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Von dem, was sich weiter in jenem Winter zutrug, ist mir nur noch wenig erinnerlich. Am meisten vermißte ich meinen Vater draußen im Freien, wenn es galt, die Fährte der Hasen im Schnee aufzuspüren, Sprenkel zu stellen oder einen Schäferhund abzurichten. Oft warf ich sehnsüchtige Blicke nach seiner Flinte, einem alten Waffenstück, das man im Meer aufgefischt hatte und von dem es hieß, es habe vor hundert Jahren einem edlen Spanier gehört, der auf der ›Unbesiegbaren Flotte‹ England mit Krieg überziehen wollte. Vater war sehr stolz auf sein Gewehr mit dem Luntenschloß; wenn ich daran dachte, wie oft ich ihm den Zunder gehalten hatte, während er ein Kaninchen aufs Korn nahm und einmal sogar einen Rehbock, den wir im Haselbusch erspähten, konnte ich kaum meine Thränen hinunterschlucken.
Einmal nahm Jakob Fry die Flinte von den Haken herunter, auf die sie Vater noch mit eigener Hand gelegt hatte; es empörte mich, zu sehen, wie er damit herumhantierte, als mangle ihm jegliches Gefühl.
»Jammerschade, daß der Herr die Muskete nicht zur Hand hatte, als ihm die Doones in die Quere kamen,« sagte Jakob. »Er würde ihnen den Weg zur Ewigkeit gezeigt haben, statt selbst so früh in den Himmel zu gehen. Aber was flennst du denn, Junge? Na, ich werd' nichts weiter sagen.«
»Was fällt dir ein, Jakob, ich flenne gar nicht; höchstens thut das Annchen. Bei kaltem Wetter huste ich manchmal und dann schenkt mir Vater ein Stück Lakritze – das heißt – ich meine – er that es sonst. – Aber nun gib mir die Flinte, Jakob.«
»Warum nicht gar! Die ist viel zu schwer für dich. Du kannst sie nicht einmal auf die Schulter heben.«
»Wie willst du das denn wissen? Ich werd' es dir gleich beweisen. Aus dem Weg, Jakob! Sie könnte geladen sein und du stehst gerade vor der Mündung.«
Jakob machte einen Sprung zur Seite. Ich stützte den Lauf auf den Bretterzaun in der frohen Gewißheit, daß ich das gegenüberliegende Scheunenthor unfehlbar treffen könne, oder wenigstens die Lehmwand daneben, ohne im Obstgarten Schaden anzurichten. Jakob gab mir jedoch keinen Zunder, ich mochte bitten und schelten, so viel ich wollte. Eigentlich war ich recht froh darüber, denn ich hatte Vater einmal sagen hören, die spanische Flinte schlüge aus wie ein Pferd; auch widerstand es mir, die Kugel zu verschießen, die er noch selbst hineingethan.
Wenn man die Flinte fest an die Backe legte und sie gut geladen hatte, war der Rückschlag übrigens gar nicht so schlimm. Das erfuhr ich bald, denn nachdem Jakob die mir so heilige Ladung auf eine Wasserratte abgefeuert hatte, betrieb ich natürlich meine Schießübungen lieber mit dem großen Gewehr, statt mit Jakobs Donnerbüchse. Ich mußte mich mit dem Rücken an einen Baum oder Pfosten lehnen, um es nur halten zu können, doch schoß ich fleißig und erwarb mir bald eine große Geschicklichkeit.
Fast das ganze Blei von der Dachtraufe auf der Nordseite unserer kleinen Kirche – Vaters Grab lag nach der andern Seite hin – habe ich damals durch unser bestes Scheunenthor geschossen. Das machte mir später oft Gewissensbisse, besonders seit ich Kirchenältester bin, auch habe ich deshalb manchem bösen Buben durch die Finger gesehen.
Die ganze Zeit über, während ich durch Feld und Wald schweifte oder mich auf dem Hofe herumtrieb, schaffte Mutter still daheim mit den Mägden im Haus oder im Hühnerstall, und der Kummer nagte an ihrem Herzen. Von Zeit zu Zeit brach sie wohl in Klagen aus über den guten Herrn, den sie alle verloren hätten, aber die Mägde achteten wenig darauf, obgleich sie ihn geliebt und geehrt hatten; jede dachte nur an den eigenen Schatz, den ihr der Frühling bringen könne. Mutter nannte sie selbstsüchtig und undankbar, aber doch gewährte es ihr eine Art Befriedigung, daß niemand ihn so tief betrauern durfte, wie sie selbst. Annchen ging zuweilen verstohlen abseits, um sich auszuweinen, gewöhnlich in dem Winkel, wo der Schleifstein steht und das Bienenhaus. Sie ließ sich dabei vor niemand blicken, ganz ungestört wollte sie ihren traurigen Gedanken nachhängen. Ertappte ich sie zufällig einmal, so nahm sie sich gleich zusammen; ich aber getraute mich nicht, ihr ins Gesicht zu sehen und fragte nur, ob bald Essenszeit sei.
Es war etwa um die Mitte des Monats Dezember, – Vater ruhte schon zwei Wochen im Grabe – da hatte ich all mein Pulver auf seine Feinde verschossen, denn ich feuerte niemals mein Gewehr ab ohne zu denken: »Dies gilt dem Mörder!«
Gleich nach Tische saß Mutter da und sah mich an, als wollte sie sagen, wie sie fast täglich that: »Wie ähnlich du deinem Vater wirst, John! Komm her, mein Junge, gib mir einen Kuß!« Ich trat zu ihr: »O Mutter, Mutter, ich möchte so schrecklich gern einen Schilling haben!«
»So lange ich lebe und dir einen Schilling geben kann, soll dir's daran nicht fehlen, mein lieber, guter Junge. Aber wozu brauchst du das Geld?«
»Ich muß mir etwas in Porlock kaufen, Mutter; vielleicht sag' ich dir's später. Wenn ich's verschweige, geschieht es nur deinetwegen und um der Kinder willen.«
»Nun hört nur den Jungen, redet er nicht wie ein alter Graubart! Wenn du mir einen Kuß gibst, John, bekommst du den Schilling.«
Das Küssen war mir damals sehr zuwider, das geht wohl jedem braven Buben so, der ordentliches Mark in den Knochen hat. Aber da ich das Pulver durchaus haben mußte, sah ich mich erst schüchtern um, ob auch Betty nicht in der Nähe sei, und gab dann Mutter den verlangten Kuß. Sie aber ließ es kaum bei einem halben Dutzend bewenden, und doch bekam ich nur einen Schilling dafür; gern hätte ich mir noch einen zweiten ausgebeten, doch brachte ich es nicht übers Herz.
Mit dem Geld in der Tasche trabte ich bald auf Peggys Rücken nach Porlock. Mutter durfte das nicht wissen, denn ihr war jene Straße jetzt unheimlich, als lauere hinter jedem Baum ein Mörder, und sie ließ mich keine hundert Schritte weit allein darauf gehen. Ich selbst konnte mich noch jahrelang des Schauderns nicht erwehren, wenn ich des Weges kam; an jenem Tage hatte ich jedoch sehr kühnen Mut, war mit Jakob Frys Donnerbüchse bewaffnet und schaute scharf um mich, wo ich einen Schlupfwinkel wähnte. Doch begegnete ich nur weidenden Schafen, roten Kühen und den gewöhnlichen Tieren des Waldes, kam unbehelligt nach Porlock und ritt geradeswegs auf Pookes Laden und Gasthaus zu. Peggy band ich draußen fest und trat mannhaften Schrittes ein, die Donnerbüchse über der Schulter. Herr Pooke war sanft eingeschlummert, er mochte wohl gerade nicht viel zu thun haben; sobald er die Augen aufthat, fiel er vor Schreck unter den Ladentisch und deckte sich den Kopf mit einer großen Bratpfanne; er dachte nämlich nicht anders, als daß die Doones gekommen wären, ihn auszuplündern, wie sie nach der Meßzeit zu thun pflegten. Ich war zwar schon so groß und breitschulterig wie viel ältere Knaben; daß man mich aber für einen Räuber halten könne, hätte ich nicht gedacht; es schmeichelte mir jedoch.
»Du meine Güte, Herr Pooke, Sie glauben wohl gar, ich wüßte nicht mit Feuerwaffen umzugehen! Fürchten Sie nichts, die Donnerbüchse geht nicht los, bevor ich aus Leibeskräften den Hahn aufgezogen habe – sehen Sie, so – nur noch ein wenig stärker.«
»Um Gottes willen, John Ridd,« rief Pooke, der mich jetzt erkannt hatte, »thu' es nicht, lieber Junge, zeig' es mir nicht, ich will es gar nicht sehen. Leg' die Büchse weg, ich bitte dich. Du sollst auch die besten Waren aus meinem Laden haben.«
Ich mochte versichern, so viel ich wollte, daß ich die Waffe trefflich zu handhaben verstehe und gar keine Gefahr zu besorgen sei; Pooke hatte keinen andern Gedanken, als mich und mein Gewehr baldmöglichst los zu werden. Für meinen Schilling gab er mir zwei große Pakete Pulver; ich konnte sie kaum in die Taschen zwängen, und einen riesigen Klumpen Blei, den ich Peggy aufschnallte. Als ob dies noch nicht genug für das Geld sei, schenkte er mir obendrein eine Schachtel mit Zuckerwerk für mein Annchen; ihr hübsches Gesichtchen und freundliches Wesen machte sie zum Liebling von jedermann.
Es dämmerte bereits, als ich den Hügel bei Porlock hinaufritt, und dabei dachte ich, ob Mutter sich jetzt wohl um mich ängstige oder nicht. Die beiden großen Pakete, die hinter mir hingen, schlugen fortwährend so hart an einander, daß ich fürchtete, mein Pulver möchte verschüttet werden oder mich über Peggys Kopf hinweg in die Luft sprengen. Allein der Pony trabte wacker mit mir dahin, und von seinen Nüstern stiegen Dampfwolken auf, denn es war eine frostkalte Nacht. Jetzt kam auch der Mond über dem Hügel heraus; wir begrüßten sein Licht mit Freuden und waren doch bange vor den Schatten, die es warf. Ich hielt die Donnerbüchse schußbereit, hoffte aber im Stillen, ich würde sie nicht brauchen. Als wir an den Engpaß kamen, wo die Doones meinen Vater umgebracht hatten, überfiel mich eine entsetzliche Angst; ich legte den Kopf auf Peggys Hals, schloß die Augen und war wie gebadet in kaltem Schweiß. Doch sah ich keine Menschenseele, bis wir Haus und Hof erreichten, wo ich meine Mutter in Thränen fand und Betty Muxworthy nicht aufhören wollte mit Schelten.
Sobald das Abendessen verzehrt war, flüsterte ich Annchen zu: »Komm mit, Annchen, ich zeige dir 'was, wenn du's nicht ausplauderst.«
Sie glühte über und über vor Freude und sprang so rasch von der Bank auf, daß ich, um Bettys Argwohn nicht zu erregen, ganz gleichgiltig that und nach der Wand starrte. Betty glaubte, ich habe dort im Schrank neben der Uhr etwas verborgen und ließ sich's nicht ausreden. Sie hatte gar keinen Grund, meinen Worten nicht zu trauen, denn eine Unwahrheit kam nie über meine Lippen, aber sie hielt alles Mannsvolk von der Wiege bis zum Grabe für Lügner, weil sie einmal vor vielen Jahrzehnten in ihrer Heiratsangelegenheit betrogen worden war.
Mutter schlummerte unterdessen sanft ein, die Sorge um mich hatte sie müde gemacht. ›Wächter‹, meines Vaters Lieblingshund, schlief neben ihr, den Kopf in ihren Schoß gelegt.
»Kommst du jetzt, Annchen?« sagte ich, denn sie sollte mir den Löffel beim Bleigießen halten. »Du mußt gleich kommen, sonst rufe ich Lieschen und zeige ihr alles.«
»Nein, nein, das darfst du nicht, John; was versteht denn Lieschen! Sie kann ja nicht einmal eine Suppe kochen und weiß kaum Wurst von Schinken zu unterscheiden; das sei einerlei, sagt sie, weil beides gut schmeckt. Da sieht man recht, was bei ihrem vielen Bücherlesen herauskommt, nicht wahr, Betty?«
Betty wollte überhaupt niemals glauben, daß irgend jemand lesen könne; die Leute lernten alles zuerst auswendig, meinte sie, und stellten sich dann nur, als sähen sie es ab von den Zeichen auf dem Papier, um sich anstaunen zu lassen mit ihren Zauberkünsten. Sie war jetzt fast vierzig Jahre bei uns auf dem Hof, hatte meinen Vater als Kind gewartet, für seine Kleider und sein Essen gesorgt und ihn zuletzt in den Sarg gelegt. So war sie zu großem Ansehen gelangt, und weder Knecht noch Magd wagte es, Betty zu widersprechen. Annchen besaß ihr ganzes Herz; sie wäre für das Kind durchs Feuer gegangen; verzog sich doch ihr altes Gesicht sogar zu einem Lächeln, wenn die Kleine so lustig vor ihr herumtanzte. Wie es kam, weiß ich nicht, aber wer Annchen nur einmal sah, mußte sie lieb haben; ihre großen blauen Augen hatten einen so sanften Schein und blickten jeden so freundlich und treuherzig an; auch that ihr unschuldiges, argloses Wesen allen wohl, und sie war stets anmutig und liebenswürdig. Für die Küche besaß sie ganz besondere Anlagen, und sie strahlte vor Freude, wenn wir zufrieden waren und sie sah, daß es uns schmeckte. Ich bin lange draußen in der Welt gewesen, wie man im Verlauf meiner Geschichte sehen wird, aber nie ist mir jemand vorgekommen, der wie Annchen verstanden hätte, es einem Manne behaglich zu machen, der ermüdet heimkehrt.
Während der langen Winterabende saßen wir meist beisammen um den Kamin der hinteren Küche, wo die großen Speckseiten im Rauchfang hingen. Meine blanken Bleikugeln zischten lustig, wenn ich sie ins Wasser warf, und dazu sangen im Ofen die roten Äpfel, welche Annchen für mich briet.