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37.

Jagden im Gebirge. Nochmals die römische Ebene. Erinnerungen an Virgil. Das wilde Italien. Klagen. Die Bälle in der Osteria. Meine Gitarre.

 

Der Aufenthalt in der Stadt war mir wahrhaft unerträglich geworden. So versäumte ich denn keine Gelegenheit, ihr den Rücken zu drehen und in die Berge zu flüchten, den Augenblick herbeisehnend, der mir die Heimkehr nach Frankreich gestatten würde. – Als Präludium zu längeren Ausflügen nach diesem Teil Italiens, der allein von Landschaftsmalern besucht wird, machte ich oft die Reise nach Subiaco, einem großen Dorfe der päpstlichen Staaten, einige Meilen von Tivoli.

Dieser Ausflug war mein gewöhnliches Heilmittel gegen den Spleen, ein unfehlbares Mittel, das mich dem Leben wiederzugeben schien. Eine schlechte Weste aus grauer Leinwand und ein Strohhut waren meine ganze Ausrüstung, sechs Piaster meine ganze Barschaft. Dann nahm ich eine Flinte oder Gitarre und zog so des Weges, jagend oder singend, unbekümmert um mein Nachtlager, sicher, eines zu finden, im Notfall in einer der unzähligen Grotten oder bei den »Madonnen«, die alle Straßen säumen. Bald schlug ich einen leichten Trott an, bald blieb ich stehen, um irgendein altes Grab zu betrachten, oder auf der Höhe eines jener armseligen Hügel, die Roms dürre Ebene bedecken, mit Sammlung dem ernsten Sang der Glocken von St. Peter zuzuhören, dessen goldenes Kreuz am Horizont erglänzte; dann wieder gab ich die Verfolgung eines Fluges von Kibitzen auf, um eine sinfonische Idee, die mir gerade durch den Kopf ging, in mein Album niederzuschreiben; und immer sog ich in vollen Zügen das höchste Glück der wahren Freiheit ein.

Manchmal, wenn ich statt der Flinte meine Gitarre mitgenommen, machte ich mitten in einer Landschaft, die meiner Gemütsstimmung entsprach, halt. Ein Gesang der Aeneide, der mir seit meiner Kindheit im Gedächtnis geschlummert, erwachte beim Anblick der Gegend, in die ich mich verirrt. Dann improvisierte ich ein fremdartiges Rezitativ auf noch fremdartigere Harmonien; ich sang mir den Tod der Pallas, die Verzweiflung des guten Evander, die Bestattung des jungen Kriegers, den sein Pferd Ethon begleitet, ohne Geschirr, mit hängender Mähne und dicke Tränen vergießend; ich sang den Schrecken des guten Königs Latinus, die Belagerung Latiums, auf dessen Boden ich stand, das traurige Ende der Amata und den grausamen Tod des edeln Verlobten der Lavinia.

So, unter den gemeinsamen Einflüssen der Erinnerung, der Poesie und der Musik, erreichte ich den unglaublichsten Grad des Außermirseins. Der dreifache Rausch löste sich immer in Tränenströme und krampfhaftes Schluchzen auf. Und was am seltsamsten ist: ich kommentierte meine Tränen. Ich weinte über den armen Turnus, zu dem der Heuchler Aeneas kam, ihm Land, Liebe und Leben zu rauben; ich weinte über die schöne, rührende Lavinia, die den fremden Räuber, an dem das Blut ihres Liebsten klebte, heiraten mußte; ich klagte den poetischen Zeiten nach, da die Heroen, die Göttersöhne, so schöne Waffen trugen und zierliche Wurfspieße schleuderten mit funkelnden, goldreifgeschmückten Spitzen. Dann ging ich von der Vergangenheit zur Gegenwart über, beweinte meine persönlichen Kümmernisse, meine zweifelhafte Zukunft, die Unterbrechung meiner Laufbahn, sank, mitten in diesem Chaos von Poesie, überwältigt nieder, murmelte Verse von Shakespeare, Virgil und Dante: Nessun maggior dolore ... che ricordarsi ... ô poor Ophelia! ... Good night, sweet ladies ... vitaque cum gemitu ... fugit indignata ... sub umbras ... und schlief ein.

*

Welch eine Narretei! werden viele Leute sagen. Ja, aber auch welch ein Glück! Die »vernünftigen« Leute wissen nicht, bis zu welchem Grade das Daseinsgefühl also gesteigert werden kann; das Herz weitet sich, die Phantasie spannt ihre Flügel ins Unermeßliche, man lebt mit Begeisterung. Selbst der Körper nimmt an dieser geistigen Übererregung teil und scheint sich zu stählen. Damals beging ich tausend Unvorsichtigkeiten, die mir heute vielleicht das Leben kosten würden.

Eines Tages verließ ich Tivoli bei strömendem Regen, da meine Perkussionsflinte mir trotz der Feuchtigkeit das Jagen gestattete. Abends erreichte ich Subiaco, seit dem Morgen durchweicht bis auf die Knochen; ich hatte meine zehn Meilen gemacht und fünfzehn Stück Wild erlegt.

Mit welcher Kraft und Treue erinnere ich mich, da ich nun wieder in Pariser Sorgen hinabgetaucht bin, des wilden Landes der Abruzzen, das ich so oft durchstreifte; der fremdartigen Dörfer, spärlich bevölkert von spärlich gekleideten, mißtrauisch blickenden Einwohnern mit alten, verwahrlosten Flinten, die weit tragen und allzuoft ihr Ziel treffen! Seltsame Landstriche, deren geheimnisvolle Einsamkeit mich so lebhaft berührte! Ich finde verlorene und vergessene Eindrücke in Fülle wieder. Da sind Subiaco, Alatri, Civitella, Genesano, Isola di Sora, San-Germano, Arce, die armen, alten, verlassenen Klöster, deren Kirche weit offen steht ... die Mönche sind fern ... die Stille allein herrscht darin ... später werden Mönche und Banditen miteinander zurückkommen. Da sind die reichen Klöster, worinnen fromme, wohlwollende Männer hausen, welche die Reisenden herzlich aufnehmen und sie durch ihre geistreiche, gebildete Unterhaltung in Erstaunen setzen; da ist der benediktinische Palast des Monte Cassino, mit seinem glänzenden Reichtum an Mosaiken, erhabenen Wandverkleidungen, Reliquien usw. Da ist das andere Kloster San Benedetto in Subiaco, mit der Höhle, die den heiligen Benedikt aufnahm, wo die Rosen, die er pflanzte, noch heute blühen. Weiter oben, am selben Berge, liegt, am Rande eines Abgrunds, in dessen Tiefe der alte Anio, der Lieblingsbach Horazens und Virgils, rauscht, die Klause des Beato Lorenzo, hingelehnt an eine sonnengoldene Felswand, wo ich um die Mitte des Januar Schwalben nisten sah. Große Wälder dunkelblättriger Kastanien, aus denen Ruinen hervorblicken; abends sieht man dort hin und wieder menschliche Gestalten, die sogleich wieder geräuschlos verschwinden ... Hirten oder Räuber ...

Gegenüber, auf dem andern Ufer des Anio, ist ein großer Berg mit dem Rücken eines Walfischs, wo man heute noch eine kleine Steinpyramide sieht, die ich dort an einem Spleentage mit Ausdauer errichtete; die treuen Liebhaber dieser Einöden, die französischen Maler, waren so höflich, sie nach meinem Namen zu taufen. Darunter liegt eine Höhle, in die man kriechend gelangt, und deren Eingang man nur dadurch erreichen kann, daß man sich vom oberen Felsen fallen läßt, auf die Gefahr hin, fünfhundert Fuß tiefer zerschmettert anzukommen.

Zur Rechten liegt ein Feld, wo ich von Schnittern angehalten wurde, die über meine Gegenwart an solchem Orte erstaunt waren; sie bestürmten mich mit Fragen und wollten mich meinen Aufstieg erst fortsetzen lassen auf die Versicherung hin, er bezwecke die Erfüllung eines Gelübdes an die Madonna. Weit von da liegt, am Ufer des unvermeidlichen Anio, in einer schmalen Ebene, das einsame Haus la Piagia, dessen Gastfreundschaft ich ansprach, und wo ich, nach den langen Jagden in den regenreichen Herbsttagen, meine Kleider trocknen ließ. Die Wirtin, eine ausgezeichnete Frau, hatte eine wunderschöne Tochter, die inzwischen einen Maler aus Lyon, unsern Freund Flacheron, geheiratet hat.

Ich sehe ihn noch vor mir, den jungen Schlingel Crispino, halb Bandit, halb Rekrut, der uns Pulver und Zigarren brachte. Ich sehe sie noch, die Reihen der Madonnenbilder auf den hohen Hügeln, denen abends die verspäteten Schnitter aus der Ebene nachgehen, Litaneien singend zum melancholischen Klang der Glocke eines versteckten Klosters; ich sehe sie noch, die Tannenwälder, die vom ländlichen Refrain der Pifferari widerhallen, die hochgewachsenen schwarzhaarigen Mädchen mit der braunen Haut, dem hellen Lachen, die, um einen Tanz, so oft die Geduld und die schmerzenden Finger di questo signore chi suona la chitarra francese mißbraucht haben. Da ist der klassische Spieler der baskischen Trommel, der Begleiter meiner improvisierten Saltarelli; da sind die Carabinieri, die sich mit aller Gewalt in unsere Osteriabälle eindrängen wollen. Entrüstung der Tänzer aus Frankreich und aus den Abruzzen! Flacheron teilt ungeheuerliche Faustschläge aus. Schimpfliche Austreibung der »päpstlichen Soldaten«. Drohender Hinterhalt mit langen Messern! ... Flacheron geht, ohne uns ein Wort zu sagen, um Mitternacht zum Treffpunkt, mit einem einfachen Stock bewaffnet. Verschwinden der Carabinieri. Crispino in Begeisterung!

*

Endlich Albano, Castelgandolpho, Tusculum, das kleine Theater des Cicero, die Fresken seines verfallenen Landhauses; der See von Gabia, der Sumpf, wo ich mittags schlief, ohne an Fieber zu denken; Spuren der Gärten, die von Zenobia bewohnt wurden, der edeln, schönen, entthronten Königin von Palmyra. Lange Reihen antiker Aquädukte, die sich unabsehbar in die Ferne verlieren.

Grausames Gedenken der entschwundenen Tage der Freiheit! Freiheit des Herzens, des Geistes, der Seele, unbedingt! Freiheit, untätig zu sein, nicht einmal zu denken; Freiheit, die Zeit zu vergessen, den Ehrgeiz zu verachten, den Ruhm auszulachen, nicht mehr an Liebe zu glauben; Freiheit, nach Norden, Süden, Osten oder Westen zu gehen, auf freiem Felde zu schlafen, von wenigem zu leben, ziellos umherzuschweifen, zu träumen, beim säuselnden Hauch des lauen Sirocco ganze Tage lang müde liegen zu bleiben! Wahre, schrankenlose, unermeßliche Freiheit! O großes, starkes Italien! Italien der Wildnis, das sich nicht sorgt um seine Schwester, das Italien der Kunst,

»die schöne Julia, ausgestreckt im Sarge.«


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