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Siebentes Kapitel.
Es klimmt sich schwer.

Wer einmal in unsere Gegend gekommen ist, weiß, welchen freundlichen Anblick hier das sanft anschwellende Hügelland bietet. Im Norden freilich erhebt sich ein kahler, dunkler Berg, auf dem nur Heidekraut wächst, aber um unser Wohnhaus herum senkt sich das Thal muldenförmig, so daß es warm und geschützt liegt. Da wächst das Gras üppig unter den Bäumen der reichen Obstgärten, und überall hört man den murmelnden Bach, der sich durch die Wiesen schlängelt. Er fließt auch durch unsern Wirtschaftshof und schwillt oft mächtig an mit Tosen und Brausen, wenn die Regenwolken in den Bergen hängen. Weiterhin folgt er den Windungen des Thales und wird zum breiten Lynnstrom. Die lachenden Fluren und Felder an seinen Ufern aber gehören beinahe alle uns, bis dahin, wo Niklas Snowes Landbesitz anfängt.

Etwa zwei Meilen unterhalb unseres Hofes nimmt der Lynn seinen größten Zufluß, den Bagworthy, auf, läuft dann wild brausend um den Fuß eines kahlen Hügels und weiter zu dem felsigen Waldgebirge, wo er unter dichtem Buschwerk verborgen fortfließt, bis sumpfige Teiche seinen Lauf hemmen. Längs der ganzen Strecke ist der Fluß sehr fischreich; oft, wenn Mutter mich zu Hause entbehren konnte, ging ich hier im Sommer auf den Fischfang und nahm Annchen zur Hilfe mit, weil es mir sonst zu einsam war. Ein Haselstock diente mir als Angelrute, und mit einer Fliege oder einem Stück Wurm am Haken fing ich zuweilen einen ganzen Korb voll kleiner Forellen und Elritzen. Von allen Künsten und Wissenschaften nämlich, die ich in Blundells Schule gelernt hatte, war mir nur noch die Geschicklichkeit im Fischen und Schwimmen geblieben. An den Stellen, wo der Lynn zu breit und reißend war, so daß Annchen nicht hinüberspringen oder mit aufgehobenem Röckchen von Stein zu Stein hüpfen konnte, nahm ich sie auf den Rücken und watete mit ihr zum andern Ufer. Vor dem Lynn war uns nicht bange, aber bis zum Bagworthy hatten wir uns beide noch nie gewagt, weshalb weiß ich nicht recht, denn auf seinem Grunde wimmelte es von Fischen und blanken Kieseln; auch wäre es ein Spaß gewesen, die fremde Gegend zu erforschen und uns selbst Weg und Steg zu suchen. Vielleicht hielt uns eine unbestimmte Furcht zurück, denn der Bagworthy floß aus dem Thal der Doones, etwa eine Meile vor dem Eingang, das war uns wohlbekannt.

Als ich über vierzehn Jahre alt war und schon richtige Hosen mit Knieschnallen trug, über derben blauwollenen Strümpfen, die mir Mutter selber strickte, geschah es fast gegen meinen Willen, daß ich den Bagworthy gründlich kennen lernte. Und das trug sich so zu:

Mutter war längere Zeit unwohl gewesen und hatte alle Eßlust verloren; wenn aber jemand sich nicht auf seine täglichen Mahlzeiten freut, so gilt das bei uns schon für einen ganz bedenklichen Zustand. Nun fiel mir zufällig ein, daß ich in Tiverton einmal selbstgefangene Schmerlen auf dem Küchenfeuer mit Essig, Lorbeerblättern und einigen Pfefferkörnern gebacken und einen Topf voll in die Ferien mitgebracht hatte. Mutter meinte damals, ihr habe noch nie etwas so herrlich gemundet; wer aber denkt, daß sie das wohl nur gesagt hätte, um mir eine Freude zu machen, der soll erst einmal selbst versuchen, wie es schmeckt. So beschloß ich denn – koste es, was es wolle – ein Gericht Schmerlen zu fangen und ganz ebenso zuzubereiten; vielleicht aß Mutter dann wenigstens ein paar Bissen. Ich sagte kein Sterbenswort von meinem Vorhaben und machte mich am Morgen des Valentintages auf den Weg (es mag wohl im Jahre 1675 oder 76 gewesen sein). Annchen nahm ich nicht mit, das Wasser war noch zu kalt nach dem langen Winter, es lag sogar noch Schnee hie und da in den Uferbuchten, aber der Frühling war doch im Anzuge.

Ich legte Schuhe und Strümpfe ab und hing sie mir in einem Beutel um den Hals. Brot und Speck trug ich in ein grobes Tuch gebunden; die Jacke ließ ich zu Hause und krempelte meine Hemdärmel bis zu den Schultern auf. Mit einer dreizinkigen Gabel bewaffnet, die ich an die Angelrute festgebunden hatte, stieg ich dann in den eiskalten Fluß und versuchte mir einzureden, das Wasser sei ganz warm. Über eine Meile weit watete ich im Lynn und untersuchte jeden Stein; denn ich kenne die Schliche und Finten der Schmerlen gut und weiß, wie sie sich verstecken. Sie sind graugefleckt und durchsichtig; oft liegen sie ganz still neben den mißfarbenen Wassergräsern, ohne auch nur den Schwanz zu bewegen. Merken sie aber, daß man sie verfolgt, so schnellen sie plötzlich in die Höhe und verschwinden unter den Steinen oder betten sich in den Schlamm, so daß nur das Rückgrat sichtbar ist. Dann muß man rasch und doch behutsam mit der Gabel zufahren und sie anspießen, sonst gleiten sie im Nu wie Schatten davon und man hat das Nachsehen.

Nach einiger Zeit, als mir die Kälte zu arg ward, stieg ich ans Land und rieb mir die erstarrten Glieder; auch fischte ich nur noch an den Stellen, wo die Strömung nicht zu reißend war. Plötzlich öffnete sich im Walde eine Lichtung, Wiesen lagen an beiden Ufern und ein prächtiger Bach ergoß sich in unsern Lynn; aber er kam nicht wild über Felsblöcke und Steingeröll gesprungen wie dieser, seine klaren Fluten strömten vielmehr in einem einzigen mächtigen Guß, so daß der Lynn tüchtig anschwoll und sein Wasser mir jetzt bis an die Kniekehlen ging.

Nun galt es zu überlegen, und ich war nahe daran der Vernunft Gehör zu geben. Das Wasser war bitterkalt, und mir thaten die Zehen grimmig weh; ich rieb sie tüchtig mit einer Brennessel und lief hin und her, bis ich warm und hungrig wurde. Es war der entscheidende Augenblick meines Lebens; aber ich ahnte so wenig wie die Fische unter der Fanggabel, daß meine Schicksalsstunde geschlagen hatte. Ich saß da, verzehrte mein Stück von Bettys gutem Braunbrot nebst einer Schnitte kalten geräucherten Specks und stieß dabei mit meinen blauroten Füßen in den weichen Lehmboden, um sie warm zu halten. Es kam mir höchst erbärmlich vor, jetzt heimzugehen und Annchen die Nachricht zu bringen, daß meine Mühe umsonst gewesen sei; andererseits aber schien es auch ein tollkühnes Unternehmen, mich den Bagworthy hinauf zu wagen, was kein Erwachsener sich getraute.

Als ich jedoch durch das Mahl gestärkt war, wuchs mir der Mut; ich dachte an meinen Vater, der mich wohl hundertmal ermahnt hatte, ich solle kein Feigling sein. Dabei ward mir warm ums Herz, und ich schämte mich, daß es da drinnen so ängstlich klopfte. »Wenn Vater jetzt herabblickt, soll er sehen, wie gehorsam ich ihm bin,« sagte ich zu mir selbst, hing den Beutel wieder um, schnallte meine Beinkleider hoch über die Kniee wegen des tieferen Wassers und watete unverzagt quer durch den Lynn in den Bagworthy hinein.

Dunkle Baumäste hingen fast bis zur Oberfläche des Wassers nieder; Unterholz und Gestrüpp streckten sich von beiden Ufern bis in die Mitte des klaren Baches; das Bett fand ich weit weniger uneben und steinig als den Lynn. Manchmal brachen die Sonnenstrahlen durch und funkelten auf dem Wasser und den Kieselsteinen, dann kamen wieder tiefe, dunkle Stellen, wo ich bei jedem Tritt, den ich that, fürchtete, es möchte für mich keine Rückkehr mehr geben. Ich fing Schmerlen, Forellen und Elritzen die Menge, spießte sie an oder trieb sie zu seichten Plätzen hin, wo ich ihrer leicht habhaft wurde. Bald geriet ich so sehr in Eifer, daß ich Zeit und Stunde, sowie alle Gefahr vergaß und jedesmal laut aufjubelte, wenn ich einen rechten Fang gethan hatte.

Auf alle meine Freudenrufe gab aber nur das Echo vom Felsen Antwort, sonst vernahm ich keinen Laut, außer wenn ein erschreckter Vogel aufflog oder ein Wasserhuhn plötzlich untertauchte. Immer dichter wurden die Baumzweige über mir, immer dunkler die Flut, als ginge der Tag schon zur Neige; ein Rauchfrost hing in der Luft und das Wasser war so kalt, daß ich hätte laut aufschreien mögen vor Schmerz. Auf einmal that sich das Gebüsch auseinander und vor mir sah ich einen großen schwarzen Teich; an seinem Rande schimmerte Schnee, wie ich zuerst glaubte, aber es war nur weißer Schaum, der sich im Wirbel drehte und in langen Streifen dahinschoß, die Kreis auf Kreis bildeten.

Ich war im Schwimmen geübt und befand mich wohl dabei, wie der Fisch im Wasser, fürchtete mich auch vor keiner Tiefe, wenn ich nur wußte, ich würde Boden finden; aber in meinem geschwächten Zustande, kalt, müde und durchnäßt, wie ich war, kopfüber in das unheimliche, dunkle Gewässer zu springen, davor schauderte ich doch zurück. Ich suchte nach einem Ausweg, sah jedoch nur Felsen ringsum, die steil abfielen und unten kaum eine Hand breit Raum ließen; auf diesem schmalen Steg schob ich mich vorsichtig fort, bis sich plötzlich vor mir ein Wunder aufthat – ein Anblick, wie ich ihn mir nie hätte träumen lassen.

Ich stand am Fuß eines großen, weißschimmernden Wasserfalls, der sich ganz ohne Absatz und Hindernis in breitem vollem Strom, aus einer Höhe von über hundert Ellen zu mir herab wälzte. Nicht in wilden Sprüngen, aufspritzend und sprudelnd, kam er gestürzt, sondern in einer ebenen, abschüssigen Fläche, als habe man ein glatt gehobeltes Tannenbrett über eine steile, dunkle Treppe gelegt. Aber an den Seiten war kein Geländer, auch kein Platz, wo man Fuß fassen konnte; nur senkrechte Felswände schlossen das klafterbreite Rinnsal ein.

Eine namenlose Angst ergriff mich; ich hätte viel darum gegeben, wieder daheim zu sein beim Abendessen, das mir Annchen bereitete, und unsern Hund ›Wächter‹ knurren zu hören. Doch wußte ich längst, daß müßiges Wünschen keinen Nutzen bringt, sondern nur die Kräfte lähmt; so ging ich denn mit mir zu Rate und bedachte, was zu thun sei: »John Ridd,« sagte ich zu mir selbst, »es graut dir hier in der einsamen Gegend mit den dunklen Bäumen, Felsen und Gewässern, als wärest du eine wahre Memme. Willst du so zu deiner Mutter heimgehen, die dich stets ihren ›furchtlosen Jungen‹ nennt?«

Daß ich mich schämte, für einen Feigling zu gelten, brachte mich jedoch nicht allein zu dem Entschluß, weiter vorzudringen, denn der Rückweg war beinahe ebenso gefährlich, ja vielleicht noch mühseliger, weil er so im Zickzack ging. Den Ausschlag gab wohl zuletzt mein seltsames, fast unbezwingliches Verlangen, den Ursprung des Wasserfalls zu ergründen und zu erfahren, wie es eigentlich dort oben aussah.

Auf harten Kampf gefaßt, streifte ich meine Beinkleider noch weiter hinauf, zog die Knieschnallen um ein Loch fester, band mir den Beutel mit den Fischen auf den Rücken und kroch, ohne mich lange zu besinnen, auf den nächsten vom Wasser ausgehöhlten Felsvorsprung, um so das Riff zu vermeiden, über welches der Strudel mit schäumendem Gischt in die schwarze Lache stürzte. Von dort aus ließ ich mich vorsichtig in den reißenden Gießbach hinabgleiten.

Aber wie klug ich es auch anfing, dennoch hatte ich meine Rechnung ohne den Wirt gemacht. Die große Woge kam mit voller Gewalt auf mich zu, riß mir den Halt unter den Füßen weg, und es fehlte nicht viel, so hätte sie mich auf Nimmerwiedersehen in den schrecklichen Sumpf gezogen. Mir blieb keine Zeit, einen Angstschrei auszustoßen, ich dachte nur noch an Mutter und Annchen und schlug so derb mit dem Kopf auf die Steine, daß mir die Sinne schwanden. Es schien, als sei mein letzter Augenblick gekommen, als solle ich in den tosenden Fluten mein Grab finden, aber siehe da – meine Fanggabel war fest in dem Felsen stecken geblieben und hielt mich über Wasser. Der kalte Strom netzte mir das Gesicht und brachte mich rasch wieder zur Besinnung; an das Brüllen des Falls gewöhnte sich mein Ohr bald, und ich nahm alle Kraft zusammen, um den Kampf von neuem zu beginnen.

Langsam zog ich die Beine an und hütete mich wohl, sie vom Boden zu heben, damit die Welle mich nicht umwerfen konnte. Wenn die Strömung zu stark war, blieb ich stehen, bohrte meinen Haselstock fest ein, lehnte mich mit aller Gewalt vor und behielt so das Gleichgewicht. Wie gern wäre ich jetzt umgekehrt, aber ich erkannte mit Entsetzen, daß mir keine Wahl mehr blieb. Sollte mich nicht der Wirbel erfassen und in die schwarze Tiefe ziehen, so mußte ich wohl oder übel den Wasserberg erklimmen, der vor mir Lag.

Ich stammelte ein Vaterunser, so gut ich's konnte, nahm den Stock mit der Fanggabel fest in die Hand und vom Mut der Verzweiflung getrieben, begann ich den eigentlichen Aufstieg. Mir war, als dehnte sich der Wasserweg bis zu einer unendlichen Höhe über mir; meine Hoffnung, den Gipfel zu erreichen, war gering, denn der glatte Schlamm und die Wucht der Strömung machten das Vorwärtskommen fast zur Unmöglichkeit. Da ich jedoch der Gefahr jetzt sozusagen Auge in Auge gegenüberstand und auf das Schlimmste gefaßt war, dachte ich nicht mehr an Furcht. Ich that nur mein Bestes mit einer Kühnheit und Unerschrockenheit, über die ich mich später noch oft gewundert habe.

Das Wasser war nur sechs Zoll tief, höchstens neun an manchen Stellen; ich ging behutsam Schritt für Schritt, mit vorgestreckten Armen und gekrümmten Knieen. Manchmal kam auch eine Klippe, an der ich mich festhalten konnte, um ein wenig zu verschnaufen und mich auszuruhen. Allmählich stieg mein Mut, und der Gedanke, daß vielleicht noch nie ein Mensch vor mir dies Wagnis bestanden hatte, beglückte mich. Was würde Mutter sagen, wenn ich es ihr erzählte! Ich dachte auch an Vater und vergaß darüber, wie sehr meine Füße schmerzten. In die größte Gefahr geriet ich noch, als ich schon nahe am Gipfel war und, nichts ahnend, allzu tollkühn auf ein großes Stück Torfmoos zulief. Ich fiel jämmerlich hin und hätte mir fast die Kniescheibe gebrochen. Während ich mein verletztes Bein rieb, geriet ich mit dem andern in die Strömung, ein Krampf befiel mich, ich schrie laut auf, das Wasser floß mir in den Mund und ich fühlte, daß ich wieder hinunterglitt. Vor Schrecken raffte ich mich zusammen, stemmte den Ellenbogen in ein Felsenloch und kam glücklich auf die Füße.

In der entsetzlichsten Angst, mein Ziel nicht zu erreichen, dem ich schon so nahe war, arbeitete ich mich jetzt mit Armen und Beinen vorwärts. Zuletzt erfaßte mich noch der Strudel, wo der Wasserfall oben über die Felswand stürzt, und trieb mich nach der Mitte hin. Eine Weile klebte ich mit den Zehen an den schleimigen Wasserlinsen; ein Schwindel ergriff mich und ich schloß die Augen. Ich wollte jetzt am liebsten sterben, dann hätten mich meine Beine nicht mehr so geschmerzt und mir die Brust bei dem Atmen nicht so wehe gethan. Aber es war doch jammerschade, daß ich nach dem langen Kampf zuletzt noch unterliegen sollte. Da sah ich vor mir das Tageslicht durch die Zweige und strebte darauf zu; ein frischer Lufthauch kam mir entgegen, ich raffte die letzte Kraft zusammen, sprang ins Freie und fiel besinnungslos zu Boden.


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