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6.

Meine Zulassung unter die Schüler Lesueurs. Seine Güte. Die königliche Kapelle.

 

Während dieser unerträglichen Erörterungen hatte ich mit der Komposition begonnen. Ich hatte unter anderm eine Kantate für großes Orchester geschrieben, auf ein Gedicht von Millevoye (Das arabische Pferd). Ein Schüler Lesueurs, namens Gerono, den ich oft in der Bibliothek des Konservatoriums traf, stellte mir die Möglichkeit in Aussicht, in die Kompositionsklasse des Meisters zugelassen zu werden, und erbot sich, mich ihm vorzustellen. Ich nahm seinen Vorschlag mit Freuden an und legte eines Morgens Lesueur die Partitur meiner Kantate vor, nebst einem dreistimmigen Kanon, den ich ihm bei solch feierlichem Anlaß zu meiner Empfehlung glaubte mit überreichen zu müssen. Lesueur war so freundlich, das erste dieser beiden unförmlichen Werke aufmerksam durchzulesen; dann gab er es mir zurück und sagte: »Es steckt viel Wärme und dramatisches Leben da drinnen, aber Sie verstehen noch nicht zu schreiben, und Ihre Harmonik ist mit so zahlreichen Fehlern behaftet, daß es unnütz wäre, sie Ihnen zu bezeichnen. Gerono wird so gut sein, Sie mit unsern harmonischen Prinzipien bekannt zu machen, und wenn Sie dann soweit damit vertraut sind, daß Sie mich verstehen können, will ich Sie gerne unter meine Schüler aufnehmen.«

Gerono übernahm respektvoll den Auftrag Lesueurs; er setzte mir in einigen Wochen das ganze System klar auseinander, auf das der Meister seine Theorie der Akkorderzeugung und -Verbindung aufgebaut; ein System, das er von Rameau und dessen Phantasien über die Resonanz der tönenden Saite entlehnt hatte. Die er den tönenden Körper nennt, als ob tönende Saiten die einzigen schwingenden Körper im Weltall wären; oder besser noch: als ob die Theorie ihrer Schwingungen auf die Resonanz aller anderen Schallkörper anwendbar wäre. Ich sah sogleich an der Art, in der mir Gerono diese Prinzipien erklärte, daß man ihre Gültigkeit nicht im geringsten in Frage stellen dürfe, und daß sie in Lesueurs Schule eine Art Religion darstellten, der jeder blind sich unterwerfen müsse. Zuletzt glaubte ich sogar an diese Lehre – so groß ist die Macht des Beispiels – und Lesueur, der mich in die Zahl seiner Lieblingsschüler aufnahm, konnte mich auch zu seinen eifrigsten Adepten zählen.

Ich bin weit davon entfernt, es an Erkenntlichkeit gegen diesen vortrefflichen, würdigen Mann fehlen zu lassen, der meine ersten Schritte im Beruf mit soviel Wohlwollen überwachte und mir bis an sein Lebensende eine aufrichtige Neigung bezeigt hat. Aber wieviel Zeit habe ich damit verloren, seine antediluvianischen Theorien zu lernen, sie in die Praxis umzusetzen und sie hinterher wieder zu verlernen, indem ich meine Ausbildung von Grund auf neu begann! So begegnet es mir jetzt, daß ich unwillkürlich die Augen abwende, wenn ich eine seiner Partituren sehe. Ich gehorche dann einem Gefühl ähnlich demjenigen, das wir empfinden, wenn wir das Bild eines verstorbenen Freundes erblicken. Ich habe die kleinen Oratorien, die das Repertoire Lesueurs bei der königlichen Kapelle bildeten, so sehr bewundert, und es ebensosehr bedauert, diese Bewunderung erlöschen zu sehen! Wenn ich überdies die Gegenwart vergleiche mit jener Zeit, da ich, sie zu hören, regelmäßig jeden Sonntag zum Palais der Tuilerien ging, komme ich mir so alt, so müde, so arm an Illusionen vor! Wie viele berühmte Künstler, die ich bei diesen feierlichen Kirchenmusiken antraf, sind nicht mehr! Wie viele andere sind einer Vergessenheit anheimgefallen, die schlimmer ist, als der Tod. Welche Betriebsamkeit, Anstrengungen, Unruhe seit damals! Das war die Zeit der großen Begeisterung, der großen musikalischen Leidenschaften, langer Träumereien, unendlicher, unaussprechlicher Freuden! ... Wenn ich das Orchester der königlichen Kapelle betrat, benutzte Lesueur gewöhnlich die wenigen Minuten vor dem Gottesdienst, mich über den Gegenstand des aufzuführenden Werkes zu belehren und mir dessen Plan und seine Hauptabsichten zu erklären. Die Kenntnis des Stoffes, den der Komponist behandelte, war in der Tat nicht überflüssig; denn es war selten ein Messetext. Lesueur hatte eine große Anzahl Messen geschrieben, aber er bevorzugte und komponierte lieber jene köstlichen Episoden des Alten Testaments, wie Noemi, Rachel, Ruth und Booz, Deborah usw., die er in ein, manchmal so getreues, altertümliches Kolorit tauchte, daß man beim Hören die Armut seiner musikalischen Erfindung vergaß, wie die Hartnäckigkeit, mit der er in seinen Arien, Duetten und Terzetten den altitalienisch-dramatischen Stil zu kopieren versuchte, und die kindliche Schwäche seiner Instrumentation. Von allen Dichtungen (vielleicht mit Ausnahme derjenigen des Mac-Pherson, die er beharrlich dem Ossian zuschrieb) war es unwidersprechlich die Bibel, die das meiste zur Entwicklung der Lesueur eigenen Fähigkeiten beitrug. Ich teilte damals seine Vorliebe, und der Orient mit der glühenden Ruhe seiner Einöden, der Majestät seiner ungeheuern Ruinen, seinen historischen Erinnerungen und seinen Märchen war der Punkt an meinem poetischen Horizont, zu dem meine Phantasie am liebsten ihren Flug nahm.

Sobald sich nach dem Gottesdienst, beim Ite missa est, der König Karl X. unter dem grotesken Lärm einer Riesentrommel und einer Querpfeife zurückgezogen hatte, die, wie herkömmlich, eine Fanfare im Fünftakt spielte – würdig der Barbarei des Mittelalters, dem sie entstammte –, nahm mich mein Lehrer manchmal auf seine langen Spaziergänge mit. Das waren die Tage guter Ratschläge, denen sonderbare Vertraulichkeiten folgten. Lesueur erzählte, um mir Mut zu machen, eine Menge Anekdoten aus seiner Jugend; von seinen ersten Arbeiten in der Kirchenchorschule von Dijon, seiner Aufnahme in die heilige Kapelle zu Paris, seiner Bewerbung um die Kapellmeisterstelle an Notre-Dame; von Méhuls Haß auf ihn; von den Plackereien der Schulfüchse am Konservatorium; von den Kabalen, die gegen seine Oper »Die Höhle« angezettelt wurden, und von dem vornehmen Betragen Cherubinis bei dieser Gelegenheit; von der Freundschaft Païsiellos, seines Vorgängers an der kaiserlichen Kapelle; von den berauschenden Auszeichnungen, die Napoleon dem Komponisten der »Barden« Die gravierte Inschrift im Innern der goldenen Dose, die Lesueur nach der ersten Aufführung dieser Oper erhielt, lautet: Der Kaiser Napoleon dem Autor der Barden. zuteil werden ließ; von dem historischen Ausspruch des großen Mannes über diese Partitur. Mein Lehrer erzählte mir weiter von den endlosen Bemühungen um die Aufführung seiner ersten Oper; von seinen Befürchtungen, seiner Angst vor der ersten Aufführung; von seiner seltsamen Traurigkeit, seiner Untätigkeit nach dem Erfolg; von seinem Drang, die Zufälle des Theaters aufs neue zu versuchen; von seiner Oper Telemach, die er in drei Monaten schrieb; von der stolzen Schönheit der Frau Scio in der Rolle der jagenden Diana, von ihrem prächtigen Ungestüm als Kalypso. Dann kamen die Diskussionen; denn er erlaubte mir, wenn wir allein waren, mit ihm zu diskutieren, und ich machte von dieser Erlaubnis mitunter einen etwas reichlicheren Gebrauch, als schicklich war. Seine Theorie des Generalbasses und seine Gedanken über Modulation lieferten genug Stoff dazu. In Ermanglung musikalischer Fragen stellte er gerne ein paar philosophische und religiöse Thesen auf, über die wir uns auch nicht sehr oft in Einklang befanden. Aber wir hatten die Gewißheit, uns an verschiedenen Sammelpunkten wieder zu treffen, so bei Gluck, Virgil, Napoleon, denen unsere Sympathien sich mit gleicher Inbrunst zuneigten. Nach diesen langen Gesprächen an den Ufern der Seine oder im Schatten der Tuilerien entließ er mich gewöhnlich, um sich stundenlang einsiedlerischen Betrachtungen hinzugeben, die ihm zum wahren Bedürfnis geworden waren.


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