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36.

Das Leben auf der Akademie. Meine Ausflüge in die Abruzzen. Sankt Peter. Der Spleen. Wanderungen in der römischen Campagna. Der Karneval. Der Navoneplatz.

 

Ich kannte bereits die Gewohnheiten in und außerhalb der Akademie. Eine Glocke verkündet durch die verschiedenen Gänge des Hauses und des Gartens die Essenszeiten. Jeder kommt alsdann in dem Kostüm gelaufen, das er gerade anhat: im Strohhut, mit zerrissener oder tonbeschmierter Bluse, in Pantoffeln, ohne Halsbinde oder endlich im völlig vernachlässigten Atelieranzug. Nach dem Frühstück brachten wir gewöhnlich eine Stunde oder zwei im Garten mit Diskuswerfen oder Ballspiel hin, mit Pistolenschießen, mit Jagen auf die unglücklichen Amseln im Lorbeergebüsch oder mit dem Dressieren junger Hunde: alles Übungen, an denen Herr Horace Vernet, dessen Beziehungen zu uns eher die eines trefflichen Kameraden, als eines strengen Direktors waren, sehr oft teilnahm. Abends erfolgte der obligate Besuch des Café Greco, wo die französischen Künstler, die nicht zur Akademie gehörten, und die wir die »Männer der Tiefe« nannten, mit uns die »Freundschaftszigarren« rauchten und den »Punsch der Vaterlandsliebe« tranken. Hierauf zerstreute sich alles ... Die, welche tugendhaft in die akademische Kaserne zurückkehrten, versammelten sich manchmal auf dem großen Vorplatz, der auf den Garten hinausgeht. Wenn ich mich unter ihnen befand, wurden meine schlechte Stimme und meine elende Gitarre ausgeplündert; dann saßen wir allzumal um einen kleinen Springbrunnen, der, in ein Marmorbecken zurückfallend, den hallenden Säulengang mit Kühlung füllte, und sangen im Mondschein die träumerischen Melodien aus »Freischütz«, »Oberon«, die kraftvollen Chöre aus »Euryanthe«, oder ganze Akte aus »Iphigenie in Tauris«, aus der »Vestalin« oder aus »Don Juan«. Denn zum Lobe meiner akademischen Tischgenossen sei es gesagt: ihr musikalischer Geschmack war durchaus nicht gewöhnlich.

Als Gegenstück dazu hatten wir nach fidelen Gelagen eine Art von Konzerten, die wir »englische Konzerte« nannten, wobei es nicht an Belustigungen fehlte. Die Zecher waren nicht immer Sänger, konnten aber alle zur Not irgendwelche beliebte Arie auswendig. Sie richteten es so ein, daß jeder eine andere wählte; um übrigens möglichst große Abwechslung zu erreichen, sang jeder in einer anderen Tonart als sein Nachbar. Duc, der geistvolle, erfahrene Architekt, sang sein Lied von der »Säule«, Dantan das vom Sultan Saladin, Montfort feierte Triumphe mit dem Marsch aus der Vestalin, Signol war voll Anmut in der Romanze vom Flusse Tajo und ich hatte einigen Erfolg mit dem so zärtlich-kindlichen »Es regnet, Schäferin«. Auf ein gegebenes Zeichen setzten die Teilnehmer einer nach dem andern ein, und dieses ausgedehnte Ensemble von vierundzwanzig Stimmen wurde im crescendo ausgeführt, begleitet von dem schmerzlichen Heulen der erschreckten Hunde auf der Pinciopromenade, während die Barbiere des spanischen Platzes, auf ihrer Ladenschwelle, naiv genug waren, einander mit spitzbübischem Lächeln zuzurufen: » Musica francese!«

Donnerstags war großer Empfang beim Direktor. Die glänzendste Gesellschaft Roms fand sich da zu den fashionablen Soireen zusammen, denen Frau und Fräulein Vernet mit soviel Geschmack vorstanden. Es läßt sich denken, daß die Pensionäre sich hüteten, sie zu versäumen. Hingegen war der Sonntag fast immer zu mehr oder minder langen Ausflügen in die Umgebung Roms bestimmt. Da war Ponte-Molle, wo man hingeht, um eine Art süßlich-öliger Arzenei zu trinken, den Lieblingswein der Römer, Orvieto genannt; da war die Villa Pamphili; St. Lorenz vor den Mauern; und vor allem das grandiose Grabmal der Cecilia Metella, wo es von großer Wichtigkeit ist, das merkwürdige Echo so lange zu befragen, bis man heiser wird und einen Vorwand hat, sich in einer Osteria zu erfrischen, die sich einige Schritte weit von da befindet und wo es einen dicken schwarzen Wein mit Mücken gibt.

Wenn es der Direktor erlaubt, können die Pensionäre längere Reisen von unbestimmter Dauer unternehmen, unter der einzigen Bedingung, den römischen Staat nicht zu verlassen, bis die Bestimmungen sie ermächtigen, alle Teile Italiens zu besuchen. Dies der Grund, weshalb die Schar der akademischen Pensionäre sehr selten vollzählig ist. Mindestens zwei davon sind fast immer auf der Reise nach Neapel, nach Venedig, Florenz, Palermo oder Mailand. Die Maler und Bildhauer, die den Raffael und Michelangelo in Rom finden, haben es gewöhnlich am wenigsten eilig mit dem Reisen; dagegen erregen die Tempel von Paestum, Pompeji, Sizilien die lebhafte Neugier der Architekten. Die Landschaftsmaler bringen ihre Zeit größtenteils in den Bergen zu. Was die Musiker betrifft, so haben sie, da sie den verschiedenen Hauptstädten Italiens ungefähr das gleiche Interesse entgegenbringen, keine andern Gründe, Rom zu verlassen, als »die Sehnsucht, zu schauen« und »das unruhige Temperament«, und nur ihre persönlichen Sympathien können Einfluß auf die Direktion oder auf die Dauer ihrer Reisen haben. Ich benutzte die uns gegönnte Freiheit, um meinem Hang zu abenteuerlichen Entdeckungen nachzugeben, und rettete mich in die Abruzzen, wenn mir in Rom die Langeweile das Blut gerinnen machte. Ohne das hätte ich die Eintönigkeit eines solchen Daseins wohl kaum zu ertragen gewußt. Man begreift, daß der Frohsinn unseres Künstlerlebens, die vornehmen Bälle der Akademie und Gesandtschaft, das Sichgehenlassen in der Kneipe, mich in Wirklichkeit kaum vergessen lassen konnten, daß ich aus Paris, dem Mittelpunkte der Zivilisation, kam, daß ich mich mit einem Schlage der Musik, des Theaters, Die Theater in Rom sind nur vier Monate des Jahres geöffnet. der Literatur, Die meisten Werke, die ich bewunderte, waren damals von der päpstlichen Zensur auf den Index gesetzt. der Anregungen, kurz alles dessen, was mein Leben ausmachte, beraubt sah.

Man braucht sich nicht zu wundern, daß der große Schatten des alten Rom, der allein das neue poetisch macht, nicht genügte, mich für das Fehlende zu entschädigen. Mit Objekten, die man immer vor Augen hat, wird man sehr schnell vertraut; schließlich rufen sie in der Seele nur noch gewöhnliche Vorstellungen und Gedanken wach. Dennoch muß ich das Kolosseum ausnehmen; ob bei Tage, ob bei Nacht, nie konnte ich es gleichgültig betrachten. Auch St. Peter ließ mich stets einen Schauer der Bewunderung empfinden. Das ist so groß, so vornehm, so schön, so gewaltig in seiner Ruhe! Während der unerträglichen Sommerhitze brachte ich dort gerne den Tag zu. Ich hatte einen Band Byron bei mir; so ließ ich mich gemächlich in einem Beichtstuhl nieder, genoß die kühle Luft, die feierliche Stille, die nur in langen Pausen unterbrochen wurde, wenn der Wind das harmonische Geplätscher zweier Springbrunnen auf dem großen St. Petersplatze an mein Ohr trug, und verschlang mit Muße diese feurige Poesie. Ich folgte auf den Wogen den kühnen Zügen des Korsaren, verehrte tief diesen zugleich unerbittlichen und zarten, unbarmherzigen und großmütigen Charakter, in dem sich zwei scheinbar entgegengesetzte Gefühle so sonderbar begegnen: Haß gegen das Geschlecht und Liebe zu einer Frau.

Manchmal, wenn ich mein Buch sinken ließ, um nachzudenken, schweiften meine Blicke rundum. Dann erhoben sich meine Augen, vom Lichte angezogen, zur erhabenen Kuppel des Michelangelo. Welch plötzlicher Gedankenübergang! Dem Wutgeschrei der Piraten, ihren blutigen Orgien entrückt, befand ich mich auf einmal beim Konzert der Seraphim, im seligen Frieden, in der unendlichen Ruhe des Himmels ... Dann wieder senkten meine Gedanken ihren Flug und gefielen sich, im Vorhof des Tempels die Fußspur des edlen Dichters zu suchen.

Gewiß hat er diese Gruppe von Canova betrachtet, sagte ich mir; sein Fuß hat diesen Marmor berührt, seine Hand ist den Linien dieser Bronze nachgegangen, diese Luft hat er geatmet, dies Echo hat seine Worte wiederholt ... vielleicht Worte zärtlicher Liebe. Ja, gewiß, konnte er nicht das Monument mit seiner Freundin, Frau Guiccioli, Ich sah sie eines Abends bei Herrn Vernet, mit ihren langen, weißen Haaren, die, wie Zweige einer Trauerweide, um ihr schwermütiges Antlitz fielen: drei Tage später sah ich im Atelier Dantans ihre Karikatur aus Ton. besucht haben, jener wunderbaren, seltenen Frau, von der er so vollkommen verstanden, so tief geliebt wurde? ... Geliebt sein! ... Dichter! Frei! Reich! ... All das war – er! ... Und der Beichtstuhl hallte wieder von einem Zähneknirschen, daß selbst Verdammte geschaudert hätten.

Eines Tages, da ich mich in solcher Verfassung befand, erhob ich mich spontan, wie um fortzugehen, aber nach einigen hastigen Schritten blieb ich plötzlich mitten in der Kirche wie angewurzelt stehen. Ein Bauer trat ein und küßte dem heiligen Petrus ruhig die Zehe.

– Glücklicher Zweifüßler! murmelte ich bitter, was fehlt dir? Du glaubst und hoffst. Die Bronze, die du anbetest und deren Hand heute, statt der Blitze, die Schlüssel zum Paradies hält, war ehemals ein donnernder Jupiter; du weißt es nicht, kennst keine Enttäuschung. Was suchst du draußen, wenn du nun gehst? Schatten und Schlaf. Die Kapellen auf den Feldern stehen dir offen; du wirst die eine oder andere finden. Welche Reichtümer erträumst du? ... Für die Hand voll Piaster, die du brauchst, um einen Esel zu kaufen oder dich zu verheiraten, genügen dir die Ersparnisse dreier Jahre. Was ist dir eine Frau? ... Das andere Geschlecht ... Was suchst du in der Kunst? ... Ein Mittel, die Gegenstände deiner Verehrung sichtbar zu machen und dich zu Lachen und Tanz anzuregen. Für dich ist die rot und grün angestrichene Jungfrau die Malerei; für dich sind Marionetten und Polichinellen das Drama, dir gelten Sackpfeife und baskische Trommel als Musik; – mir bleiben Verzweiflung und Haß, denn ich habe nichts von dem, was ich suche, noch hoffe ich mehr, es zu gewinnen.

Nachdem ich einige Zeit dem Wüten des Sturmes in meinem Innern gelauscht, sah ich, daß der Tag zur Rüste ging. Der Bauer war fort; ich war allein in St. Peter ... ich ging. Ich begegnete deutschen Malern, die mich in eine Osteria vor den Toren der Stadt schleppten, wo wir, ich weiß nicht wieviele, Flaschen Orvieto tranken, Unsinn redeten, rauchten, und kleine Vögel, die wir einem Jäger abgekauft, in rohem Zustand aßen.

Die Herrn fanden dieses Barbarengericht sehr gut, und ich war bald ihrer Meinung, trotz dem Ekel, den ich zuerst davor empfunden.

Wir kehrten nach Rom zurück, Webersche Chöre singend, welche uns an musikalische Genüsse erinnerten, an die wir auf lange hinaus nicht mehr denken durften ... Um Mitternacht ging ich auf den Gesandtschaftsball. Dort sah ich eine Engländerin, schön wie Diana; sie hatte, wie sie mir erzählte, fünfzigtausend Pfund Sterling Rente, dazu eine vorzügliche Stimme und ein bewundernswertes pianistisches Talent – was mir viel Vergnügen machte. Die Vorsehung ist gerecht; sie sorgt für gleichmäßige Verteilung ihrer Gunst! Ich traf schauerliche Altweibergesichter an, die Augen, funkelnd vor Begierde, auf einen Spieltisch geheftet; Hexen aus Macbeth! Ich sah Koketten sich zieren; man zeigte mir zwei anmutige junge Mädchen, die »in die Welt eintraten«, wie ihre Mütter sich ausdrückten, zarte, köstliche Blumen, die der sengende Odem dieser »Welt« bald welk machen wird! Ich war entzückt davon. Drei Kunstfreunde unterhielten sich in meiner Gegenwart über Begeisterung, Poesie, Musik; sie verglichen Beethoven und Herrn Vaccai, Shakespeare und Herrn Ducis miteinander; sie fragten mich, »ob ich Goethe gelesen«, ob der Faust mich »amüsiert« hätte und, was weiß ich wieviele andere schöne Dinge mehr. All das bezauberte mich so, daß ich den Salon verließ mit dem Wunsche, ein Aerolith, so groß wie ein Berg, möchte auf den Gesandtschaftspalast niederfallen und ihn samt allen Insassen vernichten.

Als wir die Treppe der Trinita-del-Monte wieder hinanstiegen, um in die Akademie zurückzukehren, mußten wir unsere großen römischen Messer ziehen. Elende hatten sich auf der Plattform in den Hinterhalt gelegt, um von den Passanten die Börse oder das Leben zu fordern. Aber wir waren zu zweit, sie nur zu dritt; dennoch genügte das Knacken unserer Messer, die wir geräuschvoll öffneten, um sie augenblicks zur Tugend zurückzuführen. Oft war mir nach der Rückkehr aus diesen abgeschmackten Gesellschaften, wo mir der seichte Vortrag seichter Kavatinen mit Klavierbegleitung meinen Musikdurst nur noch reger machen und meine schlechte Laune nur steigern konnte, der Schlaf unmöglich. Dann ging ich in den Garten hinunter, und, in einen großen Mantel mit Kapuze gehüllt, setzte ich mich auf einen Marmorblock, hörte, in schwarzen, misanthropischen Träumen befangen, die Eulen der Villa Borghese schreien und erwartete so den Sonnenaufgang. Wenn meine Kameraden um diese müßigen Nachtwachen unter freiem Himmel gewußt hätten, so würden sie mich gewiß der »Affektation« (wie der gangbare Ausdruck lautete) bezichtigt haben, und Karikaturen jeder Art hätten nicht auf sich warten lassen; aber ich prahlte nicht damit.

Das war, zusammen mit der Jagd und dem Spazierenreiten, Auf einem dieser Spazierritte, die ich in der Campagna mit Felix Mendelssohn gemeinsam unternahm, drückte ich diesem mein Erstaunen aus darüber, daß noch niemand daran gedacht hätte, über Shakespeares schillerndes Gedichtchen »Die Fee Mab« ein Scherzo zu schreiben. Er zeigte sich gleichfalls erstaunt, und ich bereute alsbald, ihn auf diese Idee gebracht zu haben. Ich fürchtete darauf einige Jahre lang, zu erfahren, daß er dieses Thema behandelt habe. Zweifellos hätte er damit den doppelten Versuch in meiner Sinfonie »Romeo und Julia« unmöglich oder doch sehr unklug erscheinen lassen. Tatsächlich gibt es in dieser Sinfonie ein vokales Scherzetto und ein instrumentales Scherzo über die Fee Mab. der anmutige Kreis meiner Tätigkeit und Gedanken, in dem ich mich, während meines Aufenthalts in Rom, unablässig bewegte. Fügt man noch den niederdrückenden Einfluß des Sirocco, das gebieterische, alle Tage neu erwachende Bedürfnis nach den Freuden meiner Kunst hinzu, dann die peinvollen Erinnerungen, den Kummer, mich während zweier Jahre aus der musikalischen Welt verbannt zu sehen, ferner die unerklärliche, aber bestehende Unmöglichkeit, auf der Akademie zu arbeiten – so wird man verstehen, mit welcher Stärke der Spleen an mir fraß.

Ich war tückisch wie ein Kettenhund. Die Bemühungen meiner Kameraden, mich zur Teilnahme an ihren Vergnügungen zu bewegen, dienten nur dazu, mich noch mehr aufzubringen. Vor allem erbitterte es mich, daß sie Geschmack an den »Freuden« des Karnevals fanden. Ich konnte nicht verstehen (und kann es heute noch nicht), was für ein Vergnügen man finden könne an Zerstreuungen, die man in Rom wie in Paris die »fetten Tage« nennt! ... Wirklich sehr fett! Fett an Kot, fett an Schminke, an Gips, an Weinhefe, an unflätigen Schwänken, plumpen Grobheiten, Dirnen, betrunkenen Gaffern, häßlichen Masken, kreuzlahmen Pferden, lachenden Strohköpfen, albernen Bewunderern, sich langweilenden Müßiggängern. Zu Rom, wo sich die guten Traditionen des Altertums erhalten haben, brachte man noch bis vor kurzem in den fetten Tagen ein Menschenopfer dar. Ich weiß nicht, ob dieser bewundernswerte Brauch, in dem man einen unbestimmten Duft von Zirkuspoesie wiedererkennt, immer noch besteht, doch ist es wahrscheinlich: große Gedanken verschwinden nicht so schnell. Damals sparte man für die »fetten Tage« (welch gemeines Epitheton!) das Leben eines armen Teufels auf, über den die Todesstrafe verhängt war; auch ihn ließ man fett werden, um ihn des Gottes, dem er geopfert werden sollte: des Volkes von Rom, würdig zu machen; und wenn sein Stündlein gekommen war, wenn dieser Schwarm Blödsinniger aus allen Nationen (denn, um gerecht zu sein: die Fremden sind auf diese edeln Vergnügungen nicht weniger versessen, als die Einheimischen), wenn diese Horde Wilder in Frack und Weste es müde war, Pferde rennen zu sehen und sich mit geistreich-boshaftem Gelächter Gipskügelchen ins Gesicht zu werfen, dann wollte sie den Menschen sterben sehen, jawohl, den Menschen! Oft wird er mit Recht von solchen Insekten so genannt. Gewöhnlich ist es irgendein unglücklicher Bandit, der, von Wunden erschöpft, halbtot von den »tapfern« päpstlichen Soldaten gefangen genommen wurde, den man verbunden, gepflegt, geheilt, gemästet, dem man die Beichte abgenommen hat – für die fetten Tage. Und sicherlich ist, nach meiner Meinung, in diesem Besiegten tausendmal mehr Menschliches, als in diesem ganzen Geschmeiß von Siegern, dem das zeitliche und ewige Oberhaupt der Kirche ( abhorrens a sanguine), der Vertreter Gottes auf Erden, von Zeit zu Zeit das Schauspiel des Köpfens darbieten muß. Die Pariser sind in dieser Beziehung immer noch der Römer von 1831 würdig. Herr Léon Halevy, Bruder des berühmten Komponisten, hat eben an das Journal des Débats einen wohldurchdachten und wohlmeinenden Brief gerichtet, in dem er die Abschaffung der gemeinen karnevalistischen Zeremonie fordert, deren Mittelpunkt der »fette Ochse« ist. Dieser wird drei Tage lang in den Straßen herumgeführt und endlich erschöpft zum Schlachthaus gebracht, wo man ihm mit großem Pomp den Rest gibt. Dieser beredte Protest hat mich lebhaft gerührt, und ich konnte nicht umhin, dem Autor folgendes Billett zu schreiben:
Sehr geehrter Herr!
Erlauben Sie mir, Ihnen die Hand zu drücken für Ihren prächtigen Brief über den Fetten Ochsen, der heute im Journal des Débats zu lesen war. Nein, Sie sind nicht lächerlich, glauben Sie das ja nicht; auf jeden Fall ist es tausendmal besser, in den Augen der Oberflächlichen solcherweise lächerlich zu scheinen, als ungesittet und barbarisch in den Augen fühlender Menschen, wenn man gleichgültig bleibt bei Schauspielen, wie dem, das von Ihnen mit Fug und Recht gebrandmarkt worden ist, bei Schauspielen, die den sogenannten gebildeten Menschen zum Tier, zum feigsten und grausamsten Schädling machen.
Seien Sie meiner Hochachtung und Sympathie gewiß.
7. März 1865.
Zwar begibt sich bald nachher dies empfindsame, intelligente Volk nach dem Navone-Platz, gewissermaßen zur Reinigung, zur Tilgung der Blutspuren an seinen Kleidern. Der Platz ist alsdann vollständig überschwemmt; aus dem Gemüsemarkt ist ein wahrer Teich schmutzigen, stinkenden Wassers geworden, auf dessen Oberfläche, statt Seerosen, Kohlstrünke, Lattichblätter, Melonenabfälle, Strohhalme, Mandelschalen schwimmen. Auf einer Estrade am Ufer des Zaubersees spielt eine Musik von fünfzehn Mann, bestehend aus zwei großen Trommeln, einer Rührtrommel, einer kleinen Trommel, einem Triangel, einem Schellenbaum und zwei Paar Becken, die pro forma von einigen Hörnern oder Klarinetten flankiert sind. Ihre Melodien sind rein, wie die Flut, die den Fuß ihres Gerüstes bespült. Währenddem machen die feinsten Equipagen um diese Lache langsam die Runde, begleitet von spöttischen Ausrufungen des »Königs Volk«, der aber nicht durch »seine Größe am Ufer festgehalten wird«.

– Mirate! Mirate! Das ist der österreichische Botschafter!

– Nein, der englische Gesandte!

– Seht doch sein Wappen, eine Art Adler!

– Mir scheint es ein anderes Tier, und übrigens erkenne ich die berühmte Inschrift: Gott und mein Recht.

– Ah! Ah! Der spanische Konsul mit seinem treuen Sancho. Rosinante sieht nicht danach aus, als ob sie von der Wasserpromenade gerade erbaut wäre.

– Was! Der auch? Der Repräsentant Frankreichs.

– Warum nicht? Der Greis im Kardinalpurpur, der ihm folgt, ist wohl Napoleons Onkel mütterlicherseits.

– Und der kleine Mann mit dem runden Bauch und dem boshaften Lächeln, der gern würdevoll aussehen möchte?

– Das ist ein Mann von Geist, Herr Beyle, der ein »Leben Rossinis« unter dem Pseudonym Stendahl geschrieben hat und zugleich die ärgerlichsten Dummheiten über Musik, für die er Verständnis zu haben glaubte. der über die schönen Künste schreibt; eigentlich ist er Konsul von Cività-Vecchia, glaubt es aber der »Fashion« schuldig zu sein, seinen Posten am Mittelmeer aufzugeben, um sich in einer Kutsche um die Traufe des Navone-Platzes schaukeln zu lassen. Er denkt gerade über ein neues Kapitel für seinen Roman »Rot und Schwarz« nach.

– Mirate! Mirate! Da ist unsere berühmte Vittoria, eine Fornarina im kleinen (nicht so ganz im kleinen), die sich heute in Gala zeigt, um sich von den Lasten des Alltags in den Ateliers der Akademie zu erholen. Sie gleicht auf ihrem Wagen der schaumgeborenen Venus. Achtung! die Tritonen des Navoneplatzes, die sie alle kennen, setzen gerade ihre Muscheln an, um ihr im Vorübergehen einen Triumphmarsch zu blasen. Rette sich, wer kann!

– Welch ein Geschrei! Was gibt's denn? Ein bürgerlicher Wagen ist umgefallen! Ja, ich erkenne unsere dicke Tabaksverkäuferin aus der Condottistraße. Brava! Sie landet schwimmend, wie Agrippina in der Bucht von Puzzuoli, und gibt ihrem kleinen Jungen die Rute, um ihn über das Bad zu trösten. Die Pferde sind aber keine Seepferde, sie sträuben sich gegen das schmutzige Wasser. Ach! Vivat hoch! Eines ist ertrunken! Agrippina rauft sich die Haare! Die Heiterkeit der Umstehenden verdoppelt sich! Die Gassenbuben bewerfen sie mit Orangenschalen usw. usw. Gutes Volk, wie rührend sind deine Belustigungen! Wie liebwert deine Erholungen! Wieviel Poesie liegt nicht in deinen Spielen! Wieviel Würde, wieviel Anmut in deinen Freuden! O ja! Die großen Kritiker haben recht: »Die Kunst für alle!« Wenn Raffael seine göttlichen Madonnen malte, so tat er es, weil er die schwärmerische Liebe der Menge für das Ideal der Schönheit, Keuschheit, Reinheit kannte; wenn Michelangelo seinen unsterblichen Moses dem Marmor abrang, wenn seine mächtigen Hände einen erhabenen Tempel errichteten, so geschah es zweifellos, um das Bedürfnis nach seelischer Erhebung zu stillen, das in den Herzen der Menge glüht; daß Tasso und Dante sangen, geschah, um die Flammen der Poesie zu nähren, die jene verzehrt. Ja, Fluch über alle Werke, die den Beifall der Massen nicht finden! Denn wenn diese sie verwerfen, so ist der Grund in ihrer Wertlosigkeit zu suchen! Wenn diese sie verachten, so kommt es daher, weil sie verachtungswürdig sind, wenn diese sie in aller Form durch ihr Pfeifen ächten, so ächtet nur auch den Autor, denn es hat ihm an Ehrfurcht vor dem Publikum gefehlt, dessen große Einsicht er geschmäht, dessen tiefe Empfindsamkeit er gekränkt hat; an den Galgen mit ihm!


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