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64.

Wien.

 

An Humbert Ferrand

Ich komme wieder aus Deutschland zurück, mein lieber Humbert, und, kaum angekommen, fühle ich das Bedürfnis, Ihnen Rechenschaft zu geben über meine Taten. Sie sind mir so oft in der Hitze des Kampfes beigestanden, haben mich in Stunden der Entmutigung wiederaufgerichtet, mich auf die Zukunft vertröstet, die Sie mit der Vergangenheit verglichen; Sie haben ein so lebhaftes, erlesenes Verständnis für das Schöne, eine so religiöse Verehrung des Wahren, eine solche Überzeugung von der Größe und Macht der Kunst, daß, so hoffe ich, die Erzählung meiner Untersuchungen, Entdeckungen und meiner Erfahrungen in Europa Sie interessieren wird, daß sie schwerlich unter ein wohlwollenderes, noch unter ein verständigeres Patronat, als das Ihrige, gestellt werden kann. Trotz der ernsthaften Leidenschaften, die in Ihrem Herzen wohnen, trotz der Arbeiten, die Sie in dem Erdenwinkel vollbringen, den königliches Wohlwollen Ihnen als holde Zuflucht angewiesen, sind, ich weiß es, Poesie und Musik auch nicht einen Tag von Ihnen vergessen worden. Ihre Liebe zu den zwei göttlichen Schwestern war zu tief und rein, als daß sie veränderlich sein könnte, und ich bin sicher, daß Sie oft von der Höhe Ihrer Inselberge das Ohr den musikalischen und literarischen Nachrichten leihen, die der Nordwind Ihnen aus Paris zuweht. Und dennoch: wie düster und trübe erscheint mir Paris, vornehmlich nach dieser letzten Reise! Und wie beneide ich Sie in diesen Hundstagen um Ihre Träume voll Duft unter den großen Orangebäumen der Sardinischen Insel, um die nächtlichen Gesänge des Mittelmeers und selbst um die naiven Lieder Ihrer sardinischen Bauern, dieser Afrikaner Europas, dieser antiken Menschen der Gegenwart! Non nobis Deus haec otia fecit.

Ich finde unsere Hauptstadt vorwiegend von materiellen Interessen eingenommen, unaufmerksam und gleichgültig gegenüber dem, was Dichter und Künstler begeistert, skandal- und spottsüchtig, mit schrillem, trockenem Gelächter die Gelegenheiten begleitend, bei denen es diese seltsame Vorliebe befriedigen kann; ich rieche wieder den Gestank seiner höllischen Asphaltkessel, in den sich der scharfe Duft seiner schlechten Regiezigarren mischt, sehe wieder seine blasierten Gestalten, seine gelangweilten Gesichter, seine entmutigten Künstler, seine müden Intelligenten, das Gewimmel seiner Dummköpfe, seine erschöpften, ausgehungerten, sterbenden oder toten Theater; dieselbe barbarische Orgel spielt mir, wie ehedem, zur selben Stunde dasselbe barbarische Lied, ich höre barbarische Meinungen äußern und aufrecht erhalten, dieselben barbarischen Werke und Menschen preisen.

In Summa: all das erscheint mir als Ganzes recht traurig, und überdies bin ich nicht in einer geistigen Verfassung, die es mir in Regenbogenfarben erscheinen lassen könnte. Sie erinnern sich der verzweifelten Mißstimmungen, von denen wir in unsern Jünglingsjahren befallen wurden, am Morgen nach Bällen oder irgendwelchen Festlichkeiten, bei denen wir zugegen gewesen? Ein gewisses Unbehagen der Seele, ein unbestimmtes Herzeleid, ein grundloser Kummer, Leiden ohne Ursache, brennende Sehnsüchte nach dem Unbekannten, eine unaussprechliche Unruhe des ganzen Wesens – all das empfanden wir damals. Ich schäme mich, es einzugestehen, aber all das empfinde ich jetzt wieder. Ich bin wie am Morgen nach einem Feste, das mir die Fremden gegeben haben. Sie fehlen mir, die großen Orchester, die großen Chöre, die so voll Hingebung sind, so voller Temperament und Wärme, die ich alle Tage so freudig dirigierte; es fehlt mir dieses so prächtige, höfliche, glänzende, aufmerksame, enthusiastische Publikum; sie fehlen mir, die starken Erregungen der großen Konzerte, in denen man beim Dirigieren durch die tausend Stimmen des Orchesters und Chors zur Menge spricht; es fehlt mir das Studium der verschiedenen Eindrücke moderner Kunst auf ein vorurteilsfreies Auditorium – mit einem Wort: ich empfinde das Mißbehagen dieser Unbeweglichkeit nach so viel harmonischem Lärm derart, daß ich seit meiner Rückkehr nur einen Gedanken habe, eine Idee, die mich trotz allen Kämpfens Tag und Nacht beherrscht: mich einzuschiffen und eine Reise um die Welt zu machen. Und, ausgerechnet, wie wenn der Zufall sich gegen meine guten Absichten verschwören wollte, schickt er mir vorgestern die Probe aufs Exempel und läßt mich einem unserer alten Freunde begegnen, dem Virtuosen Halma, der schnurstracks aus Canton kommt! Urteilen Sie selbst, ob ich ihn ausfragte über China, die malaischen Inseln, das Kap Horn, Brasilien, Chile, Peru, die er besucht hat; mit welcher Begierde ich alle die seltenen und seltsamen Gegenstände prüfte, die er von dort mitgebracht hat! Ich zappelte ordentlich, und, wäre ich im Besitz eines Königreichs gewesen, ich hätte sicherlich das Wort Richards III. parodiert und ausgerufen: »Ein Königreich für ein Schiff!« Aber da ich weder Schiff, noch Königreich habe, so bleibe ich in diesem Städtchen, das sich, nach unserm liebenswürdigen Dichter Méry, von der Montblancstraße bis zum Faubourg Montmartre erstreckt, und das man Paris nennt. Dort gehe ich jeden Abend spazieren und wiederhole in allen erdenklichen Tonarten und Rhythmen den Vers des Ruy-Blas:

Bei Gott, man langweilt sich doch fürchterlich allhier!

Glücklicherweise hat das neue Sprüchwort: »Langeweile schafft Rat« nicht unrecht; es hat mir ein Mittel suggeriert, Paris zu vergessen, ohne es zu verlassen: in Gedanken die fernen Orte, die ich bereist, die fremden Künstler, die ich kennen gelernt, die Denkmäler, die ich besichtigt, die Einrichtungen, die ich studiert, wieder aufzusuchen – kurz: Ihnen zu schreiben, jedoch nur diejenigen Stunden und Tage zu wählen, an denen mich der Spleen verschont, um Sie selbst so wenig wie möglich zu langweilen. Aber wer weiß, ob Sie mich überhaupt lesen? Ich sehe Sie von hier aus, schlafend in einem Gehölz von Zitronenbäumen, wie der glückliche Greis des römischen Dichters, beim sanften Summen arbeitsamer Bienen, die aus den Blumen um Sie her sich Beute sammeln; ein Virgil oder Horaz liegt aufgeschlagen in Ihrer Hand, unsterbliche Poesie umgaukelt Ihren Schlaf, und Sie wissen mit meiner Prosa nichts anzufangen. Zum Glück weiß ich das Mittel, Sie aufzuwecken ohne Vorwürfe fürchten zu müssen; hören Sie: Ich will Ihnen von ... Gluck erzählen; von Gluck – hören Sie wohl? Von seinem Land, das ich besuchte, von Mozart und von Haydn und von Beethoven, die alle, wie Gluck, lange in Wien gelebt haben ... Ich wußte wohl, diese magischen Namen würden mir Verzeihung erwirken für meine ungestüme Anrede. Nun beginn ich.

An die Reise von Paris nach Wien sind mir nur zwei bemerkenswerte Erinnerungen geblieben: die an einen heftigen Schmerz (keinen moralischen; es gibt in dieser Erzählung durchaus keinen Roman; legen Sie sich daher nicht aufs Raten; es handelt sich um den ganz prosaischen Schmerz des Seitenstechens), der mich zwang, in Nancy zu verweilen, wo ich zu sterben vermeinte: ein ganz gewöhnliches Vorkommnis, denn wahrlich, man lebt ja nur dazu; die andere Erinnerung ist die an einen Gott, den ich durch das Fenster eines Augsburger Gasthauses bemerkte. Dieser wackere Mann, der gerade eine Art neues Christentum gegründet hatte, das sich in Bayern und Sachsen schon ziemlicher Beliebtheit erfreute, stieg in seinen Wagen, im Augenblick, da ihn mir der Wirt, bleich vor Aufregung, zeigte. Ich habe seinen Namen vergessen, aber er schien mir ein lebhaftes, intelligentes Gesicht zu haben und, alles in allem, das Wesen eines recht guten Teufels. Diese Reise, die ich, wie die italienischen, im Wagen machte, war um so länger, als bei meiner Ankunft das letzte Dampfschiff von Regensburg abgegangen war; so sah ich mich gezwungen, zwei Tage in dieser großen Kleinstadt zuzubringen, und hatte sodann das Ungemach, bis Linz die Donauufer entlang schwerfällig gekarrt zu werden, anstatt die Strömung des Flusses, wie von einer Wolke getragen, hinabzufliegen. Wieviele Jahrhunderte trennen diese beiden Arten zu reisen? Als ich Regensburg verließ, hätte ich mich für einen Zeitgenossen Friedrich Barbarossas halten können; als ich in Linz den Fuß auf die Brücke eines eleganten, schnellen Dampfschiffes setzte, befand ich mich wieder im Jahre 1845. Der Name dieser beiden Städte erinnert mich an eine Betrachtung, die ich oft angestellt habe über die alberne Sucht, mit der wir in Europa gewisse Städtenamen beim Übersetzen von einer Sprache in die andere entstellen oder verändern. Zum Beispiel sagen wir »Londres« anstatt London, und was nötigt die Italiener »Parigi« anstatt Paris zu sagen? Ich hatte auf dieser Reise eine Karte von Deutschland mit, die ich oft befragte; ich fand wohl Linz, weil wir in Frankreich die Güte haben, den Namen auszusprechen und zu schreiben wie die Deutschen, aber Ratisbonne konnte ich niemals entdecken, aus dem sehr einfachen Grunde, weil wir diesen Namen erfunden haben und er gar keine Ähnlichkeit mit Regensburg hat, der wirklichen Bezeichnung der Stadt, die ich suchte. Wir erweisen gewissen Namen, die viel schwieriger auszusprechen sind, die Ehre, sie unberührt zu lassen, und entstellen andere ohne zu wissen warum. Wir sagen die Namen Stuttgart, Karlsruhe, Darmstadt, Württemberg wie die, welche sie erfunden, und im nächsten Augenblick sagen wir Bavière anstatt Bayern, Munich anstatt München, Danube anstatt Donau! Aber wenigstens besteht eine entfernte Analogie zwischen diesen französischen Übersetzungen und den Originalwörtern, während zwischen Regensburg und Ratisbonne überhaupt keine vorhanden ist. Indessen würden wir es von den Deutschen recht abgeschmackt finden, wenn es ihnen einfiele, Lyon »Mittenberg« und Paris »Triffenstein« zu nennen.

In Wien gelandet, bekam ich sofort eine Vorstellung von der Leidenschaft der Österreicher für die Musik: einer der Zollbeamten, welcher die Ballen und Koffer prüfte, die aus dem Dampfschiff kamen, bemerkte meinen Namen und rief sogleich (versteht sich: auf französisch):

– »Wo ist er, wo ist er?«

– »Ich bin's, mein Herr.«

– »Oh, mein Gott, Herr Berlioz! Was ist Ihnen denn passiert? Seit acht Tagen erwarten wir Sie; alle unsere Zeitungen haben Ihre Abreise von Paris und Ihre bevorstehenden Konzerte in Wien angekündigt. Wir waren sehr beunruhigt, Sie nicht zu sehen.«

Ich dankte meinem biedern Zöllner und dachte im stillen, sicherlich werde ich den Zollbeamten an den Toren von Paris niemals dergleichen Unruhen verursachen.

Kaum hatte ich mich in der vergnüglichen Stadt Wien niedergelassen, als ich zum ersten jährlichen Konzert in der Reitbahn eingeladen wurde. Das Konzert wird zum Besten des Konservatoriums gegeben, und die ungeheure Menge der Mitwirkenden (es sind mehr als tausend) setzt sich fast ganz aus Liebhabern zusammen. Da die Regierung sehr wenig oder beinahe nichts für die Erhaltung des Konservatoriums tut, so war es billig, daß die wahren Freunde der Kunst dieser Einrichtung zu Hilfe kamen; aber gerade weil es mir vernünftig und schön vorkam, war ich aufs äußerste verblüfft darüber. Jedes Jahr zur selben Zeit stellt der Kaiser das ungeheure Lokal der Reitschule der Gesellschaft der Kunstfreunde zur Verfügung. Eine Inskriptionsliste für die Mitwirkenden liegt bei den Musikalienhändlern auf, und die Zahl der mehr oder weniger geschickten Dilettanten, Sänger oder Instrumentalisten ist in Wien so groß, daß man alljährlich über 500 zurückweisen muß, und daß man nur die Qual der Auswahl bei der Bildung dieses Chores von 600 Sängern und dieses Orchesters von 400 Instrumentalisten hat. Die Einnahme aus diesen Riesenkonzerten (es gibt ihrer immer zwei) ist sehr beträchtlich, da der Saal der Reitschule bei 4000 Personen faßt, trotz dem enormen Raum, den das Podium für die Mitwirkenden einnimmt. Indessen sind die Billets gewöhnlich nur beim ersten Konzert ausverkauft; das zweite ist weniger besucht, da sein Programm nur die Wiederholung des ersten darstellt. Zum großen Teil wären also die Wiener unfähig, dieselben Meisterwerke im Verlaufe von acht Tagen zweimal nacheinander ohne Langeweile anzuhören?

Das Publikum der ganzen Welt gleicht sich in diesem Punkte. Es ist richtig, wenn man sagt, die Stücke, aus denen sich das Programm dieser Musikfeste zusammensetzt, bestünden fast immer aus den bekanntesten Partituren der alten Meister, und das Publikum werde sehr wahrscheinlich mit ebensoviel Eifer zur ersten, als zur zweiten Aufführung kommen, wenn man hier irgendein neues Werk zu hören bekäme, das eigens für diesen Zweck und für die Masse der hier vereinigten Mitwirkenden geschrieben wäre. Und gerade das wäre ein musikalischer Vorschlag, der in hohem Maß Interesse verdiente. Zweifellos gewinnen Musikwerke großen Stils, wie die Oratorien von Händel, Bach, Haydn, Beethoven, viel, wenn sie durch große Massen wiedergegeben werden, aber bei alledem handelt es sich in diesem Falle um eine mehr oder minder starke Verdopplung der Stimmen; wenn dagegen ein Komponist, der die vielfältigen Verwendungsweisen einer derartigen Häufung von Mitteln kennt, mit Rücksicht auf ein kolossales Orchester und einen unermeßlichen Chor, wie die vorliegenden, schriebe, so müßte er notwendig etwas ebenso Neues im einzelnen, als Großartiges im ganzen zuwege bringen. Das hat man noch nicht versucht. In allen sogenannten monumentalen Werken sind Form und Ausführung im einzelnen dieselben geblieben. Man führt sie in weiten Räumen pomphaft auf, aber man könnte sie in einem kleineren Lokal mit einer kleinen Anzahl Mitwirkender zu Gehör bringen, ohne daß sie viel von ihrer Wirkung verlören. Sie fordern nicht gebieterisch eine ungewöhnliche Besetzung von Singstimmen und Instrumenten; und wenn diese Besetzung stattfindet, erhalten diese Werke nur eine stärkere dynamische Wirkung, und es kommt nichts Außergewöhnliches, noch Unerwartetes hinzu. Nichtsdestoweniger gestehe ich, daß mich das Konzert tief bewegt hat, besonders durch die Chorwirkung. Die Schönheit der Sopranstimmen erschien mir unvergleichlich und das allgemeine Zusammenspiel vortrefflich. Als ich auf dem Programm die Ouvertüre zur Zauberflöte von Mozart erblickte, fürchtete ich schon, dieses wundersame, rasch bewegte Stück aus so dichtem und zart gearbeitetem Gewebe könne von einem so umfangreichen Orchester nicht gut wiedergegeben werden; aber meine Beunruhigung war von kurzer Dauer, und das Orchester (ein Dilettantenorchester) spielte sie mit einer Präzision und Begeisterung, die man selbst unter Künstlern nicht oft findet.

Eine Motette von Mozart, eine andere von Haydn, eine Arie aus der Schöpfung, die soeben erwähnte Ouvertüre und das Oratorium »Christus am Ölberg« bildeten das Programm.

Staudigl und Frau Barthe-Hasselt sangen die Soli.

Staudigl hat einen samtenen, saftigen, zugleich süßen und kraftvollen Baß, der sich durch zwei Oktaven und zwei Töne darüber erstreckt (vom tiefen E bis zum hohen g), den er niemals herausstößt, sondern natürlich hervorquellen und anwachsen läßt ohne die mindeste Anstrengung; er reicht selbst für einen Saal vom Umfang der Reitschule aus. Diese Stimme wirkt an sich lebhaft ergreifend, obwohl der Künstler selbst im allgemeinen wenig ergriffen ist; sie rührt und bezaubert. Staudigl, der alles mit der Einfachheit des guten Geschmackes singt, die den Virtuosen eignet, welche den großen Stil vollkommen inne haben, beherrscht übrigens bequem Koloratur und Läufe von einer gewissen Geschwindigkeit. Endlich versteht er die Musik von Grund auf und liest auf den ersten Blick alles, was man ihm reicht, so unverwirrbar sicher, daß diese außerordentliche Leichtigkeit mitunter sogar ärgerliche Ergebnisse zeitigt. Staudigl setzt ein wenig Ehrgeiz darein, sich damit zu zeigen, und wirft infolgedessen niemals einen Blick auf ein Stück, das er nicht auswendig zu singen braucht, ehe er vor dem Orchester erscheint. Wenn also eine Hauptprobe angesetzt ist, kommt er, nimmt sein Heft, das er noch nicht gesehen hat, und singt geläufig Text und Musik, ohne ein Wort oder einen Ton zu verfehlen. Er liest das wie ein Buch, das ihm einer zum erstenmal in die Hand gäbe, aber er liest es nicht besser, und just dieses »besser« ist unerläßlich in einer Hauptprobe, wo es sich nicht allein um buchstäbliche Genauigkeit, sondern überdies um verständnisvolle, lebhafte, beseelte Wiedergabe des Werkes eines Komponisten handelt. Wie soll nun dieses Feuer, diese Seele, dieses Leben zur Geltung kommen, bei einer Lektüre dieser Art, wo vom Ausführenden nichts vorbereitet ist, wo ihm der allgemeine Charakter, die Schattierungen, ja die Tempi der Komposition noch unbekannt sind? Dieser leichte Tadel, nicht des Talentes, sondern der Gewohnheiten des großen Künstlers, wurde zu Wien in meiner Gegenwart von Komponisten geäußert, die bei wichtigen Gelegenheiten manchesmal durch ihn beunruhigt worden waren. Ludwig XVIII. sagte: »Man muß nicht königlicher gesinnt sein als der König!« Zu Staudigl könnte man sagen: »Man muß nicht musikalischer sein wollen, als die Musik.« Die Arie in D-Dur aus der Schöpfung, die er im Konzert in der Reitschule sang, begeisterte die ganze Zuhörerschaft, und Staudigl, der schon im Begriff stand, den Saal zu verlassen, wo seine Gegenwart, seinem Gehaben nach, nicht mehr notwendig war, sah sich genötigt umzukehren und von vorn zu beginnen. Staudigl ist zugleich erster Sänger und Regisseur des Theaters an der Wien, das von Herrn Pockorny mit ebensoviel Geschick als Rechtlichkeit geleitet wird. Seine prächtige Baßstimme gehört, trotz der ausgesuchten Schönheit ihres Timbres, nicht zu den empfindlichen Stimmen, die von den Künstlern, in deren Besitz sie sind, hygienische Vorsichtsmaßregeln und besondere Pflege verlangen; ganz im Gegenteil erlaubt sich Staudigl zur strengsten Winterszeit ganze Tage im Schnee zu jagen – seiner Gewohnheit nach mit nacktem Hals – und kehrt abends zurück, um den Bertram, Marcell oder Kaspar zu singen, ohne die geringste stimmliche Indisposition. Dieses Theater an der Wien, so genannt nach dem Namen des Flüßchens, an dem es liegt, ist seit kaum drei Jahren eröffnet und macht bereits so bedeutende Fortschritte, daß es seinen Konkurrenten, das Kärntnertortheater, in schwere Verlegenheit bringt; ihm streben fast alle berühmten Künstler zu, die sich in Wien hören lassen wollen. Hier debütierten im Winter 1846 Pischek und kurz darnach Jenny Lind. Und Gott weiß, welche Begeisterungswut sie alle beide entfachten und welch eine fabelhafte Einnahme sie dort erzielten.

Der Chor ist nicht gerade zahlreich, hat aber viel Kraft; er besteht fast ganz aus jungen Leuten beiderlei Geschlechts, deren Stimmen frisch und klangvoll sind. Sie lesen nicht alle gut vom Blatt. Das Orchester, das man, seit meiner Ankunft, mir gegenüber stark herabgesetzt hatte, dürfte zweifellos nicht auf gleicher Höhe mit dem des Kärntnertortheaters stehen, von dem ich bald erzählen werde, aber trotzdem ist es gut, und die jungen Künstler, aus denen es besteht, sind erfüllt von jenem Eifer und guten Willen, die bei Gelegenheit Wunder wirken. Im Ensemble der Sänger fiel mir eine Frau durch ihre schätzenswerte Begabung für zarte, leidenschaftliche Rollen auf, deren Namen ich leider nicht anführen kann, da er mir entschlüpft ist trotz all meiner Bemühungen, ihn festzuhalten. Sie war hervorragend als Agathe im Freischütz.

Außerdem muß ich Fräulein Treffs nennen, eine graziöse Sängerin, und die Primadonna Fräulein Marra, ein zugleich zügiges und anmutiges Talent mit brillanter, beweglicher Stimme, wenngleich sie gegen gewisse Koloraturen rebelliert; sie ist aber unglücklicherweise sehr wenig musikalisch und begeht infolgedessen manchmal schwere Taktfehler, die geeignet sind, ein Ensemble umzuwerfen, trotz aller Umsicht und Gewandtheit der Dirigenten. Fräulein Marra ist bedeutend in Donizettis Lucia; sie hat diesen Winter auch schöne Erfolge in Norddeutschland und in einigen russischen Städten gehabt.

Aber die Tenöre, die Tenöre! Hier ist die schwache Seite des Theaters an der Wien, wie gegenwärtig fast aller Theater der Welt; und ich fürchte wohl, daß Herr Pockorny, trotz seinen Anstrengungen, nicht so bald diese Lücke in seinem Personal ausfüllen wird.

Das Kärntnertortheater ist in diesem Betreff glücklicher; es besitzt Erl, einen hohen Tenor mit Heller Stimme. Er ist ein wenig kühl und hat mehr Glück in ruhigen Stücken, als in leidenschaftlichen Szenen, eignet sich besser fürs rein Musikalische, als für den dramatischen Gesang. Dieses Theater wird von einem Italiener, Herrn Balochino, geleitet; Stadt und Hof, Künstler und Kunstfreunde urteilen sehr streng über seine Verwaltung. Ich kann die Gründe dieser Verwerfung nicht beurteilen; sie schien mir die Entfremdung des Publikums vom Theater zur Folge zu haben, trotz den scharfsinnigen Bemühungen eines so hervorragenden Künstlers, wie Nicolai, der dort den ganzen musikalischen Betrieb unter sich hat, der Herrn Balochino, als dem Direktor eines lyrischen Theaters, notwendig fremd sein muß. Es ist schon viel, daß Herr Balochino keine Schneider Er war selbst Schneider, hat man mir gesagt. als Kontrabassisten genommen hat und daß er auf den Gedanken kam, für das Violinspiel Geiger zu engagieren. Auch in Frankreich unterwirft man sich fast immer der grausamen Notwendigkeit, zum Musizieren Musiker zu verwenden; aber man beschäftigt sich dort mit der Lösung des Problems, sich ihrer ganz zu entledigen.

Außer einem sehr schönen tiefen, vibrierenden Baß hat Herr Balochino noch die Sängerin, deren Namen ich früher erwähnte, Frau Barthe-Hasselt, in seinem Ensemble. Sie ist ein ausgesprochen musikalisch-dramatisches Talent ersten Ranges. Der Stimme der Frau Hasselt fehlt es ein wenig an Frische, aber sie hat einen großen Umfang, ungewöhnliche Kraft, ist sehr rein und rührend im Klang, vielleicht gerade weil sie etwas verschleiert ist. Ich habe Frau Hasselt auf wirklich sieghafte Weise die so schwierige wie schöne Sopranarie aus Oberen singen hören. Ich glaube nicht, daß unter hundert Primadonnen eine imstande wäre, mit so viel Treue, Feuer, Größe und Kühnheit Webers leidenschaftglühende Szene wiederzugeben. Am Schlusse des letzten Allegro, nach dem Freudenausbruch der Geliebten Hüons, trat ein wahrer Kampf zwischen Orchester und Sängerin ein. Frau Hasselt ging mit Ehren daraus hervor, ihre tragkräftige Stimme drang durch den Sturm der Instrumente und schien ihm zu trotzen, ohne daß ihr indessen die kleinste Übertreibung oder Unsicherheit in der Tongebung entschlüpft wäre. Der Eindruck, den ich von dieser Ausführung der Oberonszene im Konzertsaal empfing, ist einer der lebhaftesten, deren ich mich entsinnen kann. Einige Zeit darnach bot sich mir die Gelegenheit, die Vorzüge von Frau Hasselt als Tragödin kennen zu lernen; das war in Nicolais Oper »Der Verbannte«, deren letzter, in jeder Hinsicht bewundernswerter Akt Nicolai nach meiner Ansicht einen sehr hohen Rang unter den Komponisten anweist.

In dieser Oper, nach einem Drama von Friedrich Soulié, glaubt eine Frau ihren Mann im Exil gestorben und heiratet einen andern, den sie liebt. Bei der Wiederkehr ihres ersten Gatten, den sie achtet, ohne ihn jemals eigentlich geliebt zu haben, sieht sie sich genötigt, den zweiten um seinetwillen aufzugeben. Ihre Kräfte reichen nicht aus zur Erfüllung dieser schrecklichen Pflicht. Entschlossen, sich ihr zu entziehen, vergiftet sich die Unglückliche, nachdem sie die beiden Rivalen versöhnt, und stirbt, die vereinten Hände der beiden ans Herz drückend. Frau Hasselt spielte und sang diese Rolle als vollendete lyrische Tragödin, und ich fand in ihr den schönen seelischen Schwung wieder, die wohlbedachten Vorbereitungen im Verein mit plötzlicher Eingebung, die vor vierzig Jahren den Ruhm der Frau Branchu mit Fug und Recht in Frankreich begründet haben.

Ach, mein lieber Humbert! sie verschwinden auch allmählich wie die Tenöre, die tragischen Sängerinnen, ohne die das lyrische Drama verloren ist. Wenn man sieht, wie die Künstler, welche fähig sind, die großen, edeln Leidenschaften des menschlichen Herzens mit den Mitteln unserer Kunst wiederzugeben, selten und seltener werden, möchte es scheinen, diese Leidenschaften seien eine Erfindung der Dichter und Musiker, und nachdem die Natur ausnahmsweise einige Wesen mit der Fähigkeit, jene zu verstehen und auszudrücken, hervorgebracht, weigere sie sich jetzt, neue zu erschaffen, da sie ja doch nur ein zum Menschengeschlechte nicht gehöriger Luxus seien.

 

Das soll nicht heißen, große und umfangreiche Sopranstimmen seien, wie die echten Tenöre, unbezahlbare Diamanten. Nein, schöne Frauenstimmen finden sich noch, selbst gut geschulte, aber wozu taugen diese Instrumente, wenn sie nicht von Empfindung, Verständnis, Begeisterung beseelt werden? Die wirklichen, vollkommenen dramatischen Talente meinte ich. Wir finden ein gut Teil Sängerinnen, die beim Publikum in Gunst stehen, weil sie auf brillante Art brillante Nichtigkeiten singen, und die von großen Meistern verachtet sind, weil sie unfähig wären, ihre Werke würdig darzustellen. Sie haben Stimmen, musikalische Kenntnisse, eine bewegliche Kehle, aber es fehlt ihnen an Seele, Hirn und Herz. Solche Frauen sind wahre Ungeheuer und um so schrecklicher für die Komponisten, als diese Ungeheuer oft bezaubernd sind. Das erklärt die Schwäche vieler Meister, Rollen von falscher Empfindsamkeit zu schreiben, die das Publikum durch den Glanz ihrer Erscheinung verblenden; das erklärt auch die Bastardwerke, die wir entstehen sehen, den Niedergang des Stiles von Stufe zu Stufe, den Verfall des Sinnes für Ausdruck, das Außerachtlassen dramatischer Wohlanständigkeit, die Verachtung des Wahren, Großen, Schönen, den Zynismus und die Greisenhaftigkeit der Kunst in gewissen Ländern.

Ich habe Ihnen noch gar nichts vom Orchester, noch von den Chören des Kärntnertortheaters gesagt. Sie sind ersten Ranges; vor allem hat das von Nicolai ausgesuchte, geschulte und dirigierte Orchester wohl seinesgleichen, wird aber von keinem übertroffen. Außer der Sicherheit, dem Temperament, äußerster technischer Geschicklichkeit, hat dieses Orchester eine auserlesene Schönheit des Klanges, die ohne Zweifel von der strengen Reinheit der Stimmung in den einzelnen Instrumentengruppen herrührt, ebenso wie von der Abwesenheit jeder falschen Intonation in irgendeiner Stimme. Man weiß nicht, wie wenig allgemein dieser Vorzug ist und welches Unheil durch Mangel an Reinheit, den man für so selten hält, in den Orchestern entsteht, selbst bei den in anderer Beziehung vortrefflichen. Das Orchester des Kärntnertortheaters kann alle Gesangstilarten begleiten; es weiß hervorzutreten, wenn ihm die Hauptrolle zugedacht ist, seine Forte-Stellen sind niemals lärmend, wenigstens solange es nicht eine jener elenden Notenklexereien vorzutragen hat, die es dann zwingen, ebenso schlecht zu spielen, als der Autor schreibt. Es ist untadelhaft in der Oper, sieghaft in der Sinfonie, und, um den Lobeserhebungen ein Ende zu machen: in diesem Orchester fehlen jene eiteln, aufgeblasenen Künstler gänzlich, die gerechte Ausstellungen zurückweisen, jede Vergleichung zwischen ihnen und fremden Virtuosen als einen Schimpf ansehen und Beethoven zu ehren vermeinen, wenn sie ihn aufzuführen geruhen.

Nicolai hat Feinde in Wien; das ist ärgerlich für die Wiener, denn ich betrachte ihn als einen der vortrefflichsten Orchesterdirigenten, denen ich jemals begegnet bin und als einen jener Männer, deren Einfluß hinreicht, die Stadt, in der sie wohnen, auf ein ersichtlich höheres musikalisches Niveau zu heben, wenn man sie mit Elementen umgibt, deren sie bedürfen, um ihre Fähigkeit und Intelligenz zu offenbaren. Nicolai besitzt meines Erachtens die drei unerläßlichsten Bedingungen zu einem vollendeten Orchesterleiter: er ist ein gebildeter, geübter und begeisterungsfähiger Komponist; er hat Sinn für alle rhythmischen Erfordernisse, besitzt eine vollkommen klare, präzise Technik des Taktschlagens, und schließlich ist er ein erfinderischer, unermüdlicher Organisator, den weder Zeit noch Mühe auf den Proben reut und der weiß, was er tut, weil er nichts tut, als was er weiß. Daher die ausgezeichneten moralischen und materiellen Verhältnisse, das Zutrauen, die Folgsamkeit, die Geduld, die wunderbare Sicherheit und Einheit im Zusammenspiel, die das Kärntnertororchester auszeichnet.

Die geistvollen Konzerte, die Nicolai alljährlich im Redoutensaal gibt und dirigiert, bilden ein würdiges Gegenstück zu unsern Pariser Konservatoriumskonzerten. Dort hörte ich die Szene aus Oberon, von der ich Ihnen sprach, sowie die Arie aus Iphigenie auf Tauris: »Vereint seit zarter Kindheit Tagen«, von Erl ziemlich traurig gesungen, eine schöne Sinfonie von Nicolai und Beethovens wundervolle, unvergleichliche Sinfonie in B-Dur. Alles das wurde mit jener Wärme und Treue gespielt, jener Vollendung im einzelnen und Wucht im großen, die, für mich wenigstens, aus einem solchen, so geleiteten Orchester das schönste Produkt moderner Kunst macht und die wahrhafteste Verkörperung dessen, was wir heute »Musik« nennen.

In diesem großen, schönen Redoutensaale ließ Beethoven vor dreißig Jahren seine Meisterwerke hören, die jetzt von ganz Europa angebetet werden, aber damals von den Wienern mit tödlicher Kälte aufgenommen wurden. Der Graf Michel Wielhorski hat, wie er mir sagte, im Jahre 1820, und zwar als fünfzigster, der Aufführung der A-Dur-Sinfonie beigewohnt!!! Die Wiener drängten sich damals zu den Vorstellungen der Opern Salieris! ... Arme Menschlein, für die ein Koloß geboren ward! ... Die Zwerge sind ihnen lieber.

Sie begreifen, mein lieber Humbert, daß mir die Knie zitterten, als ich zum ersten Male auf dieses Podium stieg, das ehemals sein Fuß betrat. Nichts ist seit Beethovens Tagen verändert; das Dirigentenpult, dessen ich mich bediente, war das seine; dort ist der Platz, den das Klavier einnimmt, auf dem er phantasierte; diese Treppe, die zum Künstlerzimmer führt, ist dieselbe, die er wieder hinabstieg, wenn, nach der Aufführung seiner unsterblichen Tondichtungen, einige enthusiastische Hellseher sich die Freude machten, ihn durch begeisterten Applaus herauszurufen, zur großen Verwunderung der anderen Zuhörer, die aus müßiger Neugier hergekommen waren und in seinem erhabenen Geistesfluge nichts als die krampfhaften Gesten und brutalen Ausschweifungen einer überhitzten Phantasie erblicken. Manche stimmten im stillen den Enthusiasten bei, aber wagten nicht, sich ihnen anzuschließen. Sie wollten der öffentlichen Meinung nicht vor den Kopf stoßen. Man mußte abwarten. Und unterdessen litt Beethoven. Wievielmal ist dieser Christus unter Pontius Pilatus gekreuzigt worden!!!

Der große Redoutensaal ist für Musik sehr geeignet. Es ist ein Parallelogramm, aber seine Ecken erzeugen kein Echo. Es gibt nur ein Parkett und eine Galerie. In einem meiner Konzerte, die ich dort gab, wollte sich der berühmte Sänger Pischek zum ersten Male in Wien hören lassen. Ich war hocherfreut über seinen Vorschlag, da ich ihn vor drei Jahren in Frankfurt kennen gelernt und bewundert hatte. Er wählte für jenen Tag Uhlands Ballade »Des Sängers Fluch« mit der Musik von Esser, die ihm sehr günstig liegt. Da dieses Stück vom Klavier begleitet wird, so bat ich Seymour-Schiff, einen geschickten, tüchtigen Pianisten, ihn zu begleiten; als echter Künstler willigte er ein. Wir gingen also miteinander zu Pischek, um seine Ballade durchzunehmen. Ich brauche nicht erst zu sagen, daß es sich hier nicht um eine jener musikalischen Kindereien handelte, die wir in Paris Balladen nennen; die von Uhland ist ein Gedicht von einer gewissen Ausdehnung, das der Komponist in Schuberts Manier breit behandelt hat, und Essers Werk, das im wesentlichen mannigfaltig, kraftvoll und dramatisch ist, gleicht nicht im geringsten unsern kleinen Couplets, die mit einem altväterischen Anstrich mehr oder minder wohl versehen sind. Ich wüßte den Eindruck nicht zu beschreiben, mein lieber Humbert, den Pischeks unvergleichliche Stimme und zitternde Begeisterung auf mich übten, so große Fortschritte hatte er seit drei Jahren gemacht. Es war eine Art Rausch, einigermaßen ähnlich demjenigen, in den Duprez das Publikum der Oper versetzte, als er im »Wilhelm Tell« debütierte! Man hat keine Vorstellung von der Schönheit, der Kraft dieses Bariton, von der Fülle seiner Brusttöne, der entzückenden Weichheit seiner Kopftöne, seiner Beweglichkeit und Gewalt. Übrigens ist sein Umfang beträchtlich; die freie Bruststimme reicht vom tiefen As bis zum hohen As. Und welch heißer Atem beseelt das seltene Instrument! welche Leidenschaft, manchmal weise gemäßigt, manchmal alle Bande sprengend! Wie erkennt man, Pischek hörend, schnell den Künstler, den echten Musiker! Er erregt seine Hörer und beruhigt sie nach Belieben, bezaubert sie, reißt sie mit. Die Begeisterung, mit der er seine Ballade sang, ergriff mich bei den ersten Takten; ich fühlte mich bis zu den Augen erröten; meine Adern klopften zum Zerspringen und, toll vor Freude, rief ich: »Das ist Don Juan, Romeo, Cortez!« Pischek ist überdies von vorteilhaftem Äußern; von hohem, ebenmäßigen Wuchs, von lebhaften, beseelten Zügen. Er liest unerschrocken vom Blatt, ist sehr stark im Klavierspiel und im Kontrapunkt geübt genug, um im fugierten Stil über das erste beste Thema zu phantasieren. Es ist für unsere Pariser Oper wirklich beklagenswert, daß Pischek kein Wort französisch kann. Im Jahre 1810, glaube ich, zu Prag geboren, war die erste Sprache, die er redete, das Böhmische; darauf lernte er deutsch, später italienisch, jetzt treibt er das Englische, und auf englisch wird er auch diesen Winter in London singen.

Sein Erfolg mit der Ballade von Esser in meinem Konzert war spontan und allgemein. Eine Romanze, die er auf Verlangen des Publikums sang und überdies selbst begleitete, brachte das Auditorium vollends von Sinnen. Man konnte wirklich nichts Köstlicheres hören. Wenige Tage später trat er im Theater an der Wien auf, zuerst in Lortzings Zar und Zimmermann, dann in den Puritanern, wo ihm das berühmte Duett Gelegenheit gab, mit Staudigl zu wetteifern. Er sollte Don Juan singen, als ich nach Prag abreiste; ich bedauerte lebhaft, ihn in dieser Rolle des Heros der Verführung und Tollkühnheit nicht hören zu können, für die er, davon bin ich überzeugt, wie geschaffen ist. Pischek hat indessen in Wien, und unter trefflichen Köpfen, strenge Kritiker gefunden, die seinem Gesang Affektation und Manieriertheit vorwarfen. Ich gestehe, niemals etwas an ihm bemerkt zu haben, das mir diesen schweren Vorwurf zu verdienen schien, der übrigens auch oft gegen Rubini ausgesprochen wurde. Und ich wiederhole, daß, wenn es Pischek gelänge, das Französische vollkommen zu beherrschen (was ich heute nicht mehr für möglich halte), und wenn man für ihn eine zugleich glänzende und leidenschaftliche Rolle schriebe, er das Publikum der Oper nach Lust auf den Kopf stellen könnte und die Pariser seine Sklaven wären.

Der Redoutensaal leitet seinen Namen von großen Bällen her, die dort in der Wintersaison häufig stattfinden. Dort gibt sich die Wiener Jugend der Leidenschaft des Tanzens hin, einer wahrhaften, anmutigen Leidenschaft, die den Österreicher dazu trieb, aus dem Salontanz eine wirkliche Kunst zu machen, die ebenso hoch über unserer Ballroutine steht, als die Walzer und das Orchester von Strauß den Pariser Polkas und Bierfiedlern überlegen ist. Ich habe ganze Nächte damit zugebracht, diese Tausende unvergleichlicher Tänzer wirbeln zu sehen, die choreographische Ordnung dieser Kontratänze zu bewundern, wo zweihundert Personen auf nur zwei Linien verteilt sind, ebenso die pikante Physiognomie der Charaktertänze, deren Eigenart und Präzision ich nur in Ungarn übertroffen fand. Und dann ist noch Strauß da, an der Spitze seines wackeren Orchesters; und wenn die neuen Walzer, die er eigens für jeden fashionablen Ball schreibt, Erfolg haben, halten die Tänzer bisweilen inne, um Beifall zu klatschen, die Damen nähern sich dem Podium, werfen ihm ihre Buketts zu, man schreit » bis« und ruft ihn am Ende der Quadrillen hervor. So ist der Tanz nicht eifersüchtig und gönnt der Musik ihr Teil an der Freude und an dem Erfolg. Das ist gerecht; denn Strauß ist ein Künstler. Noch würdigt man den Einfluß nicht genug, den er auf das musikalische Empfinden von ganz Europa schon ausgeübt hat, indem er das Spiel kontrastierender Rhythmen in die Walzer einführte, deren Wirkung so pikant ist, daß die Tänzer selbst sie schon nachahmen wollten durch die Erfindung des zweizeitigen Walzers, währenddessen die Musik den dreiteiligen Rhythmus beibehält. Wenn es außerhalb Deutschlands glückt, dem großen Publikum das Verständnis für den eigenen Reiz zu erschließen, der in gewissen Fällen von der Gegenüber- und Übereinanderstellung verschiedenartiger Rhythmen ausgeht, so wird man das Strauß zu danken haben. Die Wunder Beethovens dieser Art stehen zu hoch und haben bis jetzt nur auf gebildete Hörer gewirkt: Strauß dagegen wendet sich an die Menge, und seine zahlreichen Nachahmer müssen ihm, nachahmend, helfen.

Die gleichzeitige Anwendung verschiedener Takteinteilungen und synkopische Betonungen der Melodie, selbst auf eine beständig regelmäßige, gleichbleibende Weise, ist für den einfachen Rhythmus das, was das Zusammenspiel selbständig geführter Stimmen gegenüber homophonen Akkorden, ich möchte sogar sagen: was die Harmonie ist gegenüber dem Unisono und der Oktave. Aber hier ist nicht der Ort, diese Frage tiefer zu begründen; ich wagte sie schon vor mehr als zwölf Jahren in einer Studie über den Rhythmus zu erörtern, die mir den Bannfluch einer Menge von Leuten eintrug, deren Mehrzahl sicherlich keine Vorstellung davon hatte, was ich eigentlich sagen wollte. Sie wissen, mein Freund, daß Frankreich, ohne in diesem Betreff eben so weit zurück zu sein, wie Italien, noch immer der Herd des Widerstandes gegen den Fortschritt der rhythmischen Emanzipation ist.

Erst heute beginnt ein sehr kleines Publikum in Paris, kraft seiner durch das Konservatorium vermittelten Bekanntschaft mit Weber und Beethoven, zu argwöhnen, die durchgehende Anwendung eines einzigen Rhythmus habe Eintönigkeit und manchmal sogar ungeheure Plattheiten im Gefolge. Aber ich habe nicht mehr die geringste Lust, die Rückständigen mit dieser Materie zu quälen. Unsere französischen Bauern singen nur im Unisono. Ich bin heute fest überzeugt, daß, wenn jemals die enragierten Parteigänger des einfachen Rhythmus, der achttaktigen Perioden und der ausschließlichen Betonung des guten Taktteils durch die große Trommel, – wenn sie je dahin gelangen, die »Harmonie der Rhythmen« zu verstehen und zu lieben, daß dies wohl erst am Tage geschehen wird, wo die Bauern sich zum sechsstimmigen Gesang aufgeschwungen haben werden. Das heißt soviel, als: sie werden nie dahin gelangen. Lassen wir sie also bei ihren primitiven Ergötzungen.

An einem jener nächtlichen Feste war ich in schwermütige Träumerei versunken (denn die Walzer von Strauß mit ihren sengenden Melodien, die dem Schrei der Liebe gleichen, haben die Gabe, mich tief traurig zu stimmen) – ich träumte, sage ich, während eines dieser glitzernden Bälle voll strahlenden Lächelns vor mich hin, als ein kleiner Mann mit geistvollen Zügen die Menge teilte und sich mir näherte; es war am Tag nach einem meiner Konzerte.

– »Mein Herr,« sagt er lebhaft zu mir, »Sie sind Franzose, ich bin Irländer; mein Urteil ist also in keiner Weise durch nationalen Ehrgeiz beeinflußt; daher« – hier ergriff er meine linke Hand – »bitte ich Sie um Erlaubnis, die Hand drücken zu dürfen, die den ›Romeo‹ geschrieben. Sie verstehen Shakespeare!«

– »In diesem Falle«, versetzte ich, »täuschen Sie sich in der Hand; ich schreibe stets mit dieser

Der Irländer lächelte, nahm die rechte Hand, die ich ihm darbot, schüttelte sie sehr herzlich und entfernte sich mit den Worten:

»Oh, die Franzosen, die Franzosen! Ueber alles müssen sie sich lustig machen und über alle, selbst über ihre Bewunderer!«

Ich habe nie erfahren, wer dieser liebenswürdige Insulaner war, der meine Sinfonien für Töchter linker Hand hielt.

Ich habe Ihnen noch nichts von jenem bewunderungswürdigen Ernst erzählt, der zu dieser Zeit so viel Aussehen in Wien erregte; ich behalte mir vor, im Bericht meiner russischen Reise von ihm zu erzählen; denn ich fand ihn zu St. Petersburg wieder, wo sein wunderbarer Erfolg immer höher stieg. Er ruht in diesem Augenblick am Gestade des Baltischen Meeres aus, um bei ihm in die Schule des Großartigen und der erhabenen Akzente zu gehen. Ich hoffe sehr, ihm in irgendeinem Erdenwinkel wieder zu begegnen; denn Liszt, Ernst und ich, wir sind, glaub ich, unter den Musikern die drei größten Vagabunden, die von der »Lust des Schauens und dem Geist der Unruhe« jemals aus ihrem Lande vertrieben wurden.

Es bedarf eines so gewaltigen Talentes, wie das von Ernst, um in einer Stadt, wie Wien, in der man so viele vorzügliche Violinisten hört und die noch dazu so bedeutende besitzt, auch nur die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ich rechne unter diese in erster Linie Mayseder, dessen großer und wohlverdienter Ruf seit langem feststeht; den jungen Joachim, Joachim ist jetzt der erste Geiger Deutschlands, vielleicht Europas, und ein vollendeter Künstler. dessen Name gewichtig zu werden beginnt, und Helmesberger den jüngeren (den Konzertmeister am Kärntnertor). Mayseder ist ein glänzender Geiger, korrekt, elegant, untadelhaft, immer Herr seiner selbst; die beiden andern, namentlich Joachim, sind Brauseköpfe, verwegen, wie man es in ihrem Alter ist, begierig nach neuen Effekten, von unbezähmbarer Energie, und glauben kaum ans Unmögliche. Mayseder ist das Haupt des vorzüglichen Quartettes des Fürsten Czartoryski; der zweite Geiger ist Strebinger, der Bratschist Durst, der Violoncellist heißt Borzaga. Alle drei gehören, wie Mayseder, der kaiserlichen Kapelle an. Dieses Quartett ist eines der schönsten Dinge, die man in Wien hören kann und wohl würdig der religiösen Aufmerksamkeit, mit welcher der Fürst und eine kleine Anzahl erlesener Zuhörer allwöchentlich den Aufführungen der Werke von Beethoven, Haydn und Mozart beiwohnen. Die Fürstin Czartoryska, in Kenntnissen und Geschmack eine fertige Musikerin, zudem Klavierspielerin, nimmt mitunter gleichfalls tätigen Anteil an diesen intim-musikalischen Konzerten. Nach einem Quartett von Hummel, das sie gerade meisterhaft gespielt hatte, sagte jemand zu mir:

– »Es gibt entschieden keine Dilettanten mehr!«

– »O! ...« antwortete ich, »wenn Sie gut suchen ... finden Sie vielleicht welche ... sogar unter den Künstlern. Aber jedenfalls ist die Fürstin eine Ausnahme.«

Die kaiserliche Kapelle wird von einer Auswahl der besten Instrumentalisten und Sänger Wiens gebildet und ist notwendig vorzüglich. Sie besitzt einige Chorkinder, die mit sehr hübschen Stimmen begabt sind. Das Orchester ist nicht sehr zahlreich, aber hervorragend; die meisten Soli werden Staudigl anvertraut. In Summa: diese Kapelle hat mich an die der Tuilerien in den Jahren 1828 und 1829 erinnert, zur Zeit ihres größten Glanzes. Ich habe eine Messe gehört, die aus Bruchstücken von verschiedenen Meistern zusammengesetzt war, solcher wie Asmayer, Joseph Haydn und sein Bruder Michael. Auch in Paris machte man mitunter solche Potpourris zum Dienst der königlichen Kapelle, indessen selten. Ich denke: in Wien wird es auch so sein, und der Zufall hat mich schlecht bedient (trotz der beträchtlichen Schönheit der Bruchstücke, die ich hörte). Wenn ich mich nicht irre, hatte der Kaiser damals drei Kapellmeister: die gelehrten Kontrapunktisten Eybler und Asmayer, und Weigl, der wenige Tage vor meiner Abreise von Wien starb. Dieser letzte ist uns in Frankreich durch seine Oper »Die Schweizerfamilie« bekannt, die in Paris 1828 zur Aufführung kam. Das Werk hatte wenig Erfolg; es erschien den Musikern fade und farblos, und boshafte Spaßvögel behaupteten, dieses Pastorale sei mit Milch geschrieben.

Etwas, das mir in Wien auffiel, hat mich peinlich berührt: die unglaubliche Unkenntnis, die man gegenüber den Werken Glucks im allgemeinen antrifft. Wie viele Musiker und Musikfreunde habe ich nicht gefragt, ob sie Alceste, Armida, Iphigenie kennten, und immer war die Antwort die gleiche: »In Wien werden diese Werke nie aufgeführt; wir kennen sie nicht.« Aber, Unglückliche!, ob man sie aufführt, oder nicht: ihr solltet sie auswendig kennen! Es ist wohl klar, daß Unternehmer, wie die Herren Balochino und Pockorny, die weniger erpicht auf schöne Partituren, als auf fette Einnahmen sind, den König von Preußen nicht nachahmen und sich nicht den Luxus der Aufführung alter Meisterwerke leisten werden, wenn sie dem Publikum Novitäten wie Alessandro Stradella oder Indra vorsetzen können.

Zu den wichtigen Ereignissen der Saison zählte sogar die soeben gemachte Entdeckung von Glucks Grab! Die Entdeckung! Verstehen Sie das? War es denn unbekannt? ... Vollkommen. O Wiener meines Herzens, Ihr seid wert, in Paris zu leben! Diese Tatsache hat dennoch nichts befremdliches an sich, wenn man bedenkt, daß die Stätte, wo Mozarts Gebeine ruhen, absolut unbekannt ist!

Ich habe vorhin einige Worte geäußert, die Ihnen keine sehr glänzende Vorstellung vom Wiener Konservatorium dürften gegeben haben. Trotz allen Verdiensten seines Direktors, Preyer, trotz des schätzenswerten Talentes von Joseph Fischhoff, von Boehm und einiger anderer vortrefflicher Lehrer entspricht das Konservatorium in Betreff der Tüchtigkeit und Anzahl seiner Klassen nicht dem, was man in einer musikalischen Hauptstadt vom Range Wiens zu finden erwartet. Es scheint sogar, daß es vor einigen Jahren in einen Zustand so starken Verfalls geriet, daß es ohne die äußerste Energie, Intelligenz und Hingebung des Doktors I. Bacher, der seine Verteidigung in die Hand nahm und ihm schließlich wieder auf die Beine half, nicht mehr bestehen würde. Der Doktor Bacher ist nicht etwa Künstler; er gehört zu jenen Musikfreunden, von denen man zwei oder drei in Europa findet, die, allein der Kunst zuliebe, mitunter die härtesten Arbeiten unternehmen und zum Guten führen; die durch die Reinheit ihres Geschmacks wirkliche Autorität über die Meinung erlangen, und denen es häufig glückt, aus eigener Kraft zu leisten, was die Fürsten tun sollten und nicht tun. Tätig, beharrlich, bereitwillig und freigebig über alle Beschreibung, ist der Doktor Bacher in Wien die festeste Stütze der Musik und die Vorsehung der Musiker.

In dem kleinen, aber ausgezeichneten Saale des Konservatoriums finden die philharmonischen Konzerte unter der geschickten Leitung des Baron von Lannoye statt, sowie die Zusammenkünfte des Männergesangvereins, einer schätzenswerten Einrichtung, die von Herrn Barthe mit soviel Verständnis als Eifer dirigiert wird. Ich habe dort, wenigstens fünf- oder sechsmal und mit immer neuem Vergnügen, den erstaunlichen Pianisten Dreyschock gehört, ein junges, irisches, glänzendes, energisches Talent von ungeheurer technischer Geschicklichkeit und vom feinsten musikalischen Gefühl; er hat in seine Klaviermusik eine Fülle neuer Kombinationen von bezaubernder Wirkung eingeführt.

Ich bitte die vielen bedeutenden Künstler um Verzeihung wegen des Lakonismus, mit dem ich mich von ihnen zu reden gezwungen sehe. Der Raum fehlt mir; man müßte ein Buch schreiben, wollte man jedem volle Gerechtigkeit widerfahren lassen und die musikalischen Reichtümer Wiens alle im einzelnen aufzählen.

Und dennoch habe ich noch nichts über einige seiner hervorragendsten Geister gesagt: über jene, die von der Natur ihres Talentes hauptsächlich auf die Kompositionen der sogenannten Kammermusik hingewiesen wurden, so auf Quartette oder Lieder mit Klavierbegleitung. Unter diese gehört Becher, ein träumerischer und doch gesammelter Geist, dessen harmonische Kühnheit alles bisher Versuchte überbietet, der die Quartettform zu erweitern und ihr neues Leben zu verleihen trachtet. Becher ist zudem ein ganz vortrefflicher Schriftsteller, und seine Kritik steht bei der Wiener Presse in hohem Ansehn. Unglücklicher Becher! Ich vernehme, daß er sich tollkühn in die Flammen des letzten Wiener Aufstandes gestürzt hat, daß er gefangen genommen, gerichtet, verurteilt und erschossen worden!

Rat Wesque von Putlingen, der seine Werke unter dem Pseudonym von Hoven veröffentlicht, ließ mich angenehme Stunden verbringen durch den Vortrag seiner Lieder voll glücklicher melodischer Wendungen und voller Humor; auch sind sie von so pikanten Harmonien begleitet. Dieselben Eigenschaften habe ich in Fragmenten zweier Opern seiner Komposition bemerkt, die ich leider nur auf dem Klavier hören konnte.

Herr Dessauer ist uns bekannter durch seinen zweijährigen Aufenthalt zu Paris, ich glaube von 1840-42. Er hat eine Menge der Gedichte unserer ersten Poeten in Musik gesetzt. Er fährt fort, seine Liedersammlung zu vergrößern, deren Mehrzahl in empfindsamen Kreisen unbestrittenen Erfolg haben. Dessauer hat sich ganz und gar der Elegie verschrieben; er fühlt sich nur wohl, wenn seine Seele leidet; die Beschwerden des Herzens sind sein größter Genuß und die Tränen all seine Freude. Dessauer erklärte mir in Wien wie in Paris stets den Krieg im Frieden. Seine fixe Idee ist, mich zu einer musikalischen Doktrin bekehren zu wollen, die ich noch nicht kenne; denn er hat sich nie entschließen können, sie mir zu enthüllen. Jedesmal, wenn sich uns Gelegenheit zu einer »gründlichen Unterhaltung« bot, wie er es nannte, und ich ihm dann, sobald er seine Predigt begann, mit meiner ernsthaftesten Miene voll ins Gesicht sah, schloß er hieraus, ich wollte mich über ihn lustig machen, versank wieder in Schweigen und verschob meine Bekehrung auf gelegenere Zeiten. Wenn alle Prediger es so gemacht hätten, stagnierten wir noch in den Finsternissen des Heidentums.

Ich darf nicht vergessen, hier der Herzlichkeit zu gedenken, mit der mich in Wien die Mehrzahl der Schriftsteller empfangen hat, die, wie ich bis auf diesen Tag, den rauhen, steinigen Acker der Kritik bebauen und dort nur allzuoft Disteln und Nesseln wuchern sehen. Sie haben mich als einen Mitbruder behandelt und ich danke ihnen dafür. Einer von ihnen, Herr Saphir, gibt alljährlich eine literarisch-musikalische Gesellschaft, in der sein glänzender Geist den Hindernissen der Zensur zum Trotz, Mittel und Wege findet, Menschen und Dinge zu geißeln, zur großen Freude seiner Zuhörerschaft, die, wie das Publikum der ganzen Welt, immer entzückt ist, wenn es über jemand hergeht.

Ich erzähle Ihnen nichts vom Taktstock, Dieser Taktstock ist aus vergoldetem Silber; er trägt die Namen der zahlreichen Unterzeichneten, die mir ihn schenkten; ein Lorbeerzweig umschlingt ihn, auf dessen Blättern die Titel meiner Partituren verzeichnet sind. Nachdem der Kaiser einem meiner Konzerte, die ich im Redoutensaal gab, beigewohnt hatte, schickte er mir hundert Dukaten (elfhundert Franken). Dagegen beauftragte er jemand, mir das folgende eigentümliche Kompliment zu überbringen: »Sagen Sie Berlioz, ich hätte mich gut amüsiert den mir beim Abendessen nach meinem dritten Konzert meine Wiener Freunde so artig überreichten, noch von dem schönen Geschenk des Kaisers, noch von vielen andern Dingen, die Ihnen die Zeitungen bis zum Überdruß wiederholt haben. Nichts von dem, was mir auf dieser Reise angenehmes begegnete, wird Ihnen unbekannt sein; es wäre also unnütz darauf zurückzukommen.


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