieder von vorn anfangen. Wie die Sachen nun einmal stehen, ist es meine Pflicht, mich nach allem genau zu erkundigen.«
Jakob berichtete hierauf folgendes: Er war auf dem wilden Bergpony etwa zwei Meilen weit in der Richtung geritten, die Herr Huckaback eingeschlagen hatte, bis eine große Fläche öden Moores vor ihm lag, zuweilen von einem Sumpf oder etwas Unterholz unterbrochen. Er kannte die Gegend noch von der Zeit her, als er Schäfer gewesen und manches verirrte Schaf oder Rind heimgebracht hatte; sie galt für nicht geheuer, weil dort vor mehr als hundert Jahren ein gewisser Junker Tom ermordet worden war. Sein Geist ging bei hellem Tage noch um, trug den abgeschlagenen Kopf in der linken Hand und hob die rechte gen Himmel. So war er erst kürzlich von einigen Schäfern gesehen worden. Ich hätte Jakob nicht so viel Mut zugetraut sich allein auf das verrufene Moor zu wagen, aber wenn sein Verlangen nach dem blanken Goldstück, das ihm die Mädchen versprochen hatten, groß war, seine Neugier war noch größer. Auch verließ er sich auf des Ponys Schnelligkeit und stärkte sich dann und wann durch einen Zug aus der Branntweinflasche. Hinter einem Ginsterbusch versteckt, spähte er ins Weite. Endlich verlor er die Geduld und stand eben im Begriff, unverrichteter Sache heimzukehren, als in der Ferne eine Gestalt zum Vorschein kam. Sie hob sich undeutlich von einer grauen Felskuppe ab und sah aus wie ein Mann zu Pferde, der auf dem gefährlichen Weg zwischen den Sümpfen vorsichtig weiter ritt; denn dort hausen große schwarze Schlangen, die ebenso gut schwimmen wie kriechen. Der Reiter konnte niemand anders sein als Onkel Ruben, denn kein Doone kam je in diese Gegend und den Schäfern grauste davor. Es war ein gewagtes Unternehmen für einen unbewaffneten Mann, einem Bewaffneten zu folgen, der ohne Zweifel seine Gründe hatte, diesen öden Ort aufzusuchen, und nicht belauscht sein wollte. Aber Jakob brannte vor Begierde, zu wissen, was ein friedfertiger alter Herr, der obendrein reich war, und fremd in der Gegend, hier für Heimlichkeiten betreiben könne.
Als daher Herr Huckaback sich nach links wandte und in einer Felsschlucht verschwand, setzte Jakob den Pony in Trab, so rasch das bei dem holprigen, teils steinichten, teils sumpfigen Wege anging. In etwa einer halben Stunde erreichte er den Eingang der Schlucht und soweit er sehen konnte war sie leer. Mit laut klopfendem Herzen wagte sich Jakob hinein und ritt immer weiter durch die Windungen des Hohlwegs, bis dieser sich endlich teilte. Zur Linken ging es einen steilen Abhang hinauf und rechts führte ein schmaler Pfad bergab. Er spähte sorgsam umher und entdeckte endlich in dem gelben Sande, der dort lag, deutliche Spuren, daß Herr Huckaback den Weg ins Thal genommen hatte. Nun befiel ihn eine große Angst und er bereute tief, sich in dies gefahrvolle Unternehmen eingelassen zu haben, denn er wußte nicht mehr wo er war und ahnte nur, daß er in die Nähe des berüchtigten Teufelssumpfes geraten sein müsse. Der Weg ward immer dunkler und steiler und als er jetzt um eine Ecke bog, schien es selbst dem Pony unheimlich zu Mute zu werden, er stutzte, bäumte sich und war nicht von der Stelle zu bringen.
Jakob glitt von seinem Rücken hinunter und schaute sich um. Richtig, da lag der Teufelssumpf vor ihm, der schreckliche schwarze Morast, von dem ihm schon sein Großvater erzählt hatte, daß dort der Böse sein Spiel treibe. Schaudernd sah Jakob große Blasen aus der Tiefe aufsteigen; kein Vogel ließ sich erblicken in der Nähe des furchtbaren Gewässers, welches ein Kranz gelber Binsen umstand. Außerhalb desselben wuchsen lichte Sumpfgräser, blaue Glockenblumen, Sonnentau und Vergißmeinnicht, aber wehe jedem der die Hand ausstrecken wollte, um die Blumen zu pflücken, er wäre unrettbar in dem schwarzen Schlamm versunken.
Trotz seiner Furcht spähte Jakob mit scharfen Augen umher. Da sah er jenseits des Sumpfes, halb vom Röhricht verborgen, einen gefällten Baumstamm quer über einem großen Erdloch liegen und daneben allerlei Steinplatten, Holzstäbe und gelben Kies. Was das bedeuten sollte begriff er nicht, wahrscheinlich irgend einen Zauberspuk. Dolly aber schien sich nicht davor zu fürchten, denn sie war es ja gewiß und wahrhaftig, die dort drüben, an einen Pfahl gebunden, ruhig dastand und sich mit dem Schweif die Fliegen fortwedelte.
Während Jakob noch verwundert zu Dolly hinüberstarrte, sah er plötzlich unter dem braunen Stamm hervor etwas weißes aus dem Loch im Boden aufsteigen. Er bebte am ganzen Leibe und sprach ein Stoßgebet. Bald erkannte er jedoch, daß das weiße Ding nur eine hohe Zipfelmütze war, wie sie arme Sünder tragen, die man zum Galgen führt. Als nun auch noch eines Mannes Kopf, Hals und Schultern langsam aus dem Loch auftauchten, zweifelte Jakob nicht mehr, daß dies der Ort sei, wo alle Mörder wieder lebendig werden, wie die Leute in Exmoor glauben. Es war ja auch gerade der neunte Tag, seit man den letzten gehängt hatte.
Länger hielt es der Späher nicht aus; mit dem Galgenmann wollte er nichts zu schaffen haben. Er drückte dem Pony die Fersen in die Weichen und gallopierte rasch von dannen. Um nicht wieder durch die Felsschlucht zurückreiten zu müssen, machte er einen weiten Umweg, traf aber zum Glück mit einem Schäfer zusammen, der ihn nach einer nahen Schenke führte. Ihm war von all der ausgestandenen Angst so schwach geworden, daß er dem Bier und dem geräucherten Speck, den man ihm dort vorsetzte, erst tüchtig zusprechen mußte, bevor er sich wieder erholte. Dann ritt er auf sichern Pfaden weiter und langte glücklich noch vor Dunkelwerden zu Hause an.
Als Jakob endlich mit seiner Geschichte fertig war, priesen die Mädchen seine Tapferkeit und beklagten nur, daß er nicht noch ein wenig länger am Teufelssumpf geblieben sei. Ich aber sagte in strengem Ton:
»Von dem, was du uns hier erzählst, hast du wohl die Hälfte nur geträumt, Jakob. Nachdem deine Branntweinflasche leer war, bist du auf dem Moor eingeschlafen und gar nicht nach dem Sumpf geritten. Daß du lügen kannst wie gedruckt, weiß ich längst.«
»Ich hab's wohl nicht immer mit der Wahrheit genau genommen, denn wer lügt nicht ab und zu einmal« – erwiderte er und sah mir voll ins Gesicht; »aber heute könnt Ihr mir aufs Wort glauben, junger Herr. Wollte Gott, es wäre alles erfunden, ich würde besser schlafen diese Nacht.«
Kein Zweifel, er sprach die Wahrheit. »Verzeihe mir mein Mißtrauen, Jakob, ich sehe, daß ich mich diesmal geirrt habe,« sagte ich. »Aber laß nichts von der Sache verlauten, halte sie geheim gegen jedermann. Es ist irgend ein Unheil im Werke, dem ich nächstens auf die Spur kommen werde. Ich habe schon mancherlei Vermutungen darüber, die aber niemand wissen darf.«
Natürlich fielen die Mädchen gleich über mich her und quälten mich, ihnen meine Gedanken zu sagen. Obwohl aber Annchen schmollte, Lieschen zürnte und Ruth mich mit großen Augen ansah, blieb ich standhaft bei meiner Weigerung. Die einzige von ihnen, der man das Geheimnis hätte anvertrauen können, war die kleine Ruth Huckaback, das erkannte ich wohl.