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Es war damals ein langer und mühseliger Weg von Tiverton nach Oare; der gute Knüppeldamm, den wir jetzt haben, wurde erst viel später angelegt. Kein Wunder daher, daß unsere erschöpften Pferde einen Ruhetag brauchten, um wieder zu Kräften zu kommen. Für mich war das auch günstig, denn meine blauen Flecken und Beulen am ganzen Körper schmerzten nicht wenig.
Wir hatten die Nacht im Gasthaus zum ›Weißen Roß‹ geschlafen und brachen am nächsten Morgen vor dem Hahnenschrei auf. Warum ich jetzt schon nach Hause sollte, begriff ich noch immer nicht, hoffte aber das beste, wie das Knabenart ist. Fry war sehr wortkarg und mürrisch gegen mich, durchaus nicht in der richtigen Stimmung, um einen Schüler in die Ferien abzuholen, doch verzieh ich es ihm und kümmerte mich nicht weiter darum.
Bis Bampton ging alles gut, von da ab ward der Weg schwieriger, doch sanken die Pferde nur an den schlimmsten Stellen mehr als knietief in den Sumpf. Das Wetter war nebelig und ungewöhnlich milde; Smiler und Peggy keuchten und schwitzten viel, aber wir kamen gut vorwärts. Gegen Mittag erreichten wir Dulverton, wo ein Onkel meiner Mutter lebte, kehrten jedoch diesmal nicht in seinem Hause ein, was mich sehr wundernahm. Jakob Fry ritt gerade auf das Wirtshaus los, er mochte wohl ebenso rechtschaffen hungrig sein wie ich.
»Warme Hammelpastete für zwei Reisende,« rief er mit lauter Stimme zur Küchenthür hinein. »Tischt sie nur auf gerade wie sie aus dem Ofen kommt; letzten Dienstag hab' ich's auch so bestellt, in fünf Minuten muß alles fertig sein.«
So schnell ging's nun freilich nicht, aber als die Schüssel endlich erschien und ihren würzigen Geruch verbreitete, dankte ich Gott für meinen leeren Magen. Wir hielten eine Mahlzeit, an die ich mich mein Lebtag erinnern werde. Ich hatte reiche Leute zwar schon von warmer Hammelpastete reden hören, aber gegessen hatte ich noch keine; das Gericht war so köstlich und wohlschmeckend, daß mir noch heute, nach fünfzig Jahren, bei dem bloßen Gedanken daran das Wasser im Munde zusammenläuft.
Als wir satt waren und auch die Pferde ihr Futter erhalten hatten, lief ich in den Hof hinaus zum Brunnen, um mich nach Herzenslust zu waschen. Ich hätte das gern schon vor Tische gethan, aber Fry wollte nicht mit dem Essen auf mich warten und daher schien es mir zu gefährlich. Er selbst war kein großer Freund von Wasser und Seife, ausgenommen daheim am Sabbatmorgen. Jetzt lehnte er träge draußen am Thürpfosten, stocherte in seinen Zähnen herum und sah mir zu.
Da kam vom Gasthaus her eine vornehme Kammerzofe herbeigetrippelt, die ein hohes italienisches Glas zierlich in der Hand trug. Sie schritt, um es zu füllen, geradeswegs auf den Brunnen zu, wo ich mir das kalte Naß tüchtig über Kopf und Schultern, Brust und Arme rieseln ließ. Als ich sie durch den Sprühregen hindurch gewahr wurde, erschrak ich heftig und schämte mich, weil ich so unbekleidet war. Sie aber machte sich gar nichts daraus, sah mich mit großen Augen an und that als sei ich noch ein ganz kleines Kind.
»Komm her zu mir, lieb Bübchen,« rief sie in schmeichelndem Ton, während ich mich hinter der Pumpe verkroch, um in mein Hemd zu schlüpfen. »Himmel, wie sind blau deine Augen und deine Haut weiß wie Schnee. Aber ein böser Mann hat dich geschlagen. Laß mich fühlen die schwarzen Flecken, lieb Bübchen. Das muß thun schrecklich weh hier – und da. Aber es wird bald besser – du hast mich lieb, nicht wahr?«
Während sie sprach, berührte sie mit ihren schmalen braunen Fingern leise meine Brust und Schultern. Sie war eine Ausländerin, das erkannte ich an ihrer Sprache und ihrem ganzen Wesen. Meine Schüchternheit verlor sich, als ich ihr gebrochenes Englisch hörte, ich hätte zwar gern meine Jacke angezogen, doch wollte ich nicht unhöflich sein.
»Verzeiht, Madame, ich muß jetzt gehen,« sagte ich. »Fry wartet auf mich und Peggy wiehert schon ungeduldig. Bis zum Abend müssen wir daheim sein; Vater will mich an der Schafhütte treffen.«
»Ja, geh nur, Kleiner; vielleicht ich komme dir nach – du gefällst mir gar zu gut. Die Frau Gräfin ist sehr strenge mit mir. Sag 'mal, wie weit ist's wohl bis zum Seeufer bei Wasch– Wasch–«.
»Watchett meint Ihr gewiß. O, das ist ein langer Weg und gerade so sumpfig wie nach Oare.«
»O–a, O–a – ist das der Ort wo du wohnst, lieb Bübchen? Ich werde nicht vergessen und einmal kommen besuchen dich. Jetzt pumpe aber tüchtig, bis eiskalt Wasser kommt. Das Glas muß sein ganz beschlagen, sonst Frau Gräfin nicht trinken.«
Ich that ihr den Willen und sie goß das hohe Glas wohl fünfzigmal wieder aus. Als das Wasser endlich krystallklar darin funkelte, schien sie zufrieden, machte mir zum Dank einen tiefen Knix und wollte mich küssen. Da duckte ich aber schnell unter den Pumpenschwengel – mich von aller Welt küssen zu lassen war mir von jeher zuwider – und sie stieß sich mit dem Kinn an den eisernen Griff.
Die Stallknechte, die das von weitem gesehen hatten, kamen dreist herzu und boten sich statt meiner an; die Fremde aber richtete sich würdevoll auf und schritt, ohne sich umzusehen, über den Hof davon. Da merkten die Knechte wohl, daß dies ausländische Blut anders sei als ihre Schätzchen; sie kicherten verlegen hinter ihr drein, aber zu folgen wagte ihr keiner.
Erst wenn man Dulverton hinter sich läßt und an das zerbrochene Kreuz kommt, unter dem ein Ermordeter begraben liegt, trennt sich der Weg nach Oare von der Straße, die in nördlicher Richtung nach Watchett führt. Peggy und Smiler, durch ihr reichliches Mahl gestärkt, trabten mit frischen Kräften bergauf. Als wir an einer Baumgruppe vorbeikamen und um die Ecke bogen, sahen wir plötzlich vor uns eine große, sechsspännige Kutsche, die sich schwerfällig fortbewegte. Jakob Fry zog den Hut und behielt ihn ehrfurchtsvoll in der Hand, während er vorbeiritt; ich aber vergaß vor Überraschung die Mütze abzunehmen, und faßte unwillkürlich die Zügel fester.
Die Kutsche war halb zurückgeschlagen nach neumodischer Art; den offenen Sitz nahm die Fremde ein, die mir am Brunnen begegnet war, und ihr zur Seite saß ein kleines, schwarzhaariges Mädchen von wunderbarer Lieblichkeit; sie war so fein und vornehm anzuschauen, daß ihr sicherlich niemand zu widerstehen vermochte. Ich konnte sie nur mit flüchtigem Blick betrachten, sie aber sah gar nicht nach mir hin, sondern nur auf die Hecken am Wege. Ihr gegenüber auf dem Ehrenplatz saß, sehr warm eingehüllt, eine schöne Dame, mit zartem Rot auf den Wangen, ein lebhafter, etwa dreijähriger Knabe neben ihr, der eine weiße Kokarde am Hütchen trug und alles ringsum mit großen Augen anstarrte. Kaum hatte er meine Peggy erblickt, die ihm wohl ausnehmend gefallen mochte, so ruhte er nicht eher, bis er auch seine Mutter auf meinen Pony und mich aufmerksam gemacht hatte. Ich bin sonst kein blinder Verehrer der Großen und Reichen, aber die hohe Frau sah uns sehr freundlich an, das muß ich gestehen; auch findet man solchen Liebreiz nicht so leicht bei den Landmädchen, die unsere Kühe melken.
Schnell zog ich die Kappe vor der schönen Dame; sie aber lächelte und warf mir eine Kußhand zu. Vielleicht hielt sie mich auch für ein so liebes, unschuldiges Knäblein, wie es die Leute oft thaten, ich weiß nicht weshalb. Die Fremde aber, vermutlich der Dame Kammerzofe, die mit der schwarzäugigen Kleinen beschäftigt gewesen war, blickte jetzt auf und sah mir voll ins Gesicht. Ich wollte sie höflich grüßen, sie aber starrte mich an, als sähe sie mich zum ersten- und hoffentlich auch zum letztenmal. Dergleichen war mir noch nicht vorgekommen; in meiner Bestürzung preßte ich die Fersen in Peggys Weichen, worauf der Pony sich so plötzlich in Trab setzte, daß ich mich nur noch einmal umwenden und, die Mütze in der Hand, gegen die schöne Dame verbeugen konnte.
Bald hatte ich Jakob eingeholt und bestürmte ihn nun mit Fragen nach den vornehmen Leuten. Es war aber wenig aus ihm herauszubringen, er brummte nur etwas von ›verdammten Papisten‹, mit denen er nichts zu schaffen haben wolle, und meinte, es sei mein Glück gewesen, daß ich gerade Zuckerzeug für Annchen in Dulverton eingekauft hätte, sonst würde mir all die Pracht und Herrlichkeit bei der Abfahrt meinen thörichten Kopf noch ganz verdreht haben.
Wir bogen nun in den Seitenweg ein und bekamen die Kutsche nicht wieder zu Gesicht. Je weiter wir ritten, desto schlechter wurde die Straße; zuletzt verlor sie sich ganz, und wir konnten nur noch hoffen, daß Gottes gnädige Führung uns über kurz oder lang sicher heimgeleiten werde.
Ein wässeriger Nebel lagerte über dem Moor und verhüllte allmählich Baum und Strauch vor unseren Blicken; bald sahen wir in dem Dunkel nur noch die Köpfe unserer Pferde sich im Takt zu ihren Tritten bewegen; auch hörten wir, wie sie einen Fuß nach dem andern vorsichtig in die aufspritzenden Wasserlachen setzten, und dazu das regelmäßige Anschlagen des Schwanzes.
Jakob saß schläfrig vornüber gebeugt im Sattel; sein langer, bereifter, roter Bart war jetzt im Nebel verschwunden; nur seinen hohen Sonntagshut sah ich vor mir hin und her schwanken. Zuweilen tauchte auch eine Schulter auf, wenn Smiler mit einem Fuß zu tief in den Sumpf geriet.
Plötzlich schreckte Jakob jäh aus dem Schlaf empor. »Gott erbarme sich,« rief er, »wo sind wir denn? Hast du die alte Esche am Wege gesehen, John? An der müssen wir doch vorbeigekommen sein!«
»Nichts hab' ich gesehen und gehört, Jakob, außer dein Schnarchen.«
»Du bist ein rechter Narr, John – und ich um nichts klüger. – Aber horch, was war das?«
Wir hielten die Pferde an und lauschten in die Nacht hinaus. Zuerst hörten wir nur das Keuchen der Tiere und das Tröpfeln des Wassers, das uns von den Hüten und Kleidern herabrieselte, dann kam ein leiser, knarrender Ton durch die Luft, so klagend und unheimlich, daß sich mein Haar zu sträuben begann. Dreimal erhob er sich und verklang wieder in der Ferne; ich griff nach Jakobs Arm, um mich zu vergewissern, ich sei nicht allein.
»Nur keine Furcht, John! Es klingt meinen Ohren wie die schönste Musik. Gott segne den Mann, der das gethan hat!«
»Hat man denn einen von den Doones gehängt?«
»Von den Doones? Gott bewahre! Sag' so etwas nie wieder, hörst du wohl! Der König selbst wäre seines Lebens nicht sicher, ließe er einen Doone hängen.«
»Wer baumelt denn aber dort an der Kette?«
»Ein Schafdieb von drüben her, jenseits Exmoor; sie nennen ihn den roten Jim. Dem ist nur sein Recht geschehen und wir können Gott danken, daß seine arme Seele noch solchen Lärm macht.«
Bald laut, bald leise, wie ihn der Wind zu uns herüber trug, führte uns der knarrende Ton, dem wir folgten, bis dicht zu dem Fuß des Galgens, wo vier Wege sich kreuzten.
»Ein wackeres Stück Arbeit!« rief Jakob, in die Höhe blickend, wo ein Gehenkter dicht am andern hing. »Richtig, da ist ja der rote Jim – und hier ist noch die Kerbe, die ich mir in den Pfahl geschnitten habe; nun kann's uns nicht mehr fehlen. Gute Nacht, Jim; schönen Dank, daß du uns den Weg gewiesen, und laß dir die Träume durch das Knarren nicht stören.«
Jakob schüttelte vergnügt die Zügel, und Smiler trabte der Heimat zu; mir aber that der rote Jim leid; ich hätte gern gewußt, ob er dem jämmerlichen Ende nicht hätte entgehen können und ob sein Weib und seine Kinder um ihn trauern würden, falls er eine Familie besaß. Jakob wollte jedoch nichts mehr von dem schauerlichen Galgen hören.
»Schweig' still,« sagte er rauh, »wir sind jetzt dicht am Kriegspfad der Doones, zwei Meilen vom Leuchtturm auf dem Dunkery-Hügel, dem höchsten Punkt in Exmoor. Sollten sie heute auf Beute ausgezogen sein, dann müssen wir auf allen Vieren weiterkriechen, hörst du wohl!«
Ich verstand ihn nur zu gut – er meinte die blutgierigen Doones von Bagworthy, den Schrecken von ganz Devon und Somerset, die Geächteten, die Verräter und Mörder. Mir bebten alle Glieder; hinter mir hörte ich die Ketten des toten Schafdiebes klirren und dachte an die lebendigen Bösewichte, die uns von vornher bedrohten.
»Aber Jakob,« sagte ich in vorsichtigem Flüsterton und lenkte Peggy an seine Seite, »lieber Jakob, du glaubst doch nicht, daß sie uns durch den Nebel hindurch sehen könnten?«
»Ihren Augen entgeht nichts, selbst im dicksten Nebel,« erwiderte er leise und furchtsam. »Jetzt sind wir am Hohlweg; nun sei auf deiner Hut – sachte, sachte – sonst kommst du nimmer heim zu deiner Mutter.«
Am liebsten wäre ich in rasender Eile quer über den Pfad der Doones getrabt, um die Gefahr so rasch wie möglich hinter mir zu haben; das ging jedoch nicht an. Wir hatten eine lange, tiefe Schlucht erreicht, waren behutsam auf unserer Seite den Abhang hinuntergeritten, dann unten durch das weiche Gras, das den Boden bedeckte, und jenseits wieder die Anhöhe hinauf. Der Kamm des Hügels lag schon dicht vor uns, als ich plötzlich ein Geräusch vernahm und mich erschreckt an Jakobs Arm klammerte. Man hörte das Klappern von Pferdehufen auf sumpfigem Grunde und das Schnauben der Nüstern; dazwischen das Murren abgematteter Leute, das Klirren von Steigbügeln und Waffen.
»Um Gottes willen, John, jetzt gilt's! Wirf dich rasch von Peggy herunter, sie mag laufen, wohin sie will.«
Jakob lag schon auf dem Boden; ich schlang mir den Zügel um den Arm und folgte seinem Beispiel.
»Laß den Zügel los, Junge; Gott gebe, daß sie die Tiere für wilde Ponies halten, sonst jagen sie uns eine Kugel durch den Kopf.«
Jetzt verstand ich erst, was er wollte; aber Peggy und Smiler waren zu müde, um weit zu laufen; sie fingen an, in unserer Nähe zu grasen und lauter zu schnüffeln als uns lieb war. Jakob hatte sich in einem kleinen Graben hinter Heidegestrüpp verborgen; während ich zu ihm hinkroch, blökte er wie ein Schaf, um das Geräusch, das ich machte, zu übertönen – aber es klang, als zittere das arme Schaf vor Kälte und Furcht.
Gerade als der vorderste Reiter, kaum zwanzig Ellen unter uns, in den Hohlweg gesprengt kam, fegte ein Windstoß durch das Thal und trieb den Nebel vor sich her. Ein grelles rotes Licht schoß breite Strahlen über das Moor, verscheuchte die Finsternis rings umher und funkelte auf dem Stahlgewand der Reiter.
»Der Leuchtturm von Dunkery!« flüsterte Jakob mir zu und hielt dabei seinen Mund so dicht an mein Ohr, daß ich fühlte, wie seine Zähne klapperten. »Den zündet man jetzt nur an, um den Doones zum Heimweg zu leuchten, seit der Nacht, in der sie ihn erstürmt haben und die Wächter von oben hinabgestürzt. – Aber Junge, um alles in der Welt, was fängst du jetzt an?«
Ich hatte nicht länger still liegen können und kroch auf dem Bauche den Graben entlang bis zu einem Steinhaufen, der mit dürrem Farnkraut besetzt war. Die Reiter sah ich etwa zwanzig Fuß unter mir und wagte kaum Atem zu holen, um mich nicht zu verraten.
Das Wachtfeuer auf dem Leuchtturm schlug jetzt in einer mächtig großen Flamme gen Himmel, die Hügel ringsum beleuchtend und die Felsen am Eingang der Schlucht, durch welche die berittene Schar in düsterm Schweigen einhergezogen kam. Es waren große, starkknochige Gestalten in Lederwams und Reiterstiefeln, mit Stahlhelm und Brustharnisch, die Muskete nachlässig über die Schulter geworfen. Auf dem Sattel hinter ihnen lag die aufgehäufte Beute, und vorn war die Branntweinflasche angehängt. Dreißig und mehr kamen vorbei, wie Wolken über die untergehende Sonne ziehen. Einige schleppten tote Schafe mit sich, andere allerlei Wildpret, und einer hatte sogar ein Kind über seinem Sattelbogen hängen, mit dem Kopf nach unten, ob lebend oder tot, konnte ich nicht erkennen. Wahrscheinlich hatten sie das Kind, das noch sehr jung war, seiner kostbaren Kleider wegen geraubt, denn sie funkelten, von dem Feuerglanz beschienen, wie Gold und Edelstein.
Ich geriet völlig außer mir, als ich das hilflose Kind in den Klauen jener Geier sah; mir brannte das Herz vor Mitleid über sein Geschick. In ohnmächtiger Wut sprang ich auf einen Felsblock, ballte die Fäuste und schrie so laut ich konnte. Zwei der Reiter wandten sich nach mir um; schon wollte der eine seine Flinte auf mich anlegen, doch der andere riet ihm, sein Pulver zu sparen, es sei ja nur ein Kobold, der sie äffen wolle.
Als die Gefahr ganz vorüber war, kam Jakob steif und mürrisch zu mir gegangen; ihm thaten alle Glieder weh von dem Lager auf der nassen Heide.
»Du bist mir der Rechte!« schalt er. »'s ist nicht dein Verdienst, John, daß sie meine junge Frau nicht zur Witwe gemacht haben. Hättest du sie etwa ernähren wollen, samt ihrem Sohn, wenn sie einen bekommt? Eigentlich sollte ich dich fassen und auf den Doone-Pfad hinunterwerfen; früher oder später läufst du doch ins Verderben, wenn du so dumme Sachen anstellst.«
Noch fünf Minuten zuvor war Jakob halb tot vor Angst und Schrecken gewesen. Er hätte jetzt weit besser gethan, Gott zu danken, statt mit mir zu hadern. So dachte ich, schwieg aber wohlweislich still, denn ich schämte mich nicht wenig. Bald hatten wir Peggy und Smiler eingeholt, die uns schon ein Stück auf dem Heimwege voraus waren und es sich überall schmecken ließen, wo sie gutes Gras fanden. Sie waren jedoch froh, als wir sie begrüßten und wieder aufsaßen, denn einem Pferde (und einer Frau) behagt das Ledigsein nicht auf die Dauer.
Mein Vater kam uns nicht entgegen, weder diesseits noch jenseits der Schafhütte, auch nicht bei dem krummen Pfosten. An unserer Feldmark schaute ich umsonst nach ihm aus, obgleich die Hunde ein solches Gebell anschlugen, daß er es hätte hören müssen. Als er dann aber auch bei der Eschenhecke nicht kam, wo wir miteinander Sprenkel gestellt hatten, da sank mir auf einmal aller Mut, und ich fühlte im Herzen eine große Leere und Öde. Nicht einmal die Laterne am Kuhstall war angezündet, und niemand rief den Hunden zu: »Kuscht euch!« oder jubelte: »Hurra! Unser John ist da!«
Erst hielt ich im Dunkeln die Thorpfosten für seine hohe Gestalt, dann sah ich durch die Thür der Geschirrkammer, ob er nicht dort saß und wie gewöhnlich seine Pfeife rauchte. Hatte er etwa Gäste zu bewirten, Fremde, die sich auf dem Moor verirrt hatten und die er nicht allein lassen wollte, selbst wenn es galt, seinen Sohn zu begrüßen? Das kränkte mich doch, und ich war ihm fast ein wenig gram darüber. Ich fühlte in meine Tasche und nahm mir vor, ihm die neue Pfeife, die ich in Tiverton gekauft hatte, erst am nächsten Morgen zu geben. –
Wehe, o wehe mir! Noch heute kann ich nicht sagen, wie mein Unglück mir plötzlich klar wurde. Ich weiß nur, daß ich davon schlich – thränenlos – und mich im Winkel des Schuppens verbarg, um nur keinen Menschen zu sehen, kein Wort zu hören.
Bald vernahm ich lautes Schluchzen, aber mir war, als könne ich den Anblick meiner Mutter und Schwester, die mir doch das Liebste auf Erden sind, nicht ertragen. Erst als ich ihren Jammer sah und daß sie von mir Hilfe zu hoffen schienen, nahm ich mich zusammen.