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Mir war alle Lust vergangen, meine Unterredung mit der weisen Frau fortzusetzen, und ich machte mich schleunig auf den Heimweg. Ich lief so rasch mich meine Füße trugen, bis ich Plover Barrows erreichte (so heißt unser Gut); doch kam ich später nach Hause als es bei uns am Samstag Abend Sitte ist. Mutter hätte gern gewußt, wo ich so lange geblieben sei, sie erfuhr es jedoch nicht, denn ich hielt es für unrecht sie zu ängstigen.
Mit vollem Eifer stürzte ich mich nun in die Arbeit, die mich so ermüdete, daß ich wenigstens bei Nacht Ruhe fand. Das half mir ein paar Wochen lang meine Herzensnot bezwingen. Als aber der Lenz wirklich den Frost vertrieb, ein warmer Südwestwind durch das Land wehte und die Lämmer auf der blumigen Wiese sprangen, vermochte ich der Sehnsucht nach Lorna nicht länger zu widerstehen. Wald und Wiese glänzte im Frühlingsschmuck, die Bäume streckten ihre silbergrauen, grünen oder rötlichen Spitzen heraus, unter den Ulmen lag der geflügelte Samen schichtweise und der Bach glitzerte im Sonnenschein. Aber auch in meinem Innern strebten die schwellenden Gedanken und Gefühle ihre Hülle zu sprengen. Lornas Bild erschien mir im Wachen und im Traum, ich schnitt ihren Namen in die Rinden der Bäume ein, und da sie nicht zu mir kam, beschloß ich sie aufzusuchen, koste es was es wolle.
Ich mußte meinen Sonntagsanzug im Heuschober anlegen, um mich vor Lieschens scharfen Augen zu verbergen; nachdem ich aber einmal glücklich um die Ecke beim Holzstall herum war, brauchte ich mich vor keiner Begegnung mehr zu fürchten. Schon längst hätte ich gern mein liebes Annchen zur Vertrauten gemacht, aber so oft ich mir auch vornahm, ihr das Geheimnis zu offenbaren, immer verschob ich es wieder aus diesem oder jenem Grunde.
Mein Gewehr ließ ich diesmal höchst ungern zu Hause, doch dachte ich daran, wie schwer es sein würde, auf dem schlüpfrigen Wasserweg das Pulver trocken zu halten, und bewaffnete mich nur mit einem derben Knotenstock. Mir klopfte das Herz vor Lust und froher Hoffnung; alle Sorge schien vergessen, vor mir lag des Lebens reiche Fülle und ein geheimnisvolles Ahnen zog durch meine Brust.
Diesmal mußte ich alle Kraft anspannen, bevor ich auf meinem Weg durch die Felsenschlucht ins Doonethal gelangte. Der Bach war von dem Regen der letzten Nacht angeschwollen und stürzte mit großer Gewalt herab, so daß ich mühsam gegen ihn ankämpfen mußte. Lange vor Sonnenuntergang war ich jedoch glücklich oben. Froh, wieder im Trocknen zu sein, warf ich mich in das weiche Moos unter den Bäumen und streckte meine müden Glieder. Mir war so wohlig zu Mut bei dem Gedanken, Lorna wiederzusehen, der gute Trunk, mit dem ich mich daheim vor der Wanderung gestärkt hatte, mochte wohl auch seine Wirkung thun; neben mir tropfte ein Wässerlein einförmig und leise vom Felsen herunter und ehe ich mich's versah, war ich fest eingeschlafen.
Ich erwachte erst, als ein Schatten über mich fiel, und wie ich die Augen aufschlug, stand Lorna zwischen mir und der sinkenden Sonne.
»Seid Ihr von Sinnen, Herr Ridd,« rief sie und faßte meine Hand, um mich fortzuziehen.
»O nein, nur noch halb im Schlaf,« erwiderte ich, beglückt über ihre Nähe.
»Fort, fort von hier, wenn Euch Euer Leben lieb ist. Die Wache kann jeden Augenblick kommen. Schnell, folgt mir, Herr Ridd, ich will Euch verbergen.«
»Ihr müßt mich John nennen, sonst rühre ich mich nicht von der Stelle,« sagte ich, trotz meiner unbeschreiblichen Angst.
»Nun gut also, John – eilt Euch, wenn Ihr jemand habt, dem es darauf ankommt, Euch wohlbehalten wiederzusehen.«
»Ich habe viele, denen daran gelegen ist,« ließ ich sie wissen; »geht nur voran, Fräulein Doone.«
Sie führte mich ohne Zaudern nach ihrer Grotte hinüber, wobei sie jedoch manchen ängstlichen Blick ins obere Thal sandte. Als wir durch die Felsenöffnung traten, fiel mir das tiefe schwarze Loch wieder ein, in dem ich damals fast ertrunken wäre in meiner knabenhaften Angst und Unbesonnenheit. Jetzt sah ich ein, wie unrecht ich gehabt hatte zu glauben, Lorna wollte mich in Todesgefahr schicken, denn die in den Fels gehauenen Stufen und den Fußsteig am Berge, auf dem ich entflohen war, konnte man – wenigstens bei Tageslicht – deutlich erkennen, während die schwarze Grube sich rechts von dem Eingang, etwas abseits aufthat; Lorna holte dort gewöhnlich ihren Wasservorrat und sie lachte über meine Furcht vor dem unheimlichen Abgrund. Zur Linken befand sich ein enger Spalt, welchen dichter Epheu dem Blicke des Eintretenden verbarg. Lorna hob die Ranken in die Höhe und ich hatte viele Mühe meine gewaltigen Glieder hindurchzuzwängen, stieß mir auch Kopf und Ellenbogen an den Ecken und Kanten. Statt meine Größe zu bewundern, wie ich eigentlich von ihr erwartete, sah mir Lorna belustigt zu, bis ich glücklich drinnen war in der traulichen Felsenkammer, die sie sich zur Zuflucht erwählt hatte. Die Grotte war fast kreisrund, etwa achtzehn bis zwanzig Fuß im Durchmesser und von unbehauenen Felswänden umgeben, die mit Farnkraut, Flechten und allerlei Moosarten buntfarbig überzogen waren. Als Decke wölbte sich oben der Frühlingshimmel, auf dem kleine weiße Wölkchen vorüberzogen. Den Boden bedeckte ein weicher Rasenteppich, mit Bechermoos und Primeln durchwirkt, und die zierlichen Blüten des Sauerklees nickten aus einer Felsennische. An den Wänden zogen sich natürliche Steinsitze hin und in der Mitte murmelte ein krystallklarer Quell, der sich neugierig bis zum Felsrand schlängelte und dann lustig ins Freie hinaussprang, um sich drunten mit dem Bach zu vereinigen.
Während ich noch dastand und das alles mit Staunen und Rührung betrachtete, wandte sich Lorna, wie sie zu thun pflegte, rasch zu mir hin.
»Wo sind denn die frischen Eier, die Ihr mir bringen wolltet?« fragte sie. »Oder legt die blaue Henne vielleicht nicht mehr?«
Mir schien als wollte sie meine bäurische Sprachweise nachahmen, und das gefiel mir nicht ganz.
»Hier sind sie,« erwiderte ich in gelassenem Ton; »gern hätte ich mehr gebracht, doch fürchtete ich, sie beim Klettern zu zerbrechen.«
Eins nach dem andern holte ich – es mochten wohl zwei Dutzend sein – unversehrt aus meinen Taschen, wickelte das Heu ab und legte sie auf die Moosbank vor Lorna hin. Sie sah mir verwundert zu, und als nun alle bei einander lagen, und ich sie bat, nachzuzählen wie viele es wären, brach sie zu meiner größten Bestürzung plötzlich in einen Strom von Thränen aus.
Das war kein Schmerz wie Annchens Kummer, der sich mit ein paar Liebkosungen vertreiben läßt. »Was habe ich gethan?« rief ich vor Scham erglühend. »O, was habe ich gethan, um Euch so zu betrüben?«
»Ihr seid nicht schuld daran,« entgegnete sie in abweisendem Ton; »der frische Heuduft, glaube ich, und alles, woran er mich mahnt, ist es, was mich plötzlich so überwältigt. Auch begegnet Ihr mir so gütig, und an Güte und Freundlichkeit bin ich nicht gewöhnt.«
Diese Rede und ihre Thränen machten mich ganz befangen; ich hätte sie gern getröstet, fürchtete aber ihr Leid noch zu vergrößern. Meinem eigenen Schmerz pflege ich nicht durch Worte Luft zu machen, so schwieg ich denn auch jetzt still und sah zu Boden, damit sie nicht fühlen sollte, daß ich sie beobachtete. Neugierig war ich nicht, nur voller Teilnahme für ihre seltsame Lage.
Sie nahm jetzt eine gleichgültige Miene an, wandte sich ab und that einige Schritte dem Ausgang zu, als kümmere sie sich nicht mehr um mich. Mir klopfte das Herz zum Zerspringen; schon war ich im Begriff ihr nachzueilen, als sie von selbst wieder umkehrte und leise seufzend auf mich zutrat. Ihre Augen schimmerten in feuchtem Glanz und sie warf den Nacken nicht mehr so stolz zurück. Des Weibes Hilfsbedürftigkeit hatte die Oberhand gewonnen.
»Habe ich Euch etwas zu Leide gethan, Herr Ridd?« fragte sie mit der süßesten Stimme, die je aus einem Menschenmunde gekommen ist.
Wie sie so in holdem Liebreiz vor mir stand, hätte ich sie mit den Armen umschlingen und küssen mögen, aber ich besann mich noch rechtzeitig, daß ich ihr Vertrauen und ihre Verlassenheit nicht so mißbrauchen dürfe. Meine Bescheidenheit und Zurückhaltung mochten ihr wohlgefallen. In ihrer raschen lebhaften Weise, die so reizend ist und einen so scharfen Gegensatz zu meiner schwerfälligen Natur bildet, nahm sie ohne weitere Umstände mir gegenüber auf einer Steinbank Platz. Ihre dunkeln Wimpern hoben und senkten sich über die lieben Augen und sie begann mir alle ihre Erlebnisse zu erzählen, die ich so sehr zu hören wünschte. Nur was sie in ihrem Herzen von John Ridd dachte, diesen allerwichtigsten Punkt verschwieg sie noch.