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66.

Prag.

 

An Humbert Ferrand

Ich hatte Deutschland bereits nach allen Richtungen hin durchreist, bevor mir der Gedanke kam, Böhmen zu besuchen. Als das in Wien endlich geschah, mußte ich ihn auf Anraten mehrerer anscheinend wohlunterrichteter Personen unterdrücken. »Gehen Sie nicht nach Prag,« sagte man mir, »das ist eine Pedantenstadt, wo man bloß die Werke der Toten schätzt; die Böhmen sind allerdings musikalisch, aber nach Professoren- und Schulmeisterart; alles Neue gilt ihnen als erbärmlich, und sicherlich werden Sie keinerlei Anlaß zur Zufriedenheit mit ihnen finden.«

Mein Entschluß, zu entsagen und auf diese Reise zu verzichten, war also gefaßt, als man mir eine Prager Musikzeitung brachte, worin drei große Artikel über meine Ouvertüre zu König Lear standen. Ich ließ sie mir übersetzen, und, weit entfernt, die den Böhmen beigelegten Eigenschaften des Übelwollens und Pedantismus darin zu finden, erkannte ich mit Freuden, daß diese Kritik im höchsten Grade die entgegengesetzten Eigenschaften enthielt. Der Verfasser, Doktor Ambros, schien mir wirkliches Wissen mit gesundem Urteil und glänzender Einbildungskraft zu verbinden.

Ich schrieb ihm, um mich zu bedanken und ihm meine Bedenken wegen der Gesinnung seiner Landsleute gegen mich zu unterbreiten. Seine Antwort zerstreute jene vollkommen und flößte mir ebensoviel Lust ein, Prag zu besuchen, als ich vorher Furcht empfunden, mich dort zu zeigen. Man sparte in Wien nicht mit Witzen, als man meinen Entschluß abzureisen erfuhr. »Die Prager behaupten, Mozart entdeckt zu haben, sie schwören nicht höher, wollen nur seine Sinfonien hören, sie werden Sie schön zurichten« usw.

Aber der Doktor Ambros hatte mir Vertrauen eingeflößt, nichts konnte es diesmal erschüttern, und trotz der übeln Prophezeiungen der Spötter reiste ich ab.

Wenn man, fünfhundert Meilen von Hause entfernt, in einer fremden Stadt die Post verläßt, ist es da nicht angenehm, einen unbekannten Freund zu finden, der einen an der Station erwartet, an den »wunderbar charakteristischen Gesichtszügen« seinen Mann errät, ihn anredet, ihm die Hand drückt und in seiner Landessprache mitteilt, daß alles zum Empfang bereit sei? ...

Genau so ging es mir mit dem Doktor Ambros bei meiner Ankunft in Prag. Nur verfehlten meine »wunderbar charakteristischen Gesichtszüge« vollkommen ihre Wirkung; er erkannte mich nicht. Im Gegenteil: ich bemerkte einen kleinen Mann mit lebhaften, wohlwollenden Zügen und hörte ihn auf französisch zu seinem Begleiter sagen: »Aber wie soll ich Herrn Berlioz in dieser Menge erkennen? Ich habe ihn nie gesehen!«; – nochmals: ich war so unbegreiflich boshaft, in ihm Herrn Ambros zu erraten, ging kurzweg auf die beiden im Gespräch Begriffenen zu und sagte:

»Da bin ich!«

»Herr Berlioz?«

»Nicht mehr, nicht weniger.«

»Guten Tag auch! Wir sind sehr erfreut, Sie endlich zu sehen. Kommen Sie, kommen Sie, man hat Ihnen eine Wohnung und dem Orchester »warm gemacht«; Sie werden sehr zufrieden sein. Ruhen Sie heut abend aus, morgen machen wir uns an die Arbeit.«

Nachdem wir mit den musikalischen Autoritäten der Stadt bekannt geworden, begannen wir wirklich andern Tags mit den Vorbereitungen zu meinem ersten Konzert. Herr Ambros stellte mich dem Direktor des Konservatoriums, Herrn Kittl, vor; dieser führte mich bei den Brüdern Scraub ein, die Kapellmeister am Theater und Dom waren, und dann beim Konzertmeister Herrn Mildner. Dann kamen die Sänger, Journalisten, Hauptliebhaber daran, und als alle Besuche gemacht waren, sagte ich zu Herrn Ambros: »Wenn Sie mir jetzt die Stadt zeigen wollten: ich sehe da einen Berg, der buchstäblich mit Monumentalbauten bedeckt ist, und bin, gegen meine Gewohnheit, außerordentlich neugierig, das alles aus der Nähe zu betrachten.«

»Gehen wir hin!« antwortete verbindlich der Doktor. Es war vielleicht das einzige Mal, daß ich nach solchem Aufstieg meine Mühe nicht bereute. (Die Ersteigung des Vesuvs ausgenommen; den Ätna habe ich nicht gesehen.) Spaß beiseite, der Aufstieg ist mühsam: aber wie wunderbar ist diese beständige Folge von Kirchen, Palästen, Zinnen, Türmen und Türmchen, Säulengängen, weiten Höfen und Torbogen! Welche Aussicht vom Gipfel dieses marmorgeschmückten Berges! Auf der einen Seite zieht sich ein Wald bis zu einer ziemlich großen Ebene hinunter, auf der andern stürzt gleichsam ein Gießbach von Häusern wie mit dampfendem Gischt zur Moldau hinab, die beim Geräusche von Mühlen und verschiedenen Fabriken, die sie treibt, majestätisch die Stadt durchfließt; sie überwindet eine Sperre, welche ihr die böhmische Industrie gesetzt hat, um an dieser Stelle die Richtung ihrer Gewässer abzulenken, läßt zwei Inselchen hinter sich und verliert sich ferne in Krümmungen zwischen Hügeln von rötlicher, warmer Färbung, die sie mit Sorgfalt bis zum Horizont zu geleiten scheinen.

– »Dort ist die Jägerinsel,« sagte mein Führer zu mir, »offenbar so geheißen, weil auf ihr kein Wild vorkommt. Hinter ihr, stromaufwärts, sehen Sie die Sophieninsel, in deren Mitte sich der Sophiensaal befindet, wo Sie Ihr Konzert geben wollen; er ist fast ausschließlich für die Aufführungen eines Gesangvereins, der Sophienakademie, bestimmt.«

– »Und wer ist diese Sophie, in deren Saal, Akademie und Insel ich die Ehre haben werde, mein Konzert zu geben? Ist es eine Moldaunymphe, die Heldin eines Romans, der auf dieser Insel spielte, oder einfach eine Wäscherin mit roten, aufgesprungenen Händen, die, eine neue Kalypso, hier ihre Gesänge und das Geklopf ihrer Schlagbretter erschallen ließ?«

– »Ihre letzte Annahme ist, wie ich glaube, die wahrscheinlichste. Indessen sagt die Überlieferung nichts von aufgesprungenen Händen ...«

– »Oh, Doktor! Sie scheinen mir bei Sophie die Rolle des Odysseus gespielt zu haben! Gibt es dort eine Eucharis? Nun, dann erbiete ich mich, als Telemach auf der Kalypsoinsel nach Ihnen zu suchen.«

Ein Erröten des Doktors war die einzige Antwort; ich sah, man dürfe diese Saite nicht länger schwingen lassen ... Und so kam es, daß ich nichts Bestimmtes über die Sophie erfuhr, jene Patronin einer Singakademie, eines Konzertsaals und einer Insel.

Unglücklicherweise birgt dieser köstliche Ruhesitz inmitten der lebhaften Moldauströmung, der im Sommer von Grün umsäumt und beschattet und mit Blumen bestickt ist, nicht weit von seinem Tempel der Harmonie zwei oder drei von jenen abscheulichen Einrichtungen, für die ich nie genug Verwünschungen finden kann und die man auf französisch » guingettes« nennt: wo schlechte Musikanten scheußliche Musik in dicker, schlechter Luft machen, wo Mädchen und Bursche von schlechter Lebensführung sich in Tänzen schlechter Art ergehen, während Müßiggänger schlechten Tabak rauchen und kaum besseres Bier dazu trinken, und schlechte Hausfrauen stricken und dabei ihren bösen Zungen den Lauf lassen. Welch erbärmliche Idee, eine Blüten- und Blätterlaube so ihrer Poesie zu entkleiden, ihre Düfte mit so ekelhaftem Gestank, ihre zarten Melodien mit solchem Lärm zu untermischen! ... Ist denn nicht die Jägerinsel da mit ihren Kneipen, ihrem Mühlengeklapper und der Nachbarschaft ihrer Lohgerbereien? Und eignet sie sich nicht in jeder Beziehung besser zu solchen Volksbelustigungen? Unter uns: ich fürchte, Sophie hatte entschieden aufgesprungene Hände ...

Ich komme kurzerhand auf die Musik zurück unter Vorbehalt nochmaliger Abschweifung, wenn es mir so gut scheinen sollte. Ich hoffe, mein werter Freund, Sie verlangen nicht von mir eine eher tötende, als belehrende, eine ebenso anspruchsvolle, als langweilige, eine mehr unnütze, als brauchbare Abhandlung über böhmische Musikrevolutionen, über die besonderen Neigungen slavischen Geistes oder über die mutmaßliche Epoche, da die alten Meister dieses Landes die Anwendung der Dominantseptime ohne Vorbereitung zuließen. Im Hinblick auf diese hohen, gewichtigen Fragen muß ich meine unheilbare Kenntnislosigkeit eingestehen; und selbst wenn meine Faulheit, was Geschichte und Geschichten betrifft, minder hartnäckig wäre, würde ich es sicherlich vorziehen, Forschungen über die berühmte, mit Elfenbein ausgelegte Gitarre anzustellen, deren sich der Philosoph Koang-fu-Tse, gewöhnlich Confucius genannt, bediente, um das chinesische Reich zu moralisieren. Denn auch ich spiele Gitarre, und trotzdem habe ich niemals auch nur die Bevölkerung eines Schlafzimmers von zehn Quadratfuß moralisch gemacht; im Gegenteil. Meine Gitarre ist zwar sehr einfach und nicht mit Elefantenzahn geschmückt. Macht nichts; die folgende Stelle, die ich gestern mindestens zum hundertsten Male wieder las, eignet sich recht wohl zu Betrachtungen für philosophische Musiker (die musikalischen Philosophen zähle ich nicht mit; seit Leibniz hat man keine mehr gesehen). Meine Stelle, die ich, wie ich fürchte, schon irgendwo veröffentlicht habe, lautet:

»Als Koang-fu-Tse zufällig den Gesang Li-Po gehört hatte, dessen Alter, nach Ansicht der ganzen Welt, vierzehntausend Jahre zurückreicht (sagt hiernach, die Musik sei eine Modekunst!), wurde er von solcher Begeisterung ergriffen, daß er sieben Tage und sieben Nächte ohne Schlaf, Trank und Speise blieb. Alsbald verfaßte er seine erhabene Lehre, verbreitete sie mühelos, indem er ihre Vorschriften auf die Weise des Li-Po sang, und machte so ganz China sittlich durch eine fünfsaitige, mit Elfenbein verzierte Gitarre.« Betrachten Sie mein Unglück: meine Gitarre hat nicht nur, wie die des Confucius, fünf Saiten, sondern sogar oft genug deren sechs, und, nochmals, ich habe als Moralist nicht den geringsten Ruf. Ach! wenn sie mit Elfenbein eingelegt worden wäre, welche Wohltaten hätte ich nicht verbreitet! wieviele Irrtümer zerstreut, wieviele Wahrheiten eingeschärft, eine wie schöne Religion gegründet, und wie wären wir heute alle so glücklich! Indessen, nein, es ist nicht möglich, daß eine Leiste Elfenbein weniger allein so große Übel sollte heraufbeschworen haben! Sie hat, das bezweifle ich nicht, dazu beigetragen, und zwar viel; aber diese Übelstände haben noch einen andern Grund, der sich meinem Scharfsinn entzieht und wahrscheinlich viel würdiger wäre, eine Reihe menschlicher Existenzen zu seiner Entdeckung zu beanspruchen, als die auf die Böhmen und den Dominantseptakkord bezüglichen Fragen.

Wie dem auch sei – kommen wir auf die moderne europäische Musik zurück; sie hindert niemand am Trinken, Essen, Schlafen, wie die alte chinesische Melodie; und doch hat sie ihren Wert. Das heißt – verstehen wir uns –: sie hindert zwar nicht an, Trinken, am Essen, aber dennoch habe ich oft von ausgezeichneten Musikern sagen hören, daß es in ihrer künstlerischen Praxis kein Wasser zu trinken gegeben hätte, und daß der und der berühmte Komponist oder Instrumentist Hungers gestorben wäre. Was die Verhinderung am Einschlafen betrifft, so haben die ältesten Kompositionen unserer alten Meister ersichtlich niemals den geringsten Anspruch auf dieses Verdienst gehabt. Nunmehr handelt es sich darum, meine Meinung über die musikalischen Einrichtungen Prags und über Geschmack und Intelligenz seiner Einwohner zu sagen. Man müßte länger, als ich, in dieser schönen Hauptstadt gewohnt haben, um sie in diesem Betreff von Grund aus zu kennen; indes will ich versuchen, mein Gedächtnis zusammenzunehmen und lediglich das zu sagen, was mir wahr zu sein scheint. Ich werde Ihnen also erzählen:

Von seinem Theater, seinem Ensemble, vom Orchester und den Chören, die ich dort gehört;

von seinem Konservatorium, von dem gewandten Komponisten, der ihm vorsteht, von Lehrern und Schülern, die ich dort kennen lernen durfte;

von der Singakademie;

von dem Musikpersonal der Kathedrale;

von der Militärmusik;

von Virtuosen und Komponisten, die unabhängig sind von den vorerwähnten Einrichtungen;

und schließlich vom Publikum.

Das Theater kam mir, als ich es sah (1845), dunkel, klein, unsauber und sehr schlecht akustisch vor. Es ist seitdem, wie ich weiß, restauriert worden und sein neuer Direktor, Herr Hoffmann, macht löbliche Anstrengungen, günstige Verhältnisse wieder herbeizuführen, von denen es sich unter der vorherigen Verwaltung rapid zu entfernen schien. Sein Ensemble war damals in der Zusammensetzung besser als sonst im allgemeinen deutsche Gesangtruppen. Der erste Tenor, der Bariton (Strackaty), die Damen Grosser, Kirchberger und Frau Podhorsky schienen mir verdienstvolle Künstler zu sein mit kostbaren Stimmen, was Klangcharakter und Reinheit betrifft, und außerdem so musikalisch ... wie es die Böhmen sind; man könnte es kaum in höherem Maße sein. Leider schien die Besetzung des Orchesters und des Chors, die zu den geringen Dimensionen des Saales in allzu genauem Verhältnis stand, die Sparsamkeit des Direktors anzuklagen. Mit einer so kleinen Anzahl Ausführender ist es wahrlich nicht erlaubt, sich auf die Meisterwerke hohen Stils einzulassen; und doch unternahm dies das Prager Theater von Zeit zu Zeit. Dann waren es klägliche Verstümmelungen, unter denen alle Künstler seufzten. Die Dekorationen waren gleichfalls von einer Pracht und Treue, die der Pracht und Treue der Aufführung entsprachen. Ich erinnere mich, in Glucks »Iphigenie auf Tauris« im Finale des vierten Akts ein Schiff gesehen zu haben, das, zur Abfahrt nach Griechenland bereit, mit einer Reihe Kanonen geschmückt war.

Das laufende Repertoire war im Hinblick auf die Inszenierung gewöhnlich besser behandelt und hatte nur wenig oder gar nicht unter der Schwäche der Orchester- oder Chorbesetzung zu leiden; es setzte sich aus tatsächlich wenig Aufwand erfordernden kleinen Niederträchtigkeiten, die aus dem Französischen übersetzt waren, zusammen, welche bereits in der tiefen Pariser Gleichgültigkeit ertrunken und seit langem vom Spielplan unserer komischen Oper getilgt waren. Die Direktoren sind alle gleich; nichts gleicht ihrem Spürsinn, Plattheiten zu entdecken, es sei denn die instinktive Abneigung, welche ihnen Werke einflößen, die aus dem Bestreben nach Feinheit des Stils, nach Größe und Ursprünglichkeit hervorgegangen sind. In dieser Beziehung übertrumpfen sie in Deutschland, Italien, England und andrerorten noch das Publikum. Ich führe Frankreich nicht an; man weiß, daß unsere Operntheater ohne Ausnahme von vorzüglichen Männern geleitet werden und stets geleitet worden sind. Und wenn sich die Gelegenheit darbot, zwischen zwei Geistesprodukten zu wählen, von denen das eine gewöhnlich, das andere vornehm war, zwischen einem schöpferischen Künstler und einem elenden Kopisten, zwischen erfinderischer Kühnheit und errechneter, glatter Albernheit, hat sie ihr erlesener Takt noch niemals getäuscht! Also: Ehre sei ihnen! Alle Freunde der Kunst bezeigen für diese großen Männer eine Verehrung, die ihrer Erkenntlichkeit gleichkommt.

Ich habe mich tausendmal gefragt, warum die Mehrzahl der Theaterdirektoren, fast in jedem Lande, eine so ausgesprochene Vorliebe für das haben, was wirkliche Künstler, gebildete Geister, ja selbst ein Teil des Publikums, hartnäckig als Erzeugnisse einer ziemlich armseligen Industrie angesehen wissen wollen; Erzeugnisse, bei denen die Mache nicht mehr Wert hat, als der Rohstoff, und deren Dauer im allgemeinen so begrenzt ist. Es trifft nicht immer zu, daß die Plattheiten beständig mehr Erfolg haben, als die schönen Werke, man sieht sogar oft das Gegenteil; es trifft ferner nicht zu, daß durchgeistigte Kompositionen mehr Ausgaben machen, als Dutzendarbeit; das Gegenteil findet häufig statt. Das hängt vielleicht einfach damit zusammen, daß jene von allen Angestellten des Theaters, vom Direktor bis zum Souffleur, Sorgfalt, Fleiß, Aufmerksamkeit, Geduld und von einigen Individuen sogar Geist, Begabung, Inspiration fordern; während diese eigens für die Faulen, Mittelmäßigen, Überflüssigen, Unwissenden und Dummköpfe gemacht sind und natürlich eine große Zahl Lobredner finden. Nun liebt aber ein Direktor über alles die Sachen, die ihm sogleich gute Worte, zufriedene Blicke seiner Untergebenen eintragen; Sachen, die jedermann kennt, ohne sie gelernt zu haben, die keinerlei herkömmliche Ansichten oder Gewohnheiten stören; die ganz sänftlich dem Strom der Vorurteile folgen; die niemandes Eitelkeit verletzen, da sie keinerlei Unfähigkeit enthüllen; er liebt vor allen Dingen die Sachen, die zu ihrer Inszenesetzung nicht zu viel Zeit erfordern. Er bevorzugt die Kompositionen, die keinen Widerstand leisten, die guten, vielleicht sogar etwas leichtfertigen Mädchen unter den Kompositionen.

Übrigens gibt es Direktoren, die den Ehrgeiz haben, alles selbst zu machen, und die, allein deshalb, Leuten feindselig gegenüber stehen, die den schlechten Einfall haben, Werke einzureichen, welche man ohne Mithilfe der Autoren nicht einstudieren kann. Unter dem Übergewicht, das alsdann diese unbedachtsamen Autoren über den Direktor gewinnen, leidet dieser und entrüstet sich darüber. Der vor seiner Mannschaft also erniedrigte Kapitän des Schiffes verzeiht dem Steuermann nicht, weil er ihn zur Untätigkeit zwingt und, ohne es selbst zu merken, zum Leutnant oder Unteroffizier degradiert. Er verflucht infolgedessen zu allen Stunden bei Tag und Nacht seine Unklugheit, sich auf Abenteuer begeben zu haben in Seestrichen, deren Klippen ihm unbekannt sind, und schwört, in Zukunft nur noch in vollkommen durchschifften Gewässern segeln zu wollen.

Es gibt auch monomane oder, höflicher gesprochen, monophile Direktoren. Diese lieben über alles eine gewisse Geistesrichtung, einen gewissen Gang der Handlung, eine gewisse historische Epoche, gewisse Kostüme, gewisse Dekorationen, gewisse szenische Effekte oder eine gewisse Sängerin oder eine gewisse Tänzerin oder sonst etwas. Hieraus folgt, daß sie überall versuchen, ihr Hotte-Hüh zu reiten. Herrn Duponchel, des Operndirektors Steckenpferd z. B. war, ist und wird der Kardinal im roten Hut unter einem Traghimmel sein. Die Opern ohne Traghimmel, ohne Kardinal und roten Hut, und sie sind zahlreich, haben niemals die geringste Anziehung auf ihn geübt. Und, wie ich eines Tages Herrn Méry sagen hörte, wenn in einem neuen Werke der liebe Gott selbst eine Rolle hätte, Duponchel würde ihm dennoch seinen Lieblings-Kopfputz aufsetzen. Er hätte gut reden: »Aber, mein werter Direktor, ich bin der liebe Gott; es ziemt sich nicht für mich, im Kostüm eines Kardinals aufzutreten!« – Duponchel würde ihm antworten: »Ew. Ewigkeit wollen entschuldigen, aber es ist unerläßlich, daß Ew. Unermeßlichkeit sich in dieses schöne Kostüm zu hüllen und unter dem Traghimmel zu schreiten geruhen; ohnedies würde ›meine Oper‹ keinen Erfolg haben.« Und der liebe Gott wäre genötigt, sich zu unterwerfen!!! Von seiner Vorliebe für Pferde spreche ich nicht; eine so tiefe Leidenschaft heischt zu viel Pietät.

Das alles bezieht sich durchaus nicht auf den früheren Direktor des Prager Theaters; vielleicht tat ich unrecht, es nicht früher zu sagen. Das war ein Ehrenmann; in musikalischen Dingen, wie alle seine Kollegen, wenig bewandert, aber, entgegen der sonstigen Gepflogenheit, beliebt und angesehen bei seinen Untergebenen, die ihm auf das lebhafteste ihr Bedauern ausdrückten, als er sich, infolge schlechter Geschäfte, gezwungen sah, die Direktion in andere Hände zu legen. Auch Herrn Pockorny, den Wiener Direktor des Theaters an der Wien, muß man unter die rühmlichsten Ausnahmen zählen. Direktoren, die, wie diese, auf eigene Rechnung, Risiko und Gefahr hin arbeiten, sind nicht zahlreich in Deutschland. Ich kenne ihrer kaum fünf oder sechs: es sind die von Leipzig, von Prag, von Wien, der vom Deutschen Theater in Pest und der Hamburger. Die andern Opernbühnen sind fast alle der Leitung adeliger Intendanten unterstellt, die sie auf Rechnung ihres Fürsten verwalten. Trotz des Anflugs von aristokratischer Kälte, mit der mehrere von ihnen ihre Untergebenen behandeln, muß man zugeben, daß die Künstler diese Direktoren – Grafen oder Barone – im allgemeinen den Industriellen, die sie ausbeuten, weit vorziehen. Jene haben wenigstens oft ausgesucht höfliche Manieren, auf welche diese wenig Wert legen; sie haben außerdem die Vorteile einer literarischen und, manchmal, musikalischen Erziehung, die bei den Unternehmern noch seltener sind. Der Graf von Roedern, der die Geschicke der Berliner Oper lange in Händen hielt, ist ein Beispiel hierfür. Obwohl man in Deutschland unter den Direktoren, seien sie Intendanten oder Unternehmer, nicht sehr intelligente und in Kunstsachen höchst ungebildete Männer antreffen kann, glaube ich doch nicht, daß man in diesem Betreff jemals etwas Ähnliches gesehen hat, als einige von denen, die Frankreich seit dreißig Jahren hervorgebracht. Ob vornehm oder bürgerlich, ich möchte wetten, daß keinem deutschen Direktor je die Namen von Gluck oder Mozart oder die ihrer Meisterwerke unbekannt gewesen seien. Dagegen könnte man in Frankreich eine gute Anzahl von mehr oder weniger fabelhaften Ungeheuerlichkeiten der Art anführen. Zum Beispiel: ein Operndirektor Herr Duplanty. erhält Besuch von Cherubini und fragt ihn ganz höflich, wiewohl der große Komponist seinen Namen genannt hat, was sein Beruf wäre, ob er zum Personal der Oper gehöre und ob er beim Ballet oder bei den Maschinen angestellt wäre. Ungefähr zur gleichen Zeit befand sich derselbe Cherubini, von dem gerade eine neue Messe mit großem Beifall aufgenommen worden, eines Abends beim »Oberintendanten der schönen Künste« Graf Sosthène de Larochefoucault. und erhielt folgendes seltsame Kompliment: »Ihre Messe ist sehr schön, mein lieber Cherubini, ihr Erfolg unbestreitbar; aber weshalb beschränken Sie sich immer auf die Kirchenmusik? Sie hätten eine Oper schreiben sollen!« Stelle man sich die entrüstete Verlegenheit des Autors der ›Medea‹, des ›Wasserträgers‹, der ›Lodoiska‹, des ›St. Bernhard‹ der ›Faniska‹, der ›Abenceragen‹, des ›Anakreon‹ und so vieler anderer Bühnenwerke, bei diesem unerwarteten Rippenstoß vor!

Ein Direktor des Théatre Français Herr Buloz. fragte eines schönen Tages, von wem das Lustspiel »Der Arzt wider Willen« wäre, und war verstimmt über die Lachsalven des Gefragten, als dieser ihm antwortete, es sei von Molière ... Außerdem gibt es in Paris einen Direktor, dessen Sprechzimmer schwerer zugänglich ist, als das eines Ministers, der nicht antwortet, wenn man ihm schreibt und der seine Anmaßung so weit treibt, die Leute, die er braucht, wer immer es auch sei, zu bitten, sie möchten doch bei ihm vorsprechen. Der Herr Direktor hat sie eben um einen Dienst zu bitten und findet es ganz natürlich, daß sie sich nun ein Bein für ihn ausreißen. Allerdings rühmt er sich nicht immer der Antworten, die er in solchen Fällen bekommt ...

Nichtsdestoweniger haben wir – man muß das anerkennen – an der Spitze gewisser Pariser Theater Leute gehabt, die mit wirklicher Urbanität gesunden Menschenverstand, Geist und eine unbestreitbare literarische Beschlagenheit verbanden (ich sage nicht: musikalische; das hat man noch nie erlebt). Zu den geistreichsten, wenn nicht zu den glücklichsten und uneigennützigsten, muß man Harel zählen, der vor zwei Jahren starb, nachdem er den von der Akademie für eine Rede auf Voltaire ausgesetzten Preis erhalten hatte. Seine Bonmots erfreuen sich einiger Berühmtheit. Dennoch kann keines dieser Witzworte verglichen werden mit demjenigen, das er Frédérick Lemaître eingab unter folgenden Umständen. Harel leitete das Theater von la Porte-Saint-Martin. Einer unserer »großherrlichen« (alter Stil) Schriftsteller, der sehr reich und sehr verliebt in Kunst und Poesie war, Herr de Custine. hatte auf diesem Theater eine Tragödie Beatrix Cenci. aufführen lassen, für deren Inszenierung ihm beträchtliche Geldopfer auferlegt waren. Eines Tages befand er sich, gleichzeitig mit dem berühmten Schauspieler, in Harels Zimmer; er hatte gerade die Rechnung für Dekorationen, Kostüme und Zubehör usw. beglichen und glaubte sich endlich befreit, als der unersättliche Direktor ihm eine Rechnung von drei- oder viertausend Franken über das zu den Maschinen verwendete Tauwerk überreichte. Herr de C... hatte gut entrüstet sein über die von ihm nicht ohne eine gewisse Berechtigung so genannte Plünderung; er mußte sie geschehen lassen. So zahlte er denn und ging empört von dannen. Frédérick studierte stillschweigend die seltsame Szene; dann schlug er dem Direktor lebhaft auf die Schulter mit den Worten: »Faulpelz! Er hatte ja noch seine Uhr!«

Ich befinde mich heute in hinlänglich ernster Stimmung um Ihnen vom Prager Konservatorium und von Konservatorien im allgemeinen zu erzählen. Diese Anstalten, mögen sie sich in einem noch so unvollkommenen Zustand befinden, scheinen mir dennoch die einzigen musikalischen Kunstanstalten zu sein, die unter dem Einfluß gesunden Verstandes und der Vernunft möchten gegründet worden sein. Alle Konservatorien Europas werden augenblicklich (es ist nicht immer so gewesen) von Musikern geleitet. Man muß sich darüber wundern und der Vorsehung danken. Unter der Herrschaft der heute stark verbreiteten Meinung, daß, je wichtiger und schwerer zu entscheiden eine Kunstfrage ist, desto notwendiger ihre Lösung von der Regierung Leuten, die dieser Kunst ferne stehen, anvertraut werden müsse, – wie gesagt: unter der Herrschaft solcher Lehren, die man für Ausgeburten des Wahnsinns halten würde, wenn das Werk des Neides nicht so leicht kenntlich wäre, muß man es mit Beifall begrüßen, daß die verschiedenen musikalischen Lehrfächer Spezialisten anvertraut sind, die mehr oder weniger gut im Besitz der Kenntnisse sind, die verbreitet werden sollen. Ohne Zweifel werden, vornehmlich in Paris, viele Leute nicht verfehlen zu behaupten, dies sei ein Unglück, und es sei unendlich viel besser, Mathematiker als Violinlehrer anzustellen, Literaten mit der Leitung von Kompositionsklassen zu betrauen oder Ärzte zu Gesangmeistern zu machen. Übrigens (die Akademie der schönen Künste des Instituts ist dieser Ansicht) meinen sie, die Musik könne im allgemeinen gut gekannt, gut empfunden, gut verstanden und demnach gut beurteilt werden nur von Malern, Bildhauern, Architekten und Kupferstechern. Mehrere endlich – und das ist die erdrückende Majorität – zeigen die rührendste Übereinstimmung im Prinzip, daß es nicht nur nicht der Musiker bedürfe, um Musik zu lehren, Konservatorien und Opernbühnen vorzustehen, sondern daß die Mathematiker, Literaten, Ärzte, Kupferstecher, Maler, Bildhauer und Architekten sogar noch eine Gefahr bildeten durch ihre Intelligenz und ein ihnen eigenes erbärmliches Gefühl: den Respekt vor Wissenschaft und Kunst. In den Augen der Anhänger dieses Prinzips sind die besten Beurteiler, die besten Leiter musikalischer Angelegenheiten, welche den vorzüglichsten Einfluß auf deren jetzigen und zukünftigen Stand üben müssen, Leute, die bar sind alles Wissens, aller Kunst, allen Gefühls für das Schöne, jeder idealen Bestrebung, jeder Betätigung, jeden Gedankens; die nie etwas geleistet haben, unwissend sind, an nichts glauben, nichts lieben, nichts wollen und nichts können, und die zu diesen unerläßlichen Bedingungen der Unwissenheit, Ohnmacht und Gleichgültigkeit eine gewisse Geistesträgheit gesellen, die an Stupidität grenzt. Man sieht: die Zahl derer, die an der Aufrechterhaltung dieser schönen These interessiert sind, ist unberechenbar, und man muß sich über die Zahl der Proselyten, die sie jeden Tag machen, nicht wundern. Ich bin nur erstaunt darüber, daß ihr Triumph nicht vollständiger ist und daß sie in der für sie freien Bahn so langsam vorschreiten. Daher ist meine Bemerkung über die Konservatorien, die zu dieser Zeit ausschließlich in den Händen von Musikern sind, wohl am Platze.

Mehr noch: das Prager Konservatorium, von dem ich hier im besonderen zu reden habe, wird von einem talentvollen Komponisten geleitet, der voller Liebe für seine Kunst ist, tätig, eifrig, unermüdlich, streng bei Gelegenheit, freigebig mit verdientem Lob ... und jung. Es ist Herr Kittl. Man hätte bequem irgendeine schwerfällige, durch die Jahre geheiligte Mittelmäßigkeit finden können – denn deren gibt es in Böhmen so gut als sonstwo – um sie mit der Aufgabe zu betrauen, die Entwicklung der Musik in Prag nach und nach zum Stillstand zu bringen. Nichts dergleichen; man tat das Gegenteil, man gewann Herrn Kittl, der fünfunddreißig Jahre zählt, und die Musik lebt, blüht und gedeiht in Prag. Ganz ersichtlich müssen die Geister des Ausschusses, der eine solche Wahl traf, vom Schwindel ergriffen gewesen sein, oder dieser Ausschuß muß durchweg aus Männern von Herz und Geist bestanden haben.

Ein Konservatorium der Musik sollte, nach meinem Sinn, eine Anstalt sein, deren Bestimmung es wäre, die Ausübung der Musik in allen Teilen, die damit verknüpften Disziplinen, die aus ihr hervorgegangenen Monumentalwerke zu konservieren; mehr noch: sich an die Spitze der fortschrittlichen Bewegung setzend, die einer so jungen Kunst, als es die europäische Musik ist, innewohnt, sollte es, was uns die Vergangenheit Schönes und Gutes vermacht hat, aufrecht erhalten, indem es vorsichtig den Errungenschaften der Zukunft entgegenschritte. Ich glaube nicht einer Anwandlung nationaler Parteilichkeit zu unterliegen, wenn ich erkläre, daß von allen mir bekannten Konservatorien das Pariser am wenigsten weit entfernt sei, dieser Definition zu entsprechen. Hiernach kommt das Prager Konservatorium; Ich kenne die innere Organisation des Brüsseler Konservatoriums, das den geschickten Händen des Herrn Fétis anvertraut ist, noch nicht; ich weiß nur, daß es eines der beträchtlichsten ist. und wenn man den enormen Unterschied in Betracht zieht, der natürlich zwischen den Mitteln einer Stadt, wie Prag, und denen der Hauptstadt Frankreichs besteht, so heißt das eher, ihm ein großes Kompliment machen, als es an zweite Stelle setzen. Es ist zwar in jeder Beziehung minder reich, als das unsere; die Professoren und Schüler dort sind weniger zahlreich, und die Anstrengungen der Prager Regierung zu seiner Unterstützung sind mit dem beständigen, energischen Beistand, der dem Pariser Konservatorium durch die Direktion der schönen Künste zuteil wird, nicht zu vergleichen; aber die Studien werden dort gewissenhaft betrieben und der Geist der Schule ist ausgezeichnet. Unter den Lehrern, die unter der Leitung des Herrn Kittl tätig sind, nenne ich besonders die Herren Milner und Gordigiani. Der erste, ein geschickter Geiger, der, wie erwähnt, auch die Funktionen des Konzertmeisters und Soloviolinisten am Prager Theater versieht, hat eine beträchtliche Anzahl guter Schüler erzogen. Der andere, der seit langem den Ruf eines der besten Gesanglehrer hat, die aus Italien nach Deutschland kamen, ist unter anderm ein verdienstvoller Komponist. Ich kenne von ihm ein zweichöriges Stabat mater sehr schönen Stils und eine Oper, Consuelo, deren Text und Musik von ihm stammt und die bemerkenswert ist durch Natürlichkeit der Melodik und vornehme Zurückhaltung der Instrumentation, wofür man heute wohl recht wenig Beispiele hat. Es ist manchmal – wie ich glaube, mit Recht – gesagt worden, es sei nützlich für einen Komponisten, singen zu können. In der Tat wird der Gesanglehrer seinen zuverlässigsten Stützpunkt für die gute Leitung der Studien seiner Schüler in der genauen Schätzung der Eigenschaften finden, die der Komponist von seinen Interpreten fordern darf und muß. Ein komponierender Gesanglehrer, wenigstens wenn er nicht von einer erbärmlichen Mittelmäßigkeit ist, wird nicht in die Verkehrtheiten verfallen, wie sie heute in drei Vierteln des musikalischen Europas die Kunst des Gesanges gänzlich zu zerstören drohen. Er wird seine Schüler nicht die Verachtung von Rhythmus und Takt lehren; er wird ihnen niemals die unverschämte Freiheit lassen, Melodien kreuz und quer zu verzieren, deren genaue Wiedergebung durch den Ausdruck der Phrase, durch den Charakter der Person und durch den Stil des Autors gebieterisch gefordert wird; er wird nicht zulassen, daß sie sich angewöhnen, das Privatinteresse ihres Organs als das einzige leitende zu betrachten, wenn sie öffentlich singen; infolgedessen werden seine Schüler nicht die schönsten Werke entstellen, um einige matte Töne ihrer Stimme zu vermeiden, oder um einen möglichst ebenso langen, als lächerlichen Aufputz aus den besten Tönen, die ihnen die Natur gab, zu ersinnen. Dieser Lehrer wird nicht verfehlen, mit seinen Schülern Betrachtungen über die Gesangskunst anzustellen und sie wohl zu überzeugen, daß sie durchaus nicht darin bestehe, mit mehr oder weniger Glück Parforcetouren ohne musikalischen Sinn und Verstand durchzuführen, und noch minder darin, mit dem menschlichen Kehlkopf Töne hervorzubringen, die durch ihre Tiefe, Höhe, Gewalt oder Dauer auffallen. Er wird von ihnen verlangen, daß sie sich Rechenschaft geben über ihre Akzente, und ihnen zeigen, daß, wenn es störend ist, falsch zu singen hinsichtlich der Reinheit, es nicht minder störend ist, falsch zu singen in bezug auf den Ausdruck; daß, wenn ein zu hoher oder zu tiefer Ton dem Ohr weh tut, eine Stelle, die stark wiedergegeben wird, wenn sie leise klingen sollte, oder schwach, wenn sie energisch, oder pompös, wenn sie naiv sein sollte, wohl noch schmerzlicher die Feinfühligkeit intelligenter Hörer kränkt, das so widersinnig interpretierte Werk noch schwerer verletzt und zur Evidenz beweist, daß der Künstler, der auf solche Weise singt, sei er auch mit einer wundervollen Stimme und hervorragender Koloratur begabt, nichts weiter, als ein Idiot ist. Die Schüler eines solchen Lehrers werden nicht, wie man das heute überall tut, mit unqualifizierbarem Cynismus die Geduld der Kapellmeister mißbrauchen, dadurch, daß sie es ihnen zur Pflicht machen, den grotesken rhythmischen Abschweifungen zu folgen, jeden Augenblick Hilfszeiten in den Takt einzuschalten; die Hälfte einer Periode, ja sogar eines einzelnen Taktes, ums Dreifache zu verlangsamen, um die andere Hälfte wie toll zu überhasten; werden sie nicht nötigen, mit erhobenem Arm zu warten, bis der Sänger mit dem Aushalten seiner Lieblingsnote bis zur Atemlosigkeit fertig ist; mit einem Wort: gezwungene Helfershelfer bei einem Attentat auf den guten Geschmack und auf die Kunst zu sein, zitternde Sklaven einer mit herrschsüchtigen Lungen bewaffneten Dummheit. Ein solcher Lehrer wird fürderhin nicht mehr dulden, daß seine Schüler jemals das Studium der Meisterpartituren in Angriff nehmen, ohne den Gegenstand der Dichtung zu verstehen, ohne das Historische davon zu kennen, ohne über die vom Autor gewollten Leidenschaften nachgedacht und versucht zu haben, ihren Charakter wohl zu erfassen. Es wäre schimpflich, wenn ein aus seiner Klasse hervorgegangener Schüler die Sprache, in der er singt, mißachtete samt den Regeln, die schon durch das Wesen des Rhythmus und des Wohlklanges bei den Wortverbindungen erfordert werden. Er wird überdies seine Schüler verstehen lehren, daß, wenn sie sich bei Fermaten oder anderswo etwas an den Noten des Komponisten zu ändern erlauben, diese Veränderungen wenigstens ins harmonische Gefüge der Begleitstimmen passen müssen, und daß der virtuose Korrektor und Mehrer seiner Partie nicht unbesonnen auf dem Quartsextakkord umherscherze, wenn das Orchester den Dominantseptakkord aushält, und umgekehrt.

Die Unterredungen, die ich mit Herrn Gordigiani hatte, und die Methode seiner Schüler, soweit ich sie gehört, haben mir bewiesen, daß er mit diesen Ideen ganz einverstanden war.

Wenn es, wie ich sogleich nachweisen werde, am Pariser Konservatorium sehr an Spezialklassen fehlt, darf man sich nicht darüber wundern, daß an dem in Prag das gleiche der Fall ist. Der Lehrplan ist in der Tat weit entfernt, vollständig zu sein. Dennoch gingen aus dieser Anstalt eine Anzahl fähiger Schüler hervor, die groß genug ist, um heute, fast ganz aus eigenen Kräften, schwierige Werke wie Beethovens neunte Sinfonie befriedigend aufzuführen. Dies ist zweifellos einer der schönsten Erfolge, die Herr Kittl aufzuweisen hat.

Wenn ein Konservatorium eine Anstalt ist mit der Bestimmung, alle Zweige der Musik und die sich unmittelbar hieran knüpfenden Disziplinen zu pflegen, so ist es seltsam, daß man, nicht einmal in Paris, dahin gelangt ist, ein derartiges Programm zu verwirklichen. Lange Zeit hindurch besaß unsere Instrumentalschule keine Klassen für das Studium der wichtigsten Instrumente, wie Kontrabaß, Posaune, Trompete und Harfe. Seit einigen Jahren sind diese Lücken ausgefüllt. Leider blieben viele andere, auf die ich hinweisen will. Meine Ausführungen über diesen Punkt werden vielen Leuten Anlaß zu Geschrei geben; man wird sie verrückt, lächerlich, abgeschmackt finden ... so hoffe ich wenigstens. Ich sage also:

1. Der Unterricht auf der Violine ist nicht vollständig, man lehrt die Schüler das pizzicato nicht. Daraus folgt, daß eine Menge Passagen über die vier Saiten, oder solche, die mit zwei oder drei Fingern auf derselben Saite gezupft werden sollen, im schnellen Tempo von den Geigern für unmöglich erklärt werden und deshalb dem Komponisten untersagt sind – Passagen und Arpeggien, die durchaus zu bewältigen sind, da sie ja von den Gitarrespielern (auf der Violine) ausgeführt werden. Es ist wahrscheinlich, daß in fünfzig Jahren irgendein Direktor so kühn sein wird, den Unterricht im pizzicato für die Violinklassen zu fordern. Dann werden sich die Künstler, die Lehrer der neuen, pikanten Wirkungen, die man hiervon erwarten kann, über unsere Geiger des letzten Jahrhunderts lustig machen, die »Vorsicht!« schrien, »jetzt kommt das C!« und sie werden recht haben. Die Anwendung der Flageolettöne wird noch nicht offiziell und vollständig gelehrt. Das wenige, das unsere jungen Violinisten davon wissen, haben sie seit dem Auftreten Paganinis allein gelernt.

2. Es ist mißlich, daß man keine Spezialklasse für Bratsche hat. Trotz seiner Verwandtschaft mit der Geige hat dies Instrument, wenn es gut gespielt werden soll, besondere Studien und beständige Übung nötig. Ein jämmerliches, althergebrachtes, lächerliches Vorurteil hat bis zur Gegenwart die Ausführung der Bratschenstimmen Geigern zweiten oder dritten Ranges zugewiesen. Von einem mittelmäßigen Geiger sagt man: er wird einen guten Bratschisten abgeben. Ein falscher Schluß vom Standpunkt der modernen Musik aus, die (wenigstens bei den großen Meistern) im Orchester keine Füllstimmen mehr gestattet, sondern alle an den hervorzubringenden Wirkungen teilnehmen läßt und durchaus nicht zugibt, daß sich die einen gegen die andern im Nachteil befinden.

3. Es war ein großes Unrecht, in den Klassen für Klarinette bis heute das Bassetthorn nicht zu lehren. Hieraus folgt die lächerlich verhängnisvolle Konsequenz, daß eine Menge Stücke von Mozart (in Frankreich) nicht richtig aufgeführt werden können. Da heute die Verbesserungen der Baßklarinette durch Adolf Sax die Ausführung alles dessen zulassen, was man für das Bassetthorn schreiben kann, ja, noch dazu ihr Umfang den des Bassetthorns in der Tiefe um eine kleine Terz übertrifft, und außerdem die Klangfarbe der Baßklarinette ähnlich der jenes Instrumentes, nur schöner ist, so sollte man an den Konservatorien die Baßklarinette zusammen mit den Sopranklarinetten und den kleinen Klarinetten in Es, in F und in hoch- As studieren lassen.

4. Das Saxophon, ein neues Glied in der Familie der Klarinetten und von großem Werte, wenn die Spieler gelernt haben werden, seine Vorzüge zur Geltung zu bringen, muß heutzutage einen besonderen Platz im Lehrplan der Konservatorien erhalten, denn der Augenblick ist nicht ferne, da es alle Komponisten werden anwenden wollen.

5. Wir haben keine Klasse für Ophikleïde, woraus folgt, daß auf hundert oder hundertfünfzig Individuen, die zu dieser Stunde in Paris das schwierige Instrument blasen, zur Not drei kommen – wenn es so viele sind –, die man in ein gutes Orchester aufnehmen könnte. Ein einziger, Herr Caussinus, ist ein sehr tüchtiger Bläser.

6. Wir haben keine Klasse für Baßtuba, dieses mächtige Ventilinstrument, das sich von der Ophikleïde durch Klangfarbe, Technik und Umfang unterscheidet und, in der Trompetenfamilie, genau die Rolle des Kontrabasses in der Geigenfamilie spielt. Gleichwohl wenden die meisten Komponisten heute in ihren Partituren bald eine Ophikleïde, bald eine Baßtuba und manchmal alle beide an.

7. Die Saxhörner und cornets à piston sollten ebenfalls in unserm Konservatorium gelehrt werden, da sie jetzt, besonders die cornets, allgemein im Gebrauch sind.

8. Der Unterricht auf sämtlichen Schlaginstrumenten existiert nicht. Gibt es jedoch in Europa ein einziges Orchester, klein oder groß, das nicht einen Paukenschläger hätte? Nein, alle Orchester haben einen Mann, der so heißt: aber wie viele wirkliche Paukenschläger trifft man, das heißt Musiker, die mit allen rhythmischen Schwierigkeiten vertraut sind, welche die Technik des Instruments (die weniger bequem ist, als man glaubt) von Grund aus kennen und ein hinlänglich geübtes Ohr haben, um gut stimmen und die Stimmung sicher verändern zu können, selbst während der Aufführung eines Musikstücks und mitten im Orchesterlärm? Wie viele solcher Paukenschläger trifft man an? Ich erkläre, daß ich nach dem der Pariser Oper, Herrn Poussard, in ganz Europa nicht mehr als drei kenne. Und Sie wissen, wieviel verschiedene Orchester ich seit neun oder zehn Jahren zu prüfen in der Lage war. Die Mehrzahl der Paukenschläger, denen ich begegnet bin, verstanden nicht einmal ihre Klöppel zu halten und waren infolgedessen unfähig, ein richtiges Tremolo oder einen Wirbel auszuführen. Nun, ein Paukenschläger, der keinen (dichten) Wirbel in allen Abstufungen schlagen kann, ist zu nichts nütze.

Es müßte in den Konservatorien also eine Klasse für Schlaginstrumente geben, wo sehr gute Musiker von Grund auf den Gebrauch der Pauken, der baskischen und der kleinen Trommel lehrten. Die heutzutage unerträgliche Gewohnheit, die Beethoven und einige andere schon aufgegeben haben: die Schlaginstrumente nachlässig oder auf eine ebenso plumpe, als unintelligente Weise zu behandeln, hat ohne Zweifel dazu beigetragen, so lange eine für sie ungünstige Meinung aufrecht zu erhalten. Daraus, daß die Komponisten sie bis dahin nur dazu gebrauchten, einen mehr oder weniger unnützen oder unangenehmen Lärm zu machen, oder auf platte Weise die guten Taktteile zu markieren, hatte man geschlossen, daß sie sich nur hierzu eigneten, daß sie keine andere Aufgabe im Orchester zu erfüllen, keine andern Ansprüche zu stellen hätten, und daß es infolgedessen nicht nötig wäre, sorgfältig ihre Technik zu üben, noch wirklich musikalisch zu sein, um sie zu spielen. Nun, heute bedarf es sehr guter Musiker, um selbst nur gewisse Stimmen für Becken oder große Trommel in modernen Kompositionen auszuführen. Und das bringt mich geradewegs darauf, auf eine andere, vielleicht die mißlichere Lücke im Lehrplan aller Konservatorien hinzuweisen, das Pariser miteinbegriffen.

9. Es gibt keine Klasse für Rhythmus, die dazu bestimmt wäre, alle Schüler ohne Ausnahme, Sänger oder Instrumentisten, mit den verschiedenen Schwierigkeiten der Zeiteinteilung vertraut zu machen; daher die meisten unfähig sein würden, Kompositionen im synkopierten Stil auszuführen, wie z. B. die reizenden (bei uns als bizarr verschrieenen) spanischen Volkslieder. Die italienischen oder französischen Sänger sind tausend Meilen weit davon entfernt, daß sie mit dem Rhythmus spielen könnten, und wenn sich ihnen die Gelegenheit eines Versuchs bietet, werden sie verlegen, zeigen eine Ungeschicklichkeit und Schwerfälligkeit, daß, statt einer guten, eine schlechte musikalische Wirkung entsteht. Daher ihr Haß auf alles, das nicht viertaktig ist, wie sie sagen; das heißt sehr häufig: platt. Daher die kindlichen, lächerlichen Vorstellungen, die sie sich von den großen Formen machen, und das Erstaunen, das ihnen alle Melodien einflößen, deren Form und Akzent sich von den in Frankreich und Italien unveränderlich angenommenen Formen und Akzenten unterscheiden. Daher diese allgemeine Verweichlichung der Ausführenden, die daran gewöhnt sind, von den Zählzeiten und einer stets vorauszusehenden Betonung gestützt und gegängelt zu werden, wie die Kinder, die noch nicht gehen können, von den Stützen ihres kleinen vierrädrigen Karrens. Beethovens Sinfonien haben eine große Anzahl unserer Pariser Instrumentisten aus diesen knabenhaften Gewohnheiten gerissen und ihnen unter anderm Geschmack an pikanten, ursprünglichen Rhythmen beigebracht. Aber nichts dergleichen ist versucht worden, den Schlaf der Sänger zu stören, ihnen das Blut in den Adern pulsieren zu lassen, sie an Aufmerksamkeit, Pünktlichkeit, lebhaftes Tempo zu gewöhnen, und daraus folgt, daß ihre Erstarrung fortdauert, und daß man sie, um sie daraus zu erwecken, lange Zeit einzeln vornehmen muß. Ihnen insbesondere also würde es zum großen Vorteil gereichen, eine Klasse für Rhythmus ins Leben zu rufen, aus der überdies eine ungeheure Anzahl Instrumentisten gleichfalls Vorteil ziehen könnte.

10. Ein vollständiges Konservatorium, das den Ehrgeiz hätte, die Überlieferung interessanter Tatsachen, bedeutender Werke der Vergangenheit und der verschiedenen Kunstrevolutionen zu bewahren, sollte einen musik-geschichtlichen Lehrstuhl haben, der in der Schule die genaue Kenntnis des Wirkens unserer Vorfahren aufrechterhielte, nicht nur durch Wort und Schrift, sondern auch durch treue, sorgfältige Demonstrationen schöner Werke, deren Gedächtnis lebendig erhalten werden müßte. Dann sähe man nicht mehr Schüler, selbst talentvolle, den großartigsten Schöpfungen großer noch lebender Meister gegenüber unwissend wie Hottentotten: der so geläuterte Geschmack der Künstler wäre ein ganz anderer, und ihre Gedanken würden größer, erhabener, als sie sind, kurz: wir würden in der musikalischen Praxis mehr Musiker, als Musikanten haben.

Noch eine andere Klasse fehlt an allen bestehenden Konservatorien, die mir wichtig und von Tag zu Tag notwendiger erscheint: eine Klasse für Instrumentation. Dieser Zweig der Kompositionskunst hat in den letzten Jahren eine große Entwicklung genommen; er hat hinlänglich schöne Resultate gezeitigt, um die Aufmerksamkeit der Kritik und des Publikums auf sich zu ziehen; er hat ferner zu oft dazu gedient, bei gewissen Komponisten die Armut ihrer Ideen zu verhüllen, Energie nachzuäffen, die Gewalt der Inspiration zu ersetzen; er ist, selbst in den Händen unbestreitbar verdienstvoller und tüchtiger Komponisten der Vorwand zu unqualifizierbaren Mißbräuchen, ungeheuerlichen Auswüchsen, lächerlichem Widersinn oder Unsinn geworden, und es läßt sich bequem nachweisen, zu welchen Ausschreitungen das Beispiel dieser Meister ihre Nachahmer hinreißen mußte. Aber selbst diese Auswüchse bestätigen den – geregelten oder nicht geregelten – Gebrauch, der heute von der Instrumentation gemacht wird; ein im allgemeinen blinder Gebrauch, der von der erbärmlichsten Routine, wo nicht durch Zufall, geleitet wird. Denn aus dem häufigeren Gebrauch einer viel größeren Zahl von Instrumenten folgt noch nicht, daß der größere Teil der Komponisten sich auf Stärke, Klangfarbe, Verwendung eines jeden Gliedes der Instrumentenfamilie, noch auf die verschiedenen sympathischen Bande, die sie miteinander verknüpfen, besser verstünde als die Vorgänger in dieser Kunst. Weit entfernt! selbst der elementare Teil dieser Kenntnisse, der Umfang vieler Instrumente, ist einer guten Anzahl berühmter Komponisten unbekannt. Ich konnte mich überzeugen, daß einer von ihnen den der Flöte nicht wußte. Was den Umfang der Blechinstrumente im allgemeinen und den der Posaunen im besonderen betrifft, so haben sie davon nur eine sehr unbestimmte Vorstellung; auch bemerkt man in fast allen modernen Partituren, wie in den alten, die kluge Reserve, mit der sich ihre Autoren in der mittleren Region dieser Instrumente halten, gleicherweise vermeidend, sie auf- oder absteigen zu lassen, weil sie fürchten, die ihnen nicht genau bekannten Grenzen zu überschreiten, und weil sie den Vorteil nicht ahnen, der sich aus den jungfräulich gebliebenen tiefen und hohen Tönen zu beiden Enden der Skala ziehen läßt. Die Instrumentation ist also heute wie eine fremde Modesprache, die viele Leute vorgeben zu sprechen, ohne sie gut zu verstehen und mit mannigfachen Barbarismen.

Eine solche Klasse in den Konservatorien wäre übrigens nicht allein den Kompositionsschülern nützlich, sondern auch denen, die zur Dirigentenlaufbahn bestimmt sind. Es versteht sich in der Tat, daß ein Orchesterchef, der nicht alle Mittel der Instrumentation von Grund auf kennt, keinen großen musikalischen Wert hat und daß es höchst notwendig für ihn ist, zum mindesten den genauen Umfang und die Technik aller Instrumente ebensogut, wo nicht besser, zu kennen als die Musiker, die sich ihrer unter seiner Leitung bedienen. Ohne das wird er diesen nur sehr schüchterne Bemerkungen machen können, vor allem wenn es sich um eine ungewöhnliche Kombination, um eine kühne oder schwierige Stelle handeln sollte, und wenn Bequemlichkeit oder Unfähigkeit gewisser Orchestermitglieder diese zu dem Ausruf verleitete: »Das ist nicht zu machen! Diesen Ton gibt es nicht! Das ist nicht spielbar!« und was dergleichen Aphorismen mehr sind, deren sich in solchen Fällen mittelmäßige Ignoranten bedienen. Dann kann der Dirigent antworten: »Sie irren sich, das geht ganz gut. Wenn Sie es so und so machen, werden Sie diese Schwierigkeit überwinden.« Oder auch: »Wohl wahr: das ist schwer; aber wenn Sie einige Tage daran üben und es bliebe Ihnen unspielbar, müßte man daraus schließen, daß Ihnen Ihr Instrument sehr unvollkommen bekannt ist und wäre genötigt, zu einem geschickteren Künstler seine Zuflucht zu nehmen.« Im entgegengesetzten, man muß zugeben, sehr häufigen Falle, wo der Komponist in Ermanglung von Spezialkenntnissen die Künstler quält, selbst die mit den Schwierigkeiten ihres Instruments am besten vertrauten Virtuosen, um ihnen die Ausführung unspielbarer Sachen abzunötigen, kann der Kapellmeister, der seiner Sache sicher ist, Stellung für die Musiker gegen den Komponisten nehmen und diesen auf die schweren Fehler hinweisen, die er begangen. Sagen wir noch, da ich gerade von Kapellmeistern rede, daß es in einem wohlorganisierten Konservatorium nicht unangebracht wäre, den Kompositionsschülern vor allem das beizubringen, was von der schwierigen Kunst des Dirigierens von Chor und Orchester lehrbar ist, damit sie gegebenenfalls wenigstens die Aufführung ihrer eigenen Werke leiten könnten ohne sich lächerlich zu machen und die Musiker aufzuhalten, statt sie zu unterstützen. Man setzt gewöhnlich voraus, jeder Komponist sei geborener Kapellmeister, d. h. er verstehe die Kunst, ein Orchester zu dirigieren, ohne sie gelernt zu haben. Beethoven war ein berühmtes Beispiel für die Unrichtigkeit dieser Ansicht, und wir könnten eine große Zahl anderer Meister zitieren, deren Kompositionen allgemeine Achtung genießen und die, sobald sie den Taktstock in die Hand nehmen, anstatt des Taktes ein Rad schlagen, weder die Zeiten zu markieren, noch die Abstufungen des Tempos anzugeben wissen, und buchstäblich die Musiker am Spielen hindern würden, wenn diese, in schneller Erkenntnis der Unerfahrenheit ihres Leiters, sich nicht entschlössen, ihn nicht mehr anzusehen und von der ungeregelten Bewegung seines Armes keinerlei Notiz zu nehmen. Übrigens gibt es zwei sehr verschiedene Arten der Betätigung des Kapellmeisters: die erste (bequemste) besteht darin, nur ein Werk zu dirigieren, das den Musikern schon bekannt ist, ein ganz »gangbares« Werk. Bei der zweiten dagegen handelt es sich für ihn darum, das Studium einer den Ausführenden unbekannten Partitur zu leiten, die Idee des Komponisten gut herauszubringen, sie klar und plastisch zu gestalten, den Musikern die Eigenschaften getreuer Wiedergabe, guten Zusammenspiels und Ausdrucks abzugewinnen, ohne die es keine Musik gibt, und, einmal Herr der materiellen Schwierigkeiten, jene mit sich selbst zu identifizieren, sie mit seiner eigenen Glut zu erhitzen, mit seinem Enthusiasmus zu begeistern, mit einem Wort: ihnen seine Inspiration mitzuteilen.

Daraus folgt, daß es, unabhängig von den elementaren Fertigkeiten, die sich durch Studium und Übung erwerben, und den Eigenschaften des Gefühls und des Verstandes, die man niemand einimpfen kann, weil die Natur sie allein gibt, und die aus dem Kapellmeister den ersten der Interpreten des Komponisten oder seinen furchtbarsten Gegner machen – je nachdem er mit diesen seltenen Eigenschaften begabt ist, oder nicht –, es folgt daraus, sage ich, daß es für den lenkenden, unterweisenden, organisierenden Dirigenten noch ein unerläßliches Talent gibt: das des Partiturlesens.

Wer sich mit einem Klavierauszuge oder einer einfachen Violinstimme befaßt, wie das in unsern Tagen an so manchem Ort, vornehmlich in Frankreich, gebräuchlich ist, kann zunächst die Mehrzahl der Fehler einer Aufführung gar nicht bemerken; er setzt sich also, wenn er einen Fehler anzeigt, der Gefahr aus, daß ihm der Musiker, an den er sich wendet, antwortet: »Woher wissen Sie denn das? Sie haben ja meine Stimme nicht!« Und das ist noch die geringste Unannehmlichkeit dieser kläglichen Methode. Wenn Habeneck die Konzerte des Konservatoriums dirigierte, bediente er sich einer simplen Violinstimme; seine Nachfolger haben nicht versäumt, ihn hierin zu kopieren.

Woraus ich schließe, daß es zur Erziehung wirklicher, vollendeter Orchesterdirigenten nötig ist, sie mit allen Mitteln an das Partiturlesen zu gewöhnen, und daß, wer es nicht bis zur Überwindung dieser Schwierigkeit gebracht hat, wäre er sonst auch Kenner der Instrumentation, ja Komponist und außerdem geübt in der Technik des Taktschlagens, seine Kunst nur zur Hälfte versteht.

Nunmehr habe ich Ihnen von der Prager Singakademie zu erzählen. Organisiert ungefähr wie alle diese Gesangvereine in Deutschland, setzt sie sich fast nur aus Dilettanten des Mittelstandes zusammen. Dirigent ist der junge Scraub. Der Chor ist etwa neunzig Stimmen stark. Die Mehrzahl seiner Mitglieder ist musikalisch, liest vom Blatt und ist mit frischen, klangvollen Stimmen begabt. Zweck des Instituts ist nicht, wie bei mehreren anderen Akademien dieser Art, Studium und Ausführung alter Werke unter völligem Ausschluß aller zeitgenössischen Produktionen. Diese sind, man verzeihe den Ausdruck, nichts als geschlossene Gesellschaften, musikalische Konsistorien, wo man, unter dem Vorwand wirklicher oder geheuchelter Begeisterung für die Toten, ganz gemütlich die Lebenden verlästert, die man gar nicht kennt; wo man gegen Baal predigt und alle angeblichen goldenen Kälber der Harmonie und ihre Anbeter der Vernichtung weiht. In diesen Tempeln des musikalischen Protestantismus behauptet sich, bissig, eifersüchtig und intolerant, der Kultus nicht des Schönen, welcher Zeit es auch angehöre, sondern des Alten, welchen Wert es auch habe. Es gibt dort eine Bibel und die Werke von zwei oder drei Evangelisten, die von den Getreuen ausschließlich gelesen und wieder gelesen werden, unermüdlich, indem sie Stellen kommentieren und interpretieren, deren unmittelbarer, wirklicher Sinn an sich vollkommen klar ist. Sie finden eine mystische, tiefe Idee da, wo der Rest der Menschheit nichts wahrnimmt als Grauen und Barbarei, und sind immer bereit Hosianna! zu singen, selbst wenn der mosaische Gott ihnen befiehlt, die kleinen Kinder mit dem Kopf gegen die Mauer zu schmettern, ihr Blut durch die Hunde auslecken zu lassen, und verbietet, daß bei diesem Anblick eine Träne des Mitleids die Augen seines Volks befeuchte!

Nehmen wir uns vor solchen Fanatikern in acht; sie würden genügen, die den Denkmälern der Vergangenheit gebührende Ehrfurcht und Bewunderung aller frommen Seelen zu verscheuchen.

Ich wiederhole: die Prager Singakademie hat nichts mit dem gemein, und ihr Leiter ist ein verständiger Künstler. Auch gestattet er nicht allein den Neueren, sondern sogar den Lebenden Zutritt in das musikalische Heiligtum. Neben einem Oratorium von Bach oder Händel läßt er den Moses von Marx, dem sehr tätigen, gebildeten Kritiker und Theoretiker in Berlin, studieren, oder das Fragment einer Oper oder eines Hymnus, die, was ihr Alter betrifft, gar keinen Anspruch auf akademische Würde haben. Mir ist, als ich das erstemal einer Probe der Prager Singakademie beiwohnte, sogar eine Chorphantasie von Scraub über böhmische Nationallieder aufgefallen, die mich durch ihre Ursprünglichkeit bezauberte. Ich hatte so pikante vokale Kombinationen in einer so kühnen, schwunghaften, zügigen Ausführung, mit so überraschenden Gegensätzen, so exakt, rein und schön im Klang, noch nie und seitdem nicht wieder gehört. Wenn ich an die schwerfälligen, plumpen Sammelsurien von Akkorden denke, die ich bei derlei Gelegenheiten allzu oft über mich ergehen lassen mußte, so wirkte dieses lebendige Werk in solcher Ausführung auf mein Ohr, wie die frische, durchdüftete Luft einer Sommernacht auf die Lungen eines Gefangenen wirken würde, der eben dem Kerker mit seiner stinkenden Atmosphäre entsprang.

Die Sophienakademie (ich habe schon gesagt, daß dies ihr Name ist) gibt jedes Jahr eine gewisse Anzahl öffentlicher Konzerte, die von den beiden Scraub dirigiert werden; das Theaterorchester unter der Leitung des älteren kommt dann dem Chor des Bruders zu Hilfe. Diese großen Konzerte, die lange mit exemplarischer Sorgfalt und Geduld vorbereitet werden, ziehen immer ein zahlreiches Publikum an, ein Elitepublikum, für das die Musik weder eine Zerstreuung, noch eine Ermüdung, wohl aber eine edle, ernste Leidenschaft ist, der es alle Verstandes- und Gemütskräfte, alle Regungen seines Herzens hingibt.

Ich habe Ihnen versprochen, von der Dommusik, sowie von der Prager Militärmusik zu erzählen; aber wenn ich sie in mein Namenregister mitaufnahm, so geschah es, wie ich Ihnen gestehen muß, ganz einfach, um es vollständiger zu machen. Kirchenmusik! Militärmusik! Diese Wörter nehmen sich in einem musikalisch-kritischen Bericht, wie dieser ist, unübertrefflich gut aus. Ich habe nie die Absicht gehabt, mein Versprechen in anbetracht dieser beiden reichen böhmischen Musikquellen zu halten, aus dem guten Grunde, weil ich nicht das Nötige weiß, um geziemend darüber zu reden. Ich habe es noch nicht über mich gewinnen können, Worte zu machen über Dinge, die ich gar nicht kenne. Mit der Zeit und bei guten Beispielen wird das vielleicht kommen. Inzwischen verzeihen Sie mir, wenn ich mich ausschweige. Trotz wiederholter Einladungen des Herrn Scraub habe ich während der ganzen Zeit meines Prager Aufenthalts noch nicht den Fuß in eine Kirche gesetzt. Trotzdem bin ich, wie bekannt, sehr gottesfürchtig; es muß also irgendein wichtiger Grund, dessen ich mich nicht mehr entsinne, zu meiner scheinbaren Gleichgültigkeit der Kirchenmusik gegenüber vorhanden gewesen sein, oder der Schrecken vor Orgelgiguen und Fugen auf das Wort Amen muß mich gänzlich beherrscht haben.

In betreff der Militärmusik kann ich zur Rechtfertigung meines Schweigens folgendes anführen: ich habe an einem Feiertag, und zwar von mittags zwölf bis vier Uhr, die Regimentsmusik, die damals zu Prag in Garnison lag, Haydns Kaiserhymne spielen hören. Dieser rührend-majestätische, patriarchalische Gesang ist von derartiger Einfachheit, daß ich, als ich ihn hörte, die Tüchtigkeit der Ausführenden kaum würdigen konnte. Ein Orchester, das ein solches Stück nicht auf erträgliche Art spielen könnte, bestünde nach meiner Ansicht aus Musikern, die die Tonleiter nicht kennen. Immerhin spielten sie rein; etwas Außerordentliches, namentlich bei Militärkapellen. Außerdem weiß ich nicht, ob das fragliche Regiment aus Böhmen oder aus einem andern Teil der österreichischen Monarchie stammte, und es wäre zu naiv, über diese Musiker eine Theorie aufzustellen, die besser Unterrichtete mit den wenigen Worten lächerlich machen könnten: »Die böhmischen Musiker, von denen Sie reden, sind Ungarn, Österreicher oder Mailänder.«

Unter den Prager Virtuosen und Komponisten, die weder dem Theater, noch dem Konservatorium, noch der Singakademie angehören, will ich Dreyschock, Pischek und den ehrwürdigen Tomaschek nennen. Ich hatte schon oft Gelegenheit, von den beiden erstgenannten zu sprechen, die einen europäischen Ruf genießen. Ich habe beide mehrfach in Wien, Pest, Frankfurt und anderswo gehört, aber nie in Prag. Wie es scheint, sind Dreyschock und Pischek, als sie sich zum ersten Male vor ihren Landsleuten hören ließen, schlecht aufgenommen worden und haben beschlossen, in Zukunft ihr Talent nie mehr der Billigung oder Mißbilligung der Böhmen auszusetzen. Kein Prophet gilt in seinem Vaterlande; diese Wahrheit galt zu allen Zeiten und in allen Ländern. Nichtsdestoweniger beginnen die Prager ihr Ohr den bewunderungsvollen Gerüchten zu leihen, die ihnen in tausend Gestalten und von tausend Punkten des Horizontes her die Worte wiederholen: Dreyschock ist ein wunderbarer Klavierspieler! Pischek ist einer der ersten Sänger Europas! und sie ahnen, daß sie vielleicht ungerecht gegen jene gewesen sein möchten.

Tomaschek ist als Komponist in Böhmen und sogar in Wien, wo seine Werke sehr geschätzt werden, wohlbekannt. Da er nicht die Gründe Dreyschocks und Pischeks hatte, mit den Einwohnern von Prag streng zu verfahren, weigert er sich niemals, sie seine Kompositionen hören zu lassen, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet. Ich war bei einem Konzert anwesend, wo auf zweiunddreißig Stücke einunddreißig von Tomaschek kamen. Unter diesen machte man mich im voraus auf eine neue Musik zum Erlkönig aufmerksam, die von der Schubertischen gänzlich abwiche; ich hätte das aber ohnedies wohl bemerkt. Irgend jemand (es gibt Leute, die an allem zu mäkeln finden), der die Begleitung dieses Stückes mit der Schuberts verglich, welcher den wütenden Galopp des Pferdes der Ballade so treffend wiedergibt, behauptete, Tomaschek habe die friedliche Gangart der Mähre eines Geistlichen nachgeahmt; aber ein Kritiker, der verständiger und fähiger war als sein Nachbar, in kunstphilosophischen Dingen zu entscheiden, machte diese Ironie zunichte und entgegnete sehr zutreffend: »Das kommt eben daher, weil Schubert den Unglücksgaul so hart hat laufen lassen, daß er lahm geworden ist und jetzt im Schritt geführt werden muß.« Tomaschek schreibt seit wenigstens dreißig Jahren; der Katalog seiner Produkte muß infolgedessen erschrecklich sein.

Schließlich muß ich einer liebenswürdigen Virtuosin gedenken, deren in Deutschland sehr seltenes Talent mir persönlich von großem Nutzen war. Es handelt sich um Fräulein Claudius, eine Harfenistin ersten Ranges, die sehr musikalisch und die beste Schülerin von Parish-Alvars ist. Fräulein Claudius ist überdies im Besitz einer bemerkenswerten Stimme und trägt oft mit glänzendem Erfolg Soli in der Singakademie vor, deren Mitglied sie ist.

Was soll ich Ihnen vom Publikum sagen? ... Man berichtet, Ludwig XIV. habe, als er Boileau zu seinen Versen über die Rheinüberschreitung beglückwünschen wollte, zu diesem gesagt: »Ich würde Ihnen hohes Lob spenden, wenn Sie mich nicht so gelobt hätten.« Ich bin in derselben Verlegenheit, wie der große König; ich würde auf den Scharfsinn, die Schnelligkeit der Auffassung und die Feinfühligkeit des Prager Publikums eine schöne Lobrede halten, wenn es mich nicht so gut behandelt hätte. Indessen kann ich sagen, denn das ist allbekannt, daß die Böhmen im allgemeinen die besten Musiker Europas sind, und daß reines, lebhaftes Musikempfinden bei ihnen in allen Schichten der Gesellschaft verbreitet ist. Es kamen nicht nur Leute aus dem Prager Volke, sondern sogar Bauern zum Konzert, das ich im Theater gab, da dank ihrer Billigkeit gewisse Plätze ihnen zugänglich waren, und von den eigenartig naiven Ausrufungen, die ihnen im Augenblick der unerwartetsten Effekte entfuhren, konnte ich auf das Interesse schließen, das diese Zuhörer an meinen musikalischen Versuchen nahmen, und ferner, daß die Güte ihres Gedächtnisses ihnen erlaubte, Vergleiche anzustellen zwischen Bekanntem und Unbekanntem, Altem und Neuem, Gutem und Schlechtem. Sie werden, mein lieber Freund, eine Aufzählung meiner Meinungen über das Publikum überhaupt hier nicht verlangen; zum gründlichen Studium dieses vielfältigen, gerechten oder ungerechten, vernünftigen oder launischen, naiven oder boshaften, begeisterten oder höhnenden, so leicht hinzureißenden und manchmal so rebellischen Wesens, genannt das Publikum, würde ein Buch nicht ausreichen. Und übrigens wäre ein ausschließlich der Lösung dieses Problems gewidmetes Buch sehr wahrscheinlich auf der letzten Seite nicht weiter als auf der ersten. Selbst Voltaire verlor darüber seine Ironie; und nachdem er gefragt hatte, wieviel Dummköpfe zur Bildung eines Publikums gehörten, ließ er sich am Ende seiner Laufbahn von denselben Dummköpfen im Théatre Français feiern und fühlte sich von ihrem Urteil überschwänglich beglückt. Also brechen wir hier doch ab und lassen wir das Publikum sein, was es ist: ein stets mehr oder minder bewegtes Meer, dessen glatte Stille aber die Künstler tausendmal mehr fürchten müssen, als seine Stürme.

Ich habe in Prag sechs Konzerte gegeben, teils im Theater, teils im Sophiensaal. Ich entsinne mich, im letzten die Freude gehabt zu haben, meine Sinfonie »Romeo und Julie« zum ersten Male Liszt zu Gehör zu bringen. Man kannte in Prag schon mehrere Bruchstücke aus diesem Werke, das zu heftigen Polemiken keinerlei Veranlassung gab, vielleicht weil es deren in Wien sehr heftige hervorgerufen hatte; denn die Tatsache der Rivalität dieser beiden Städte in bezug auf den musikalischen Geschmack ist unbestreitbar. Die Ausführung des vokalen Teiles war hervorragend und großartig; ein einziger Zwischenfall entstellte sie. Die junge Person, welche mit dem Alt-Solo betraut war, hatte noch niemals öffentlich gesungen. Trotz ihrer hochgradigen Schüchternheit ging alles gut, solange sie sich durch einige andere Stimmen oder Instrumente gestützt fühlte; aber bei der Stelle des Prologs:

Der junge Romeo, beklagend sein Geschick,

einem wirklichen Solo ohne irgendwelche Begleitung, begann ihre Stimme zu zittern und dergestalt zu sinken, daß sie, am Schluß der Periode, wo die Harfe mit dem E-Dur-Dreiklang wieder eintritt, in einer unbekannten, ein und einen Viertelton tiefer als E stehenden Tonart angekommen war. Fräulein Claudius, die neben meinem Pult saß, wagte die Saiten ihrer Harfe nicht zu berühren. Endlich, nach einem Augenblicke des Zögerns, fragte sie mich mit leiser Stimme:

– »Soll ich den E-Dur-Akkord angeben?«

– »Nur zu; wir müssen notwendig fertig werden.« Und der unerbittliche Akkord spritzte auf, sprühend und zischend, wie ein Löffel geschmolzenes Blei, den man in kaltes Wasser gießt. Der armen kleinen Sängerin wäre fast schlecht geworden, als sie sich so kurzerhand auf den Weg des Guten zurückgewiesen sah, und da sie kein Französisch verstand, konnte ich, sie zu ermutigen, meine Beredsamkeit nicht zu Hilfe nehmen. Glücklicherweise gelang es ihr, vor dem Strophenlied »Erstes Entzücken«, das sie mit viel Seele und tadellos rein sang, ihren Gleichmut wiederzugewinnen. Strakaty gab die Rolle des Pater Laurentius unübertrefflich; im Finale verlieh er ihr Salbung und wirkliche Begeisterung. Nachdem an diesem Tage das Publikum mehrere Sätze hatte zweimal spielen lassen, erbat es sich einen anderen, den die Musiker mich beschworen nicht zu wiederholen. Aber als das Geschrei fortdauerte, zog Herr Mildner seine Uhr und hielt sie ostentativ in die Höhe. So verstand man denn, daß die vorgeschrittene Zeit dem Orchester nicht gestattete, bis zum Schluß des Konzerts zu bleiben, wenn der von neuem verlangte Satz noch einmal gespielt würde; um sieben Uhr abends war Oper. Diese weise erdachte Pantomime rettete uns. Als ich am Schluß des Konzerts Liszt bat, mein Dolmetsch zu sein, um den ausgezeichneten Sängern zu danken, die sich drei Wochen lang einem so peinlich genauen Studium meiner Chöre gewidmet und sie so tapfer gesungen hatten, wurde er von mehreren angeredet, die, im Namen ihrer Kameraden, ihm den umgekehrten Vorschlag zu machen kamen. Und nach einigen auf deutsch gewechselten Worten, wandte sich Liszt zu mir und sagte:

– »Mein Auftrag ist nicht mehr derselbe; die Herren bitten mich ihrerseits, dir für das Vergnügen zu danken, das du ihnen durch die Übertragung der Aufführung deines Werkes gemacht, und dir ihre Freude über deine Zufriedenheit auszudrücken.«

Das war in der Tat ein Ehrentag für mich, wie ich ihrer wenige in meinen Erinnerungen zähle.

Nach dem Beispiel des Banketts, bei dem mir die Künstler und Kunstfreunde Wiens den schon erwähnten Taktstock aus vergoldetem Silber überreicht hatten, gab es hernach ein Souper, wo die von Prag mir einen silbernen Pokal freundlichst zum Geschenk machten. Die meisten Virtuosen, Kritiker und Kunstfreunde der Stadt befanden sich dort; ich hatte sogar das Vergnügen, unter den letztgenannten einen Landsmann, den geistreichen, wohlwollenden Fürsten de Rohan zu sehen. Liszt wurde einstimmig gewählt, an Stelle des Präsidenten, der mit der französischen Sprache nicht hinlänglich vertraut war, das Wort zu führen. Beim ersten Toast hielt er, im Namen der Versammlung, wenigstens eine Viertelstunde lang eine Ansprache an mich, von einer Herzenswärme, einem Gedankenreichtum und einer Gewähltheit des Ausdrucks, um die ihn viele Redner beneidet hätten und die mich lebhaft ergriff. Leider trank er ebensogut, als er sprach. Das Widmungsgeschenk der Festgenossen, der perfide Pokal, wälzte solche Wogen von Champagner, daß Liszts ganze Beredsamkeit darin Schiffbruch litt. Belloni Liszts Impresario. und ich waren in den Straßen Prags noch um zwei Uhr morgens beschäftigt, ihn zur Erwartung des Tageslichts zu überreden, ehe er sich (was er durchaus wollte) auf zwei Schritt Distanz mit einem Böhmen schösse, der es ihm im Trinken zuvor getan. Als der Tag gekommen, waren wir nicht ohne Unruhe wegen Liszt, dessen Konzert mittags stattfinden sollte. Um halb zwölf schlief er noch; endlich weckte man ihn, er steigt in den Wagen, kommt im Konzertsaal an, wird von einer dreifachen Beifallssalve empfangen und spielt, wie er, glaub' ich, in seinem Leben noch nicht gespielt hatte.

Es gibt einen Gott der ... Pianisten.

Adieu, mein lieber Ferrand, Sie werden sich, fürchte ich, nicht über den Lakonismus meiner Briefe beklagen. Gleichwohl habe ich noch nicht ausgesprochen, was ich alles an zärtlicher Sehnsucht nach Prag und seinen Einwohnern empfinde; aber ich habe eine ernste Leidenschaft für die Musik, das wissen Sie, und können demnach beurteilen, ob ich die Böhmen liebe. O Praga! quando te aspiciam!


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