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10.

Mein Vater entzieht mir meine Pension. Meine Rückkehr nach la Côte. Wie man in der Provinz über Kunst und Künstler denkt. Verzweiflung. Mein Vater erschrickt. Er willigt in meine Rückkehr nach Paris. Fanatismus meiner Mutter. Sie verflucht mich.

 

Die Art Erfolg, den ich durch die erste Aufführung meiner Messe errungen, hatte die familiären Zwistigkeiten, unter denen ich so sehr litt, einen Augenblick beigelegt, als ein neuer Vorfall sie wieder entfachte und die Unzufriedenheit meiner Eltern verdoppelte.

Ich meldete mich zum Wettbewerb für musikalische Komposition, der alljährlich am Institut stattfindet. Ehe die Kandidaten zugelassen werden, müssen sie sich einem Vorexamen unterziehen, nach dem die Schwächsten ausgeschlossen werden. Unglücklicherweise befand ich mich unter diesen. Mein Vater erfuhr es und benachrichtigte mich diesmal ohne weiteres, ich solle, falls ich darauf bestünde, in Paris zu bleiben, nicht länger auf ihn zählen; er entziehe mir meine Pension. Mein guter Lehrer schrieb ihm sogleich einen dringlichen Brief, um ihn von dieser Entscheidung abzubringen; er versicherte ihn, daß an meiner musikalischen Zukunft durchaus nicht zu zweifeln sei, und »daß mir die Musik aus allen Poren dränge«. Um darzutun, wie notwendig es sei, meinem innern Trieb nachzugeben, mischte er gewisse religiöse Ideen unter seine Beweisgründe, die ihm gewichtig schienen, aber sicherlich das ungeeignetste waren, was er für diese Gelegenheit hätte aussuchen können. Die ungestüme, unbeugsame, ja fast unhöfliche Antwort meines Vaters verfehlte denn auch nicht, die Empfindlichkeit Lesueurs und seine innerste Überzeugung heftig zu kränken. Sie begann also: »Ich bin ein Ungläubiger, mein Herr!« Man denke sich das übrige.

Eine unbestimmte Hoffnung, meiner Sache aufzuhelfen, wenn ich sie selbst vertrat, gab mir soviel Fassung, daß ich mich für den Augenblick unterwarf. Ich kehrte also nach la Côte zurück.

Nach eisigem Empfang überließen mich meine Eltern einige Tage lang meinen Betrachtungen und ermahnten mich endlich, mir irgendeinen Beruf auszusuchen, da ich ja die Medizin nicht ergreifen wolle. Ich antwortete, mein Hang zur Musik sei einzig und allmächtig, und ich könne unmöglich glauben, daß ich nicht nach Paris zurückkehren sollte, mich ihm hinzugeben. »Du wirst dich gleichwohl mit diesem Gedanken vertraut machen müssen,« sagte mein Vater, »denn du wirst nie dorthin zurückkehren!«

Von diesem Moment ab versank ich fast gänzlich in Schweigen, antwortete kaum auf die an mich gerichteten Fragen, aß nicht mehr und brachte meine Tage damit hin, teils in Feld und Wald umherzuschweifen, teils mich auf meinem Zimmer einzuschließen. Ich hatte – die Wahrheit zu sagen – keinerlei Pläne; die dumpfe Gärung meiner Gedanken und der Zwang, dem ich ausgesetzt war, schienen meinen Verstand völlig verdunkelt zu haben. Selbst meine Wut erlosch; ich ging zugrunde aus Mangel an Luft.

Eines Morgens früh weckte mich mein Vater! »Steh auf«, sagte er, »und komm', wenn du angezogen bist, auf mein Zimmer, ich habe mit dir zu reden!« Ich gehorchte, ohne zu ahnen, worum es sich handele. Die Art meines Vaters war eher gedrückt und traurig, als streng gewesen. Beim Eintritt in sein Zimmer bereitete ich mich darum nicht weniger vor, einem neuen Ansturm standzuhalten, als mich die folgenden unerwarteten Worte im tiefsten erschütterten: »Nach mehreren schlaflosen Nächten habe ich meinen Entschluß gefaßt ... Ich will dich in Paris Musik studieren lassen ... aber nur auf einige Zeit; und wenn du auch weitere Proben nicht günstig bestehst, wirst du mir wohl soviel Gerechtigkeit widerfahren lassen, zuzugeben, daß ich alles getan, was man vernünftigerweise tun konnte, und wirst dich, wie ich voraussetze, zu einem andern Beruf entscheiden. Du weißt, wie ich über mittelmäßige Poeten denke; die mittelmäßigen Künstler aller Art gelten nicht mehr; und es wäre für mich ein tödlicher Kummer, eine tiefe Demütigung, dich in der Menge dieser unnützen Menschen verschwinden zu sehen!«

Mein Vater hatte, ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, mehr Nachsicht mit den mittelmäßigen Ärzten gezeigt, die ganz ebenso zahlreich, wie die schlechten Künstler, nicht nur unnütz, sondern sogar sehr gefährlich sind! So ist es immer, auch bei hervorragenden Geistern; sie bekämpfen die Meinungen anderer mit unumstößlichen Vernunftgründen, ohne zu bemerken, daß diese zweischneidigen Waffen ihren eigenen Lieblingsideen gleich verhängnisvoll werden können.

Es hielt mich nicht länger: ich fiel meinem Vater um den Hals und versprach alles, was er wollte. »Außerdem«, begann er wieder, »habe ich es, da der Standpunkt deiner Mutter in diesem Falle wesentlich von dem meinen abweicht, nicht für gut befunden, ihr meinen neuen Entschluß mitzuteilen, und damit wir allen unangenehmen Szenen ausweichen, verlange ich, daß du reinen Mund hältst und heimlich nach Paris abreisest.« Ich gab also am ersten Tage acht, mir kein unbedachtes Wort entschlüpfen zu lassen; aber dieser Umschwung aus stummer, scheuer Traurigkeit in trunkene Freude, die ich mir nicht die Mühe nahm zu verbergen, war zu außerordentlich, um nicht die Neugier meiner Schwestern zu erregen; und Nanci, die ältere, machte es so arg, bestürmte mich mit so lebhaften Bitten, sie den Grund wissen zu lassen, daß ich ihr schließlich alles gestand ... unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Sie bewahrte es so gut, als ich, wie sich voraussehen ließ, und bald waren das ganze Haus, die Freunde des Hauses und endlich meine Mutter unterrichtet.

Um das Folgende zu verstehen, muß man wissen, daß meine Mutter, deren religiöse Anschauungen sehr schwärmerischer Art waren, hiermit auch solche verband, wie sie noch heutigen Tages unglücklicherweise von vielen Leuten in Frankreich geteilt werden, Ansichten über die Künste, die näher oder ferner mit dem Theater in Verbindung stehen. Für sie waren Schauspieler und Schauspielerinnen, Sänger, Musiker, Poeten, Komponisten abscheuliche Kreaturen, die aus der Kirche ausgestoßen und demnach für die Hölle bestimmt waren. In diesem Zusammenhang gab mir eine meiner Tanten, deren Kopf von den »liberalen« Ansichten meiner Mutter erfüllt war, eines Tages eine erstaunliche Antwort. (Sie liebt mich heute gleichwohl aufrichtig und achtet mich noch, wie ich hoffe.) Im Laufe einer Diskussion hatte ich zu ihr gesagt: »Nach deiner Ansicht zu schließen, liebe Tante, wärst du, glaub' ich, böse darüber, wenn Racine mit dir verwandt wäre?« – »Lieber Freund ... der gute Ruf über alles!« Lesueur wollte vor Lachen ersticken, als ich ihm dieses charakteristische Wort später in Paris erzählte. Da er denn auch eine solche Anschauungsweise nur einem altersschwachen Mütterchen zutrauen mochte, so fragte er mich stets, wenn er bei guter Laune war und Neuigkeiten über die Feindin Racines wissen wollte, nach »meiner alten Tante«, obgleich sie damals jung und bildhübsch war.

Meine Mutter also, die überzeugt war, daß ich, wenn ich mich der Musik widmete, – die nach französischer Anschauung außerhalb des Theaters nicht existiert – einen Weg betrete, der zur Schande in dieser und zur Verdammnis in jener Welt führe, hatte nicht so bald Wind von jenen Vorgängen bekommen, als ihr auch schon die Seele vor Entrüstung schwoll. Ihr empörter Blick belehrte mich, daß sie alles wußte. Ich hielt es für gut, ihr auszuweichen und mich bis zum Augenblick meiner Abreise verborgen zu halten.

Aber ich hatte mich kaum seit einigen Minuten in mein Versteck geflüchtet, als sie mir mit funkelnden Augen folgte; alle ihre Bewegungen deuteten auf eine außergewöhnliche Erregtheit. »Ihr Vater«, sprach sie, – sie duzte mich nicht, wie gewöhnlich, – »war so schwach, seine Einwilligung zu Ihrer Rückreise nach Paris zu geben, er begünstigt Ihre Tollheiten und sträflichen Pläne! ... Ich für mein Teil möchte einen solchen Vorwurf nicht auf mich laden und widersetze mich in aller Form dieser Abreise!« – »Mutter!« ... – »Ja, ich widersetze mich dem und beschwöre Sie, Hector, nicht in Ihrem Wahnsinn zu verharren. Da – ich falle Ihnen zu Füßen; ich, Ihre Mutter, bitte Sie demütig, zu entsagen ...« – »Mein Gott, Mutter, erlaube, daß ich dich aufhebe, ich kann ... diesen Anblick nicht ertragen ...« – »Nein, ich bleibe! ...« Und, nach einer Pause: »Du weigerst dich, Unglücklicher! Du konntest, ohne dich erweichen zu lassen, die Mutter zu deinen Füßen sehen! Nun denn! Geh! Laß dich in den Kot von Paris ziehen, entehre deinen Namen, laß uns, deinen Vater und mich, vor Schande und Kummer sterben! Ich verlasse das Haus, bis du dich aus ihm entfernt hast. Du bist nicht mehr mein Sohn! Ich fluche dir!«

Ist es zu glauben! Diese religiösen Anschauungen, gestützt durch all das, was Provinzvorurteile an unverschämtester Verachtung der Kunstpflege enthalten, konnten zwischen einer so zärtlichen Mutter, wie der meinen, und einem so erkenntlichen, ehrerbietigen Sohne, wie ich immer gewesen, eine derartige Szene hervorrufen? ... Eine Szene voll überspannter Heftigkeit, unwahrscheinlich, grauenhaft, die ich nie vergessen werde und die nicht wenig dazu beigetragen hat, den Haß zu nähren, den ich gegenüber diesen stupiden Satzungen hege, diesen Überresten des Mittelalters, die sich in den meisten Provinzen Frankreichs noch bis auf den heutigen Tag erhalten haben.

Die harte Prüfung war damit noch nicht beendet. Meine Mutter war verschwunden; sie hatte sich auf ein Landhaus, »le Chuzeau« mit Namen, geflüchtet, das wir bei la Côte besaßen. Als die Stunde der Abreise gekommen war, wollten mein Vater und ich mit einer letzten Anstrengung versuchen, ein Abschiedswort und die Widerrufung ihrer grausamen Worte von ihr zu erlangen. Wir kamen mit meinen beiden Schwestern auf le Chuzeau an. Meine Mutter las im Obstgarten unter einem Baum. Als sie uns bemerkte, stand sie auf und floh. Wir warteten lange, gingen ihr nach, mein Vater rief sie, die Schwestern und ich weinten; alles vergebens; ich mußte fort, ohne meine Mutter zu umarmen, ohne ein Wort, einen Blick von ihr, und beladen mit ihrem Fluch! ...


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