Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweites Kapitel.
Ein wichtiger Tag.

Daß ich die Schule in Tiverton verließ, geschah aus einer besondern Ursache und auf folgende Weise: Am 29. November im Jahre des Herrn 1673 war mein zwölfter Geburtstag, und ich hatte mein ganzes erspartes Taschengeld bei Kupfers Frau für Zuckerwerk verausgabt, das ich den kleinen Jungen zusteckte, bis die großen herbeiliefen und es ihnen wegnahmen.

Um fünf Uhr war die Schule aus, wie jeden Dienstag, und wir jagten wacker hinter den Tagesschülern drein und trieben sie den Dammweg hinunter von der Vorhalle bis zum Pförtnerhaus an der Thorfahrt. In den Augen von uns Anstaltsschülern waren die Jungen aus der Stadt nur ›arme Schlucker‹, weil sie, als Abkömmlinge des Stifters oder seiner Mitbürger, keinen Heller Schulgeld zahlten und ihre eigene Kost mitbrachten. Letztere halfen wir ihnen gern verzehren, denn unser Anstaltstisch reizte nur die Eßlust. So lange sie Vorrat hatten, durften sie ungehindert mit uns reden und allerlei erzählen; gingen ihnen aber die Lebensmittel aus, so ward es uns gleich wieder klar, daß ihnen nur nach Verdienst geschah, wenn wir sie mit vereinter Macht aus Blundells Haus und Hof verjagten.

Sobald die Freischüler fort waren, rasselten des Pförtners Schlüssel und die schweren Gitterthüren fielen ins Schloß. Wir aber, unser sechs oder sieben, lauter kleinere Knaben, standen im Dämmerschein unter dem Thorweg, dicht an die Eisenstäbe gedrängt, und blickten erwartungsvoll die Straße hinunter. Die Stadtbuben hatten nämlich berichtet, daß ein langer Zug Packpferde noch vor einbrechender Dunkelheit in Tiverton zurückerwartet werde. Die Führer desselben hätten Angst, Herrn Faggus in die Hände zu fallen, der ihnen auf der Fährte sei. Wir brannten darauf, den Zug zu sehen, und ich hoffte, Faggus würde die Packknechte noch einholen, denn er war mein leiblicher Vetter und der Stolz der Familie. So berühmt und gefürchtet wie er, war keiner auf der ganzen Landstraße von Barum bis London.

Wie wir so standen und warteten, stieß mir einer der Knaben auf den Magen, daß mir schier der Atem verging. Mir schien das ein schlechter Dank dafür, daß ich ihm so viel von meinem Naschwerk abgegeben. Ohne lange zu überlegen, schlug ich ihm mit der Faust ins Gesicht. Darauf senkte er den Kopf wie ein Ziegenbock und stieß mir so gewaltig in die Herzgrube, daß ich zusammenklappte wie ein Taschenmesser und das Bewußtsein verlor.

Als ich wieder zu mir kam, hatten meine Kameraden bereits ausgemacht, die Sache müsse durch einen Faustkampf zum Austrag gebracht werden. Erst wollten wir noch die Packpferde abwarten, dann die übrigen Jungen herbeirufen und uns auf dem Rasenfleck vor dem Schulhaus, unserm gewöhnlichen Kampfplatz, versammeln.

Doch ehe das geschah, kamen auf einmal um die Ecke herum, aber nicht von Taunton, sondern von der Lowmanbrücke her, zwei Pferde angetrabt – das heißt, eins war nur ein Pony – und auf dem großen Schecken saß ein Mann mit hochrotem Gesicht.

Der hielt am Thorweg an und sagte: »Bitte, meine hochwerten Herren, wo mag wohl unser John Ridd sein?«

»Der ist nicht weit, macht nur die Augen auf!« rief ein vorwitziger kleiner Bursche zurück.

»Dann holt ihn schnell herbei!« versetzte der Reiter, Jakob Fry, – ich hatte ihn gleich erkannt – indem er mit der Peitsche durch das Gitter stupfte.

Unter lautem Geschrei drängten die Jungen mich vor.

»Aber Jakob,« rief ich, »warum in aller Welt kommst du denn jetzt über das Moor geritten und bringst noch meine Peggy mit, bei dieser schrecklichen Kälte? Die Ferien fangen ja erst Mittwoch in vierzehn Tagen an – und das weißt du nicht?!«

Jakob bog sich im Sattel vor, wandte aber die Augen von mir ab, und aus seiner Kehle kam ein Ton, als stäke ihm etwas im Hals.

»Freilich wissen wir es, junger Herr, auch ohne zur Schule zu gehen,« sagte er, »in ganz Oare ist das jedermann bekannt. Deine Mutter bewahrt alle Äpfel für dich auf, die Blutwurst hängt im Rauchfang und keiner darf den Drosseln Schlingen legen. Alles gehört dir, einzig und allein dir!«

Er fuhr sich plötzlich mit der Hand über den Mund. Das erschreckte mich, denn ich kannte Jakob Frys Art und Weise durch und durch.

»Aber der Vater, der Vater – wie geht's meinem Vater?« rief ich, die Jungen rechts und links beiseite stoßend. »Ist denn Vater nicht mit zur Stadt gekommen? Er hat mich doch sonst immer selbst abgeholt und keinen andern geschickt!«

»Vater wird dich am krummen Pfosten bei der Schafhütte erwarten. Er konnte zu Hause nicht abkommen. Die Weihnachtsschweine werden gerade geschlachtet, und der Most gärt im Faß.« Er sah dabei auf sein Sattelzeug, und daran merkte ich, daß er log.

Mir fiel es zentnerschwer aufs Herz. Eine unheimliche Angst hing gleich einer dunklen Wetterwolke über mir; ich mußte mich an das Gitter lehnen und hatte nicht den Mut, weiter zu fragen; auch war mir alle Lust zum Kampfe vergangen.

Doch die anderen Knaben teilten dies Gefühl in keiner Weise. Mag auch die Welt zu Grunde gehen, seine Pflicht darf niemand versäumen, und für uns war es jetzt Christenpflicht, mit den Fäusten auf einander loszuschlagen ohne alle Widerrede.

»Jetzt komm, John, du mußt dich stellen!« rief einer der Kameraden.

»Ja, Ridd, laß keine unbezahlten Schulden zurück! Die Sache muß ausgefochten werden,« entschied ein älterer Schüler.

Ich war kein Hasenfuß, hatte auch während meiner dreijährigen Schulzeit manchen wackern Strauß bestanden – einmal die Woche wenigstens – und die Knaben kannten mich. Aber heute war mir's gar nicht darnach zu Mute; Jakob Frys Botschaft ängstigte mich, und ich sah unschlüssig bald den einen, bald den andern an, ob sich kein Ausweg finden ließe.

»Nein,« sagte ich endlich, »jetzt kämpfe ich nicht mit dir, Robin Snell; warte bis ich wiederkomme.«

»Seht den Feigling!« rief ein Chor von kleinen Burschen, die aus Erfahrung wußten, daß ich sie alle bezwingen konnte. Ich aber kümmerte mich nicht um das Gerede, sondern starrte wie verwirrt auf Fry und seine schwere Muskete, den Gaul Smiler und meine Peggy hin.

»Soll ich fechten, Jakob?« fragte ich zögernd. »Ich hätt's gethan, wärst du nicht gekommen.«

Fry kratzte sich am Kopf, rutschte im Sattel hin und her und sah auf meine geballten Fäuste.

Die Augen schlau zusammenkneifend, nickte er dann verständnisvoll und flüsterte mir durchs Gitter zu: »Schlag drein, in Gottes Namen, John! Dir steht noch mancher Kampf bevor, da thust du am besten, wenn du früh anfängst! – Der Pförtner wird mich wohl einlassen, damit ich sehen kann, daß alles ehrlich zugeht.«

Er stieg steif und schwerfällig vom Gaul herunter und warf einen trüben Blick auf die beim Ritt übers feuchte Moor von oben bis unten bespritzten Pferde und seine hohen, mit Schlamm überzogenen Lederstiefel. Peggy und Smiler band man einstweilen ans Gitter, und der alte Kupfer ließ Jakob Fry ins Thor hinein. Als er auf mich zutrat, standen ihm die Augen voll Wasser; ich kam ihm so jung, so unverdorben vor mit dem blonden Lockenkopf und den unschuldigen Kinderaugen; er mochte wohl glauben, dies sei meine erste Schlacht, denn ich hatte zu Hause nichts von unsern Faustkämpfen verlauten lassen, um meine Mutter nicht zu ängstigen.

»Thu' es lieber nicht, John,« sagte er, »es ist besser, du läßt es bleiben, sonst kommst du zu Schaden.« Als ich jedoch erwiderte, es sei jetzt viel zu spät, um noch zurückzutreten, meinte er: »Na, dann stehe unser Herrgott dir bei, John, und vergiß nur nicht, die Daumen einzukneifen!«

Inzwischen war das Gerücht von dem bevorstehenden Kampf auch zu den großen Schülern der Oberklasse gedrungen, von denen wir eigentlich die Boxerkunst erst gelernt hatten. Sie kamen eilends herbei, um den Strauß mit anzusehen, und stellten sich im Ring um die beiden Gegner; die kleinen Knaben durften sich flach auf den Boden legen und zwischen den Beinen der großen durchgucken.

Mich überkam ein Gefühl, als müsse ich jetzt alles daran setzen, um in Jakob Frys Beisein die Ehre der Familie Ridd und der ganzen Grafschaft Exmoor mannhaft zu vertreten. Unterlegen war ich noch nie in einem Kampf, obgleich es oft blutige Köpfe gesetzt hatte. Daß ich stets Sieger geblieben war, verdankte ich freilich weit weniger meiner Fechtkunst, als der angeborenen Kraft und Zähigkeit meiner Gliedmaßen. Heute schien mir aber die Sache höchst zweifelhaft, denn mit einem so großen Buben wie Robin Snell hatte ich noch nie gefochten, und sein Schädel war wohl ebenso dick und hart wie der meine.

Die Lichter wurden herbeigebracht und flackerten durch den Nebel. Mir klopfte das Herz gewaltig, und ich blies tüchtig auf meine Fäuste. Dann warf ich die Jacke ab, um sie nicht mit Blut zu besudeln, denn die Mutter hatte sie mir eigenhändig zugeschnitten und genäht; auch Weste und Kappe ward abgelegt, und ein Knabe nahm die Kleider für mich in Verwahrung. Jetzt kam Robin Snell herbei (er ist seitdem dreimal Bürgermeister von Exeter gewesen) und stellte sich breitbeinig vor mich hin. Er war in Hemdärmeln, trug ein Tuch um die Hüften gebunden und leichte Schuhe an den Füßen. Meine Hand ergreifend, maß er mich mit einem Blick voll Verachtung und schlug mir ins Gesicht, ehe ich noch den Arm zum Schutz heben konnte.

»Oho, war das so gemeint?« rief Fry. »Zahl's ihm tüchtig heim, John – das ist recht – Hurra!«

Ich gab den Schlag mit Zinsen zurück, und der Kampf begann jetzt in vollem Ernst. Die Zuschauer hatten ihre Lust daran, sie schrieen, johlten und fluchten gleich Fuhrknechten, wie Jakob mir später erzählte. Zur Zeit achteten wir nicht darauf, denn die Hiebe und Stöße regneten hageldicht. Als der erste Gang zu Ende war, zog ich mich schwer keuchend in meine Ecke zurück. Ein freundlicher Junge nahm mich auf seine Kniee und während ich den Kopf an seine Schulter lehnte, sprach er mir Mut zu und gab mir manchen guten Rat. Ich aber hatte die ganze Geschichte von Herzen satt; mir thaten alle Knochen weh.

»Wieder antreten!« rief der erste Kampfwart. Ich war noch nicht zu Atem gekommen und zauderte eine Weile.

»Keine Pause mehr,« schrie ein anderer Knabe, »ich zähle bis drei, stehst du dann nicht auf deinem Posten, so ist Robin Sieger und du bist eine Memme.«

Aber schon stand ich mit geballten Fäusten vor meinem Gegner und der zweite Gang begann. Diesmal war ich wohl auf meiner Hut und hielt mich an die eben empfangenen Ratschläge. Mein älterer Freund folgte dem Kampf mit großem Anteil und ermunterte mich durch seinen Zuruf. Auch daß ich noch so fest auf den Beinen war, brachte mir Vorteil und Nutzen.

Inzwischen hatte Fry bei allen Knaben die Runde gemacht und bald den bald jenen gefragt, ob man mich auch nicht totschlagen werde. Mit Staunen hörte er, daß ich schon viele Dutzendmal meinen Mann gestanden hatte, was ihn sehr beruhigte. Ich wusch mir gerade, müde und kampfeswund, mit einem Schwamm das Blut ab, da kam er herbei und flüsterte mir ins Ohr:

»Wenn du dich unterkriegen lässest, John, dann darfst du dich in Exmoor nicht mehr sehen lassen.«

Das ertrug ich nicht. Es war als habe er einem wilden Roß die Sporen in die Weichen gedrückt. Siedend heiß stieg es mir zu Kopfe, meine Augen sprühten Funken; ich wollte Robin Snell bezwingen und wenn es mein Tod wäre. Er lächelte siegesgewiß, als er mir zum drittenmal gegenübertrat, und gab mir seine linke Faust zu fühlen, ich aber schlug ihn mit der rechten gerade zwischen die Augen, daß er zusammenzuckte. In meinem Grimm schonte ich ihn nicht und wollte auch keine Schonung. Nein, lieber sterben, als meinem Geburtsort Schande machen!

Was weiter geschah vermag ich nicht zu sagen; ich weiß nur, daß ich Sieger blieb und zuletzt noch mit Hand anlegte, als man Robin zu Bette brachte.


 << zurück weiter >>