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72.

Tod meines Vaters. Reise nach la Côte-Saint-André. Ausflug nach Meylan. Wütender Anfall von Einsamkeitsempfindung. Wiederum die Stella del monte. Ich schreibe ihr.

 

Ich habe in einem der ersten Kapitel dieser Memoiren den Zustand geschildert, in dem ich Paris bei meiner Rückkehr aus London antraf, nach der Revolution von 1848.

Es war ein trauriger Eindruck; aber ein anderer, innerlicher, unvergleichlich viel tieferer Schmerz sollte mich bald nachher treffen: ich erhielt die Nachricht vom Tode meines Vaters.

Ich hatte meine Mutter zehn Jahre früher verloren, und diese Trennung auf ewig war mir hart gewesen. Aber zu der natürlichen Neigung zwischen Vater und Sohn war eine von diesem Gefühl unabhängige und vielleicht lebhaftere Freundschaft hinzugekommen. Wir hatten eine so große Ideengemeinschaft vielen Fragen gegenüber, deren bloße Erörterung den Verstand gewisser Menschen elektrisiert! Sein Geist strebte so sehr nach dem Hohen! Er war so durch und durch voll natürlichster Empfindsamkeit, Güte, Wohltätigkeit! Er war so glücklich, sich in seinen Prophezeiungen für meine musikalische Zukunft getäuscht zu haben!

Nach meiner Rückkehr aus Rußland gestand er mir, einer seiner lebhaftesten Wünsche sei, mein Requiem kennen zu lernen.

– »Ja, ich möchte dieses furchtbare Dies irae hören, von dem man mir soviel erzählt hat; dann würde ich gern mit Simeon sagen: › Nunc dimittis servum, Domine.‹« (»Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren.«)

Ach! Diese Genugtuung konnte ich ihm niemals geben, und mein Vater starb, ohne jemals das kleinste Stück von meinen Werken gehört zu haben.

Er hat wahrhafte und tiefe Bekümmernis hinterlassen, vornehmlich bei unsern armen Bauern, die er sich so oft und auf so mancherlei Weise verpflichtet hatte. Meine Schwestern gaben mir bei der Mitteilung seines Todes rührende Einzelheiten hierüber ... Aber daß sein Todeskampf so lange währte!

»Wir dürfen im Hinblick auf den guten Vater nicht um den Verlust einer Existenz trauern, die ihm so stark zur Last war,« schrieb meine Schwester Nanci an mich. »Sein steter Gedanke war, so schnell als möglich zu sterben. Man sah es ihm an, daß er sich um kein Ding dieser Welt mehr kümmern wollte; er hatte Eile, sie zu verlassen. Ein stattlicher Leichenzug, an dem alle Armen, denen er geholfen, alle Kranken, die er erquickt, teilnahmen, hat ihn mit Ehren zu seiner letzten Behausung geleitet. Zwei Reden sind, unter den Tränen aller Anwesenden, an seinem Grabe gehalten worden; die eine von einem jungen Arzte, der seiner Talente, seines Wissens und seiner Tugenden gedachte, ... die andere von einem Mann aus dem Volke, dem natürlichen Sprecher dieser Klasse, in deren Mitte er dieses bescheidene, nützliche Leben gelebt, wofür die Beispiele so selten werden! Wenn etwas den tiefen Schmerz lindern kann, den du darüber empfindest, daß du nicht mit uns seinen letzten Hauch empfangen konntest, so sei es der Gedanke, daß seine äußerst große Schwäche ihn hinderte, irgendeine Entbehrung lebhaft zu empfinden. Er schlief fast beständig und sprach kaum mit uns ... Indessen fragte er mich eines Tages, ob ich keine Nachrichten über dich oder Louis hätte ...«

Ich kann nicht umhin, an dieser Stelle fast den ganzen Brief Adelens, meiner andern Schwester, wiederzugeben, in dem sich die heißen Gefühle ihres liebevollen Herzens mit Heftigkeit kundgeben:

Vienne, Samstag den 4. August 1848.

»Umarmen wir uns, mein Bruder, in unserm gemeinsamen Schmerze ... er ist furchtbar ... ich zweifle nicht im geringsten an der Heftigkeit des Schlages, der Dich traf ... ich beklage Dich in Deiner Einsamkeit ... in diesen Augenblicken innerer Bedrängnisse hat man es nötig, sich aneinander anzuschmiegen ... Du wärest nicht zur rechten Zeit gekommen, um von unserm geliebten Vater wiedererkannt zu werden ... tröste Dich also über unser Schweigen und vergib uns, daß wir Dich nicht benachrichtigt haben. Wir wußten nicht, ob Du in Paris wärest, und sechs Tage lang glaubten wir ihn jeden Augenblick sein Leben aushauchen zu sehen ... wir waren eine Beute des Schmerzes vom Sonntag bis zum Freitag (dem 28. Juli), wo er um Mittag verschied. Er phantasierte ohne Unterlaß und erkannte niemand mehr, nur noch in seltenen Intervallen. Diese Agonie der letzten Tage war entsetzlich ... man meinte einen galvinisierten Leichnam zu sehen ... Sein Kopf schwankte beständig hin und her infolge nervöser Zuckungen, so auch seine Arme ... Seine starren, verstörten Augen, die hohle Stimme fragten uns unmögliche Dinge ... Unsere Zärtlichkeiten beruhigten ihn auf Augenblicke ... In den heftigsten Krisen preßte ich leidenschaftlich die Arme um ihn ... Nanci flüchtete erschrocken ... aber er litt nicht, wir hoffen es wenigstens ... der junge Arzt, der ihn pflegte, dachte wie wir. Die Nervenzuckungen waren, wie er uns sagte, Folgen des Opiums, das er bis zu seiner letzten Stunde nahm. Eines Tages, Liebster, zeigte ihm unsere gute Monica Dein Bild: er nannte Deinen Namen und geschwind, geschwind wollte er Papier, eine Feder ... man willfahrte ihm. – »Gut,« sagte er, »gleich will ich schreiben ...« – Was wollte er sagen? Niemand weiß es; aber das war das einzige Mal, daß die Erinnerung an Dich seine Gedanken kreuzte. Er erkannte uns, glaube ich, mehr instinktiv, als bewußt ... Eines Tages, als ich an seinem umherschweifenden Blick erriet, daß er etwas wünsche, fragte ich danach, um ihn zufrieden zu stellen ... »Nichts, Kind,« antwortete er mit unsagbar zärtlichem Ausdruck, »ich suche eure Augen.« Dieses so väterliche Wort ließ uns in Tränen zerfließen und wird nie aus unserem Gedächtnis entschwinden. Mein Mann ist zuletzt bei ihm geblieben. Er hatte mir versprochen, ihm die Augen zu schließen. Deine Stelle bei dieser schmerzlichen Pflicht zu vertreten. Er hat Wort gehalten, mein Herz wird es ihm danken!«

*

Dieses Mißgeschick führte mich bald darauf nochmals auf einige Tage nach la Côte-Saint-André; dort wollte ich im väterlichen Hause mit meinen Schwestern weinen ... Als ich angekommen, lief ich ins Arbeitszimmer, wo mein Vater so viele lange Stunden in traurigen Betrachtungen zugebracht hatte, wo er meine literarische Erziehung begonnen, wo er mir die ersten Musikstunden gegeben, bevor er mich mit den osteologischen Studien schreckte.

Ich fiel halb ohnmächtig auf sein Sofa, meine Schwestern umarmten mich seufzend. Ich berührte mit zitternder Hand alles, was ich bemerkte: seinen Plutarch, sein Tagebuch, seine Federn, seinen Stock, seinen Karabiner (eine harmlose Waffe, die er nie brauchte), einen meiner Briefe, der auf seinem Schreibtisch lag ...

Dann sagte Nanci, eine Schublade öffnend:

– »Hier, lieber Bruder, sieh seine Uhr, betrachte sie ... ach! er hat sie in seiner letzten Not oft genug befragt, um zu erfahren, wieviele Stunden er noch zu leiden habe ...«

Ich nahm die Uhr: sie ging, sie lebte ... und mein Vater lebte nicht mehr.

Ehe ich nach Paris zurückging, wollte ich auch Grenoble wiedersehen und das Haus meines Großvaters mütterlicherseits, in Meylan.

Ich wollte (seltsamer Durst nach Schmerzen!) den Schauplatz meiner ersten leidenschaftlichen Erregungen wiedersehen, kurz, ich wollte meine ganze Vergangenheit umarmen, mich an Erinnerungen berauschen, wie sehr mich auch nagende Traurigkeit dabei befallen möchte. Meine Schwestern, die verstanden, daß ich wünschen mußte, auf dieser frommen Pilgerfahrt allein zu sein, wo so viele schamhafte Eindrücke wach werden sollten, die selbst die liebsten Zeugen scheuen, blieben in la Côte. Ich fühle bei dem Gedanken, diesen Ausflug zu erzählen, meine Adern klopfen. Dennoch will ich es tun, wäre es auch nur, die Dauerhaftigkeit alter Gefühle darzulegen, die scheinbar mit neuen Gefühlen unvereinbar sind, und die Tatsache ihres Zusammenbestehens festzustellen, in einem Herzen, das nichts vergessen kann.

Diese unerbittliche Gedächtnistätigkeit ist so mächtig bei mir, daß ich heute nicht ohne Betrübnis das Bildnis meines Sohnes im Alter von zehn Jahren ansehen kann. Sein Anblick macht mich leiden, wie wenn ich zwei Söhne gehabt hätte, und es wäre mir nur der große junge Mann geblieben, nachdem mir der Tod das liebliche Kind hinweggenommen.

Ich kam um acht Uhr morgens in Grenoble an. Meine Vettern und mein Onkel waren auf dem Felde. Da ich überdies ungeduldig war, Meylan wiederzusehen, so ging ich nur durch die Vorstadt und machte mich zu Fuß nach dem Dorfe auf ... Es war einer jener schönen Herbsttage, heiter und voll poetischen Zaubers.

In Meylan, vor dem Hause meines Großvaters angekommen, das seit kurzem an einen seiner Pächter verkauft ist, öffne ich die Tür, trete ein und finde niemand. Der neue Eigentümer hatte sich am andern Ende des Gartens in einem Neubau eingerichtet.

Darauf begab ich mich in den Salon, wo sich ehemals die Familie zusammenfand, wenn wir kamen, um einige Wochen bei unserm alten Großvater zu verbringen. Der Salon war immer noch im selben Zustand, mit seinen grotesken Gemälden, seinen phantastischen Papiervögeln in allen Farben, die an die Wand geklebt waren.

Da war der Sessel, auf dem der Großvater seinen Nachmittagsschlaf hielt, da war sein Tricktrack; auf dem alten Büffet fand ich einen kleinen Käfig aus Weidenruten, den ich als Kind geflochten; hier sah ich meinen Onkel mit der schönen Estella walzen ... eilig verlasse ich das Zimmer.

Der halbe Obstgarten ist umgegraben ... ich suche nach einer Bank, auf der am Abend mein Vater ganze Stunden zubrachte, versunken in seine Träume, die Augen auf den kolossalen Kalkfelsen Saint Eynard gerichtet, den Sohn der letzten diluvianischen Umwälzung ... die Bank war zerbrochen, nur die beiden wurmstichigen Füße waren davon noch übrig ...

Dort war das Maisfeld, wo ich, zur Zeit meines ersten Liebeskummers, meine Traurigkeit zu verbergen pflegte. Am Fuße jenes Baumes begann ich den Cervantes zu lesen.

Nun zu Berge.

Dreißig Jahre sind verflossen, seit ich ihn zum letzten Male besucht. Ich bin wie einer, der so lange gestorben, und der nun aufersteht. Und auferstehend finde ich alle Gefühle meines Vorlebens wieder, ebenso jung, ebenso brennend ...

Ich stieg auf diesen felsigen, öden Wegen bergauf und schlug die Richtung nach dem weißen Hause ein, das ich, bei meiner Rückkehr aus Italien, vor sechzehn Jahren, nur von weitem erblickt, das Haus, in dem la Stella strahlte.

Ich steige, steige, und je länger mein Aufstieg dauert, desto heftiger fühle ich meine Pulse schlagen. Ich glaube zur Linken des Weges eine Allee wiederzuerkennen, aber sie endigt an einem unbekannten Gut, ist nicht, die ich suche.

Ich nehme den Weg wieder auf; er hat kein Ende, sondern verliert sich in Weinbergen. Ich bin ersichtlich verirrt. Ich sehe noch in meiner Erinnerung den rechten Weg, wie wenn ich ihn tags vorher gegangen; ehemals befand sich dort ein kleiner Quell, dem ich nicht begegnet ... wo bin ich denn? ... wo ist die Quelle? ... Dieser Irrtum mußte meine Beklommenheit noch steigern.

Nun entschließe ich mich, auf dem Gehöft, das ich gerade bemerke, nachzufragen ... Ich betrete die Scheuer, wo ich die Drescher in ihrer Arbeit unterbreche. Sie halten bei meinem Anblick einen Moment inne, und ich frage sie, zitternd wie ein Dieb, der von der Polizei verfolgt wird, ob sie mir den Weg nach dem Hause zeigen könnten, das einstmals von Frau Gautier bewohnt gewesen.

Der eine Drescher kratzt sich die Stirn:

– »Frau Gautier – es gibt niemand dieses Namens im Lande.«

– »Ja, eine alte Dame ..., sie hatte zwei junge Nichten, Keine Nichten, ich täusche mich, sondern zwei Enkelinnen. die alljährlich im Herbst auf Besuch kamen ...«

– » Ich erinnere mich,« sagte, hinzutretend, die Frau des Dreschers; »du dich nicht? ... Fräulein Estelle, die so hübsch war, daß alles Volk sich Sonntags um die Kirchentür scharte, um sie vorbeigeh'n zu sehen?«

– »Ach, jetzt fällt mir's wieder ein ... ja, ja, Frau Gautier ... es ist halt lange her, sehen Sie ... ihr Haus gehört jetzt einem Kaufmann in Grenoble ... Da oben ist es; man muß den Lauf der Quelle, hier hinter unserm Weinberg, ein Stück weit verfolgen und sich dann links halten.«

– »Die Quelle ist da? ... Oh, jetzt kenne ich mich aus ... Danke schön, danke. Nun kann ich nicht mehr fehlgehen ...«

Und über ein Feld hinüber, das an den Hof stieß, komme ich endlich auf den rechten Weg.

Bald höre ich die kleine Quelle murmeln ... ich folge ihr ... Da ist der Pfad, der Baumgang, ähnlich dem, der mich vorhin getäuscht ... Ich fühle, hier ist es ... ich werde schauen ... Gott! ... die Luft berauscht mich ... der Kopf schwindelt mir ... Ich bleibe einen Augenblick stehen, mein Herzklopfen zu bändigen ... Ich gelange zum Eingang der Allee ... Ein Mann in Hemdsärmeln, zweifellos der nüchterne Herr meines Sanktum, steht auf der Schwelle und zündet sich eine Zigarre an ...

Er betrachtet mich verwundert.

Ich gehe wortlos vorüber, immer bergansteigend ... Man muß an einen alten Turm kommen, der ehemals auf der Höhe des Hügels stand und von wo ich alles mit einem Blick umfassen konnte.

Ich steige, ohne mich umzudrehen, ohne geradeaus zu blicken, ich will erst den Gipfel erreichen ... Aber der Turm! der Turm! Ich sehe ihn nicht ... Sollte man ihn abgerissen haben? ... Nein, da ist er ... man hat den obern Teil weggenommen, und die inzwischen größer gewordenen Nachbarbäume haben mich gehindert, ihn zu entdecken.

Endlich bin ich da.

Hierneben, wo jetzt die jungen Buchen grünen, saßen wir, mein Vater und ich, und ich spielte ihm Ninas Müsettenlied auf der Flöte vor.

Hierher mußte Estelle gekommen sein ... Vielleicht nehme ich in der Luft den Raum ein, den ihre reizende Gestalt erfüllte ... Sehen wir uns jetzt um! ... Ich wende mich, und mein Auge faßt das ganze Bild ... das heilige Haus, den Garten, die Bäume, weiter unten das Tal, die schlängelnde Isére, ferne die Alpen, den Schnee, die Gletscher – all das, was sie schaute, all, was sie bewunderte, ich trinke die blaue Luft, die sie atmete ... Ach! ... Ein Schrei, ein Schrei, den keine Menschensprache wiedergeben könnte, hallt als Echo vom Saint Eynard zurück ... Ja, ich sehe sie, sehe sie wieder, bete sie an ... Die Vergangenheit ist Gegenwart, ich bin jung, zwölf Jahre alt! Leben, Schönheit, erste Liebe, Poesie ohne Ende! Ich sinke in die Knie und rufe dem Tal, den Bergen, dem Himmel zu: »Estelle! Estelle! Estelle!«, ich fasse krampfhaft nach dem Boden, beiße ins Moos ... die Einsamkeit fällt mich an ... unbeschreiblich ... wütend ... Blute, mein Herz ... blute, aber laß mir die Kraft zu neuen Leiden! ...

Ich erhebe mich und setze meinen Weg fort, mit dem Auge alle Gegenstände verschlingend, die auf den benachbarten Abhängen zerstreut sind ... ich gehe, nach rechts und links witternd, wie ein verirrter Hund, der die Spur seines Herrn sucht ... Dort ist der Rand einer Böschung, auf dem ich ging, während sie rief:

»Gib acht! geh nicht so nah am Rand! ...«

Über dieses wilde Brombeergesträuch bückte sie sich, die reifen Beeren zu pflücken ... Ach, dort unten, auf jenem Erdstück, befand sich ein Fels, auf den sie ihre schönen Füße setzte, wo ich sie stehen sah, herrlich, das Tal betrachtend ...

An jenem Tage hatte ich mir mit der läppischen Gefühlsseligkeit des Kindes gesagt:

»Wenn ich groß bin, wenn ich einmal ein berühmter Komponist bin, will ich eine Oper über Florians Estelle schreiben und sie ihr widmen ... Die Partitur werde ich auf diesen Felsen tragen, und sie wird sie eines Morgens dort finden, wenn sie kommt, den Sonnenaufgang zu bewundern.«

Wo ist der Fels? ... der Fels! ... unmöglich, ihn zu finden ... Er ist verschwunden ... Die Winzer haben ihn offenbar gesprengt ... oder der Bergwind hat ihn mit Sand bedeckt ...

Der schöne Kirschbaum! auf seinen Stamm stützte sie ihre Hand ...

Aber, was gab es doch noch in seiner Nähe? ... Irgend etwas, scheint mir, muß mir sie mehr, als alles übrige, in die Erinnerung rufen ... etwas, das ihr an Anmut glich ... an Zierlichkeit ... was nur? mein ermüdetes Gedächtnis erlahmt ... ach! eine Staude rosenroter Wicken, deren Blüten sie pflückte ... es war an der Biegung dieses Pfades ... ich eile hin ... Ewige Natur! ... Die rosenroten Wicken sind noch da, und die Pflanze, reicher, buschiger als ehedem, wiegt ihren duftenden Flor im Winde! ... Zeit ... launiger Mäher! ... der Fels ist verschwunden und das Kraut steht noch ... Ich bin nahe daran, alles zu nehmen, alles an mich zu reißen ... Aber nein, liebe Pflanze, bleib' nur und blühe immerdar in deiner stillen Einsamkeit ... sei das Sinnbild des Teiles meiner Seele, den ich einstmals hier ließ und der hier immer wohnen wird, so lang ich lebe! ... Ich nehme nichts mit als zwei deiner Stengel mit ihren frischfarbenen Blütenfaltern – beständigen Schmetterlingen! ... Ade! ... ade! ... Schöner Baum meiner Liebe, ade! ... Berge und Täler, ade! ... Alter Turm, ade! ... alter Saint Eynard, ade! ... Himmel, an dem mein Stern stand, ade! ... Ade, du meine romantische Kindheit, du letzter Abglanz reiner Liebe! Die Flut der Zeiten reißt mich fort; ade, Stella! ... Stella! ...

... Und traurig wie ein Schemen, der in sein Grab zurückwandelt, stieg ich den Berg hinab. Ich kam wieder am Eingang von Estelles Haus vorbei. Der Herr mit der Zigarre war verschwunden ... er befleckte nicht mehr den Vorhof meines Tempels ... aber dennoch wagte ich nicht einzutreten, trotz meiner bangen Sehnsucht ... Ich ging sachte, sachte, bei jedem Schritt innehaltend, meinen Blick von jedem Gegenstand schmerzlich losreißend ...

Ich hatte nicht mehr nötig, mein Herz zu bändigen ... es schien nicht mehr zu schlagen ... ich war wieder gestorben ...

Und überall linde Sonne, Einsamkeit und Stille ...

 

Zwei Stunden später überschritt ich die Isére, und, auf dem andern Ufer, kurz vor Abend, erreichte ich den Weiler Murianette, wo ich meine Basen mit ihrer Mutter fand. Am nächsten Tage gingen wir zusammen nach Grenoble zurück. Ich hatte ein sehr zerstreutes, seltsames Wesen, wie sich leicht denken läßt. Als ich einen Augenblick mit meinem Vetter Victor allein blieb, konnte er nicht umhin, zu fragen:

– »Was hast du nur? Ich habe dich nie so gesehen ...«

– Was ich habe? ... paß auf, du wirst mich verulken, aber da du fragst, will ich antworten ... Übrigens wird mich das erleichtern; ich ersticke ... gestern war ich in Meylan.

– »Ich weiß; was gibt es dort?«

– Es gibt dort unter anderm das Haus der Frau Gautier ... kennst du ihre Nichte Ihre Enkelin., Frau F*****?

– »Ja, die man einmal die schöne Estelle D***** nannte.«

– Nun also! Ich liebte sie mit zwölf Jahren zum Wahnsinn und ... liebe sie noch! ...

– »Aber, du Pinsel!«, entgegnete mit schallendem Gelächter Victor, »sie ist jetzt einundfünfzig Jahre alt, ihr ältester Sohn zweiundzwanzig ... er hat mit mir Jura studiert!«

Und sein Gelächter verdoppelte sich, und meines vermischte sich mit dem seinen, aber krampfhaft, verzerrt, trostlos wie Strahlen der Aprilsonne durch Regengüsse ...

– Ja, ich fühle, es ist absurd, und doch ist es ... es ist absurd und wahr zugleich ... kindisch und erhaben ... Lache nicht mehr, oder lache, wenn du willst; macht nichts. Wo ist sie jetzt? Wo? Du weißt es doch? ...

– »Seit dem Tod ihres Mannes wohnt sie in Vif ...«

– Vif! Ist das weit?

– »Drei Meilen von hier ...«

– Ich gehe hin, ich will sie sehen.

– »Bist du verrückt?«

– Ich finde schon einen Grund, mich ihr vorzustellen.

– »Ich bitte dich, Hector, laß diese Narretei!«

– Ich will sie sehen.

– »Du bist nicht kaltblütig genug, dich bei einem solchen Besuch mit Anstand aus der Affäre zu ziehen.«

– Ich will sie sehen!

– »Du wirst dich dumm anstellen, lächerlich wirken, sie kompromittieren, und das wird alles sein.«

– Ich will sie sehen!

– »Aber bedenke doch! ...«.

– Ich will sie sehen!

– »Einundfünfzig Jahre! ... mehr als ein halbes Jahrhundert ... was wirst du wiederfinden? ... ist es nicht besser, die Erinnerung an sie jung und frisch zu erhalten, dein Ideal zu bewahren?«

– Verruchte Zeit! Gräßlich entheiligende! nun denn, ich will ihr wenigstens schreiben ...

– »Schreibe. Mein Gott, welch ein Narr!«

Er reicht mir die Feder und fällt in einen Lehnstuhl, geschüttelt von einem neuen Heiterkeitsanfall, an dem ich mich wieder krampfhaft beteilige; und so schreibe ich, bei Sonnenschein und gleichzeitigen Regengüssen, diesen Brief, der abgeschrieben werden mußte, der großen Tropfen wegen, die alle Zeilen verwischt hatten.

»Gnädige Frau!

Es gibt eine treue, hartnäckige Bewunderung, die nur mit uns stirbt ... Ich zählte zwölf Jahre, als ich, in Meylan, Fräulein Estelle zum erstenmal? sah. Es konnte Ihnen damals nicht verborgen bleiben, bis zu welchem Grade Sie das Kinderherz betört hatten, das unter der Gewalt ungleicher Gefühle fast zerbrach; ich glaube sogar, Sie hatten die wohlentschuldbare Grausamkeit, manchmal darüber zu lachen. Siebzehn Jahre später (ich kam aus Italien heim) füllten sich meine Augen mit Tränen, den sanften Tränen der Erinnerung, als ich, in unser Tal zurückkehrend, das unlängst von Ihnen bewohnte Haus auf der romantischen Höhe erblickte, die vom St. Eynard beherrscht wird. Einige Tage später wurde ich gebeten, einen an Sie gerichteten Brief der Adressatin zuzustellen. Ich ging und erwartete Frau F***** auf einer Poststation, wo sie sich einfinden mußte; ich zeigte ihr den Brief; ein heftiger Stich, den ich im Herzen fühlte, ließ meine Hand zittern, als ich sie der ihrigen näherte ... Ich hatte sie wiedererkannt ... meine erste Flamme ... la Stella del monte ... deren strahlende Schönheit meinen Lebensmorgen erhellte. Gestern, gnädige Frau, nach langen, heftigen Aufregungen, nach weiten Wanderungen durch ganz Europa, nach Mühen, deren Widerhall vielleicht bis zu Ihnen gedrungen ist, habe ich eine seit langem mir ausgedachte Pilgerfahrt unternommen. Ich wollte alles wiedersehen und habe alles wiedergesehen; das kleine Haus, den Garten, den Baumgang, die Anhöhe, den alten Turm, das angrenzende Wäldchen, den ewigen Fels und die erhabene Landschaft, Ihrer Blicke würdig, die sie so oft geschaut haben. Nichts ist verändert. – Die Zeit hat den Tempel meiner Erinnerungen verschont. Nur bewohnen ihn heut Unbekannte: Ihre Blumen werden von fremden Händen gepflegt, und niemand auf der Welt, nicht einmal Sie, hätte ahnen können, warum ein finsterer Mann mit schmerzlich ermatteten Zügen gestern hier die geheimsten Winkel durchforschte ... O quante lagrime! ... Ade, verehrte Frau, ich kehre in meinen Trubel zurück; Sie werden mich wahrscheinlich nie mehr sehen, werden nicht wissen, wer ich bin, aber Sie werden mir hoffentlich die seltsame Freiheit vergeben, mit der ich Ihnen heute schreibe. Ich verzeihe Ihnen gleichfalls im voraus, daß Sie über die Erinnerungen des Mannes lachen, wie Sie über die Bewunderung des Kindes gelacht haben.

Despise love. Verschmähte Liebe. Ausdruck Shakespeares im Hamlet.

Grenoble, 6. Dezember 1848.«

Und trotz der schlechten Witze meines Vetters schickte ich den Brief ab. Ich weiß nicht, ob er angekommen ist ... Ich habe seitdem nicht mehr von Frau F***** hören. In einigen Monaten muß ich nach Grenoble zurückkehren. Oh, diesmal, fühl' ich, werd' ich nicht mehr widerstehen ... ich muß nach Vif. Ich bin niemals hingegangen. Ich habe nur vor fünf Jahren gehört, daß Frau F***** in Lyon wohnt. Lebt sie noch? ... Ich wage nicht darnach zu fragen. (Februar 1854.)
Sie lebt noch, ich weiß es. (August 1854.)


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