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Wenn jemand eine einfach erzählte Geschichte lesen mag, will ich, John Ridd, Freisasse und Ältester des Kirchsprengels Oare in der Grafschaft Somerset, versuchen, ob ich – so Gott mir Leben und Gedächtnis läßt – niederschreiben kann, was ich in hiesiger Gegend gesehen und miterlebt habe.
Wer dies Buch zur Hand nimmt, muß zweierlei beherzigen: zuvördest, daß es mein Zweck ist, den arg verleumdeten guten Ruf unseres Kirchspiels wieder herzustellen und sodann – was jeder von selbst bald merken wird – daß ich nur ein schlichter, ungelehrter Mann bin.
Fremde Zungen zu reden, nach Herrenweise, verstehe ich nicht: auch die langen Wörter meiner eigenen Sprache fallen mir schwer, wenn sie nicht in der Bibel stehen oder im Meister Shakespeare, den ich liebe und hochschätze.
Mein Vater, der alte John Ridd, galt nach den Begriffen von Exmoor für einen vermöglichen Mann, denn er besaß als freies Erbe den schönsten der drei Meierhöfe, aus welchen das Kirchspiel besteht. Er war Kirchenvorsteher und wohlbestallter Vogt, hielt viel auf Gelehrsamkeit und war imstande seinen Namen zu schreiben. Mich, den einzigen Sohn, schickte er nach der alten Stadt Tiverton in der Grafschaft Devon, die nicht nur als Stapelplatz für Wollwaren berühmt war, sondern auch wegen ihrer lateinischen Schule, der größten im westlichen England, 1604 vom Tuchmacher Peter Blundell gegründet.
Als ich zwölf Jahre alt war, saß ich bereits in der höheren Abteilung, las dreist den Cäsar und Eutropius – mit Hilfe einer englischen Ausgabe – und verstand schon sechs Zeilen Ovid. Manche trauten mir zu, ich werde noch mit der Zeit in die dritte Klasse versetzt werden können. Es fehlte mir nicht an Ausdauer, doch hatte ich einen harten Kopf, wie, außer meiner Mutter, alle behaupteten. So hoch aufwärts zu streben – das sehe ich jetzt wohl ein – wäre eitler Ehrgeiz gewesen für mich Jungen vom Lande. Es gab ja nach der dritten Klasse nur noch die alleroberste, in der die klügsten und trefflichsten Schüler der ganzen Anstalt saßen.
So fügte es denn der gnädige Gott, daß ich das Studium aufgeben mußte, als ich gerade bei dem griechischen Zeitwort τύπτω (schlagen) angekommen war.
Mein ältester Enkel behauptet steif und fest, ich hätte nie φιλέω (lieben) lernen können, was noch zehn Seiten weiter im Buche steht, denn das habe er kaum fertig gebracht, trotz aller aufmunternden Schläge. Ich weiß wohl, er hat einen helleren Kopf als ich, doch an Leibeskraft wird er seinem Großvater schwerlich je gleichkommen.
Wer aber zweifeln wollte, daß ich überhaupt dort gewesen bin, weil ich jetzt so wenig weiß, der kann meinen Namen ›John Ridd‹ noch von damals her auf den Schulbänken eingekerbt finden. Sobald ich ein Messer halten und meinen Namen buchstabieren konnte, fing ich an, ihn in die Bank zu schneiden, auf der ich saß, und dann in den Tisch vor mir. Mein Enkel liest ihn dort noch heutigen Tages auf allen meinen Plätzen, und als sich ein Junge einmal darüber lustig machen wollte, hat er ihn wacker durchgebläut.
In Blundells Schule herrschten mancherlei lustige Sitten und Gebräuche, an die ich noch jetzt mit Freuden zurückdenke. Ich will hier nur als Beispiel anführen, wie es bei einer Hochflut herzugehen pflegte. Das Schulhaus liegt an einem mittelgroßen Fluß, Lowman genannt, der sich etwa eine Meile weiter unten in den breiten Exestrom ergießt. Schwillt nun der Lowman durch Regengüsse an und kommt obendrein sein wilder Geselle, der Taunton-Bach, tosend und schäumend zu ihm herabgestürzt, so umbraust er Blundells graue Steinwände von allen Seiten und setzt das Thal ringsum unter Wasser. Dann mögen die Tagesschüler zusehen, wie sie noch zum Abendbrot nach Hause kommen.
Der alte Pförtner – wir nannten ihn ›Kupfer‹ wegen seiner roten Nase – versieht sein Amt am Eingangsthor; er gibt acht auf die steigende Flut und kann Gott danken, wenn sie ihn selbst nicht mit fortspült. In der Nähe der Abzugslöcher aber hat ein Trupp Knaben Posto gefaßt, um gleichfalls den Wasserstand zu beobachten; auch steckt bald der, bald jener den Kopf zum Thor hinaus, wenn der Alte gerade ein Schnäpschen nimmt. Draußen ist der Boden schön gepflastert und der Namenszug des Stifters der Anstalt P. B. prangt dicht am Thorweg in weißen Steinen. Sobald das Wasser jene Buchstaben berührt, darf jeder Knabe, selbst der kleinste und unwissendste, in die großen Schulsäle hineinplatzen und, der anwesenden Lehrer ungeachtet, aus voller Kehle › P. B.!‹ schreien.
Dann springen alle Schüler mit lautem Gejohle von den Bänken und werfen Kappen und Bücher bis zur geschwärzten Decke hinauf. Statt wie sonst die kleinen Jungen zu quälen, laufen jetzt die großen mit ihnen um die Wette, das Steigen des Wassers und die Drangsal des alten ›Kupfer‹ zu sehen. Vor allem aber stoßen und treiben sie die Tagesschüler unter mancherlei groben Reden dem Ausgang zu. Die Lehrer stehen plötzlich in den verödeten Klassen, klappen vergnügt ihre Bücher zu und genießen bei einer Pfeife Tabak und einem herzstärkenden Trunk das behagliche Stündchen, fern von dem Ungemach der kalten Flut.
Aber ach, ich vergesse über diesen kleinen Erlebnissen und Kinderpossen die schweren, bitteren Erfahrungen, die ich seitdem durchzumachen gehabt. Mich hat das Leben so viel zerhämmert und zerstoßen, daß ich wohl hätte hart und verschlossen werden können. Doch zweifle ich noch immer, ob es wirklich die Aufgabe der Menschen sei, sich zu hassen und zu verfolgen oder sich von einander abzusondern wie die wilden Tiere des Waldes in ihren Höhlen. Das ist jedoch eine Frage, die ich nicht entscheiden werde, auch vielleicht meine Ururenkel noch nicht. Wie dem auch sei, eins steht jedenfalls fest, nämlich daß der Weizen heutzutage bessere Ernten bringt, als da ich ihn zuerst eingesäet habe.