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62.

Ich inszeniere den Freischütz in der Oper. Meine Rezitative. Die Sänger. Dessauer. Herr Léon Pillet. Verwüstungen in Webers Partitur durch seine Nachfolger.

 

Ich kam von dieser langen Wanderung in Deutschland zurück, als Herr Pillet, der Operndirektor, den Plan faßte, den Freischütz in Szene zu setzen. Aber in diesem Werke sind die Musikstücke eingeleitet und gefolgt von Dialogen in Prosa, wie in unsern komischen Opern; und da das Herkommen fordert, daß in der Oper alles gesungen werde – seien es Dramen oder lyrische Tragödien –, so mußte der gesprochene Text zu Rezitativen umgewandelt werden. Herr Pillet schlug mir diese Arbeit vor.

– »Ich glaube nicht,« antwortete ich ihm, »daß man dem Freischütz die Rezitative hinzufügen darf, die Sie von mir verlangen; da das indessen die Bedingung ist, ohne die er in der Oper nicht aufgeführt werden kann, und da Sie, wenn ich jene nicht schriebe, die Komposition einem andern auftragen würden, der vielleicht weniger vertraut mit Weber wäre, als ich, und sicherlich weniger auf die Verherrlichung seines Meisterwerkes bedacht, so nehme ich Ihren Vorschlag an unter einer Bedingung: der Freischütz wird gespielt durchaus so, wie er ist, ohne Veränderungen in Text oder Musik.«

– »Das ist ganz meine Absicht,« versetzte Herr Pillet, »halten Sie mich für fähig, das Ärgernis des Robin des bois zu wiederholen?«

– »Sehr schön. In diesem Falle will ich mich ans Werk machen. Wie denken Sie die Rollen zu verteilen?«

– »Ich werde die Agathe der Frau Stolz geben, das Ännchen dem Fräulein Dobré, Duprez soll den Max singen.«

– »Ich wette das Gegenteil,« unterbrach ich ihn.

– »Warum sollte er ihn denn nicht singen?«

– »Das werden Sie bald erfahren.«

– »Bouché wird ein vortrefflicher Kaspar sein.«

– »Und wen haben Sie für den Eremiten?«

– »Oh!« ... versetzte verlegentlich Herr Pillet, »das ist eine unnütze Rolle, die Längen verursacht; meine Absicht wäre, die ganze Partie des Werkes, in der er vorkommt, zu streichen.«

– »Weiter nichts? Das nennen Sie also den Freischütz respektieren und Herrn Castil-Blaze nicht nachahmen! ... Wir sind weit davon entfernt, uns zu verstehen; Sie erlauben, daß ich mich zurückziehe; es ist mir unmöglich, mich irgendwie in diese neue ›Verbesserung‹ zu mischen.«

– »Mein Gott, sind Sie eigensinnig in Ihren Ansichten! Also gut! Der Eremit und alles andere soll beibehalten werden; mein Wort darauf.«

Da mir Emilien Paccini, der den deutschen Text übersetzen sollte, gleichfalls diese Versicherung gegeben hatte, willigte ich, nicht ohne Mißtrauen, ein, mich mit der Komposition der Rezitative zu befassen. Das Gefühl, das mich zur Forderung, den Freischütz unberührt zu erhalten, getrieben hatte, ein Gefühl, das viele Leute als Fetischismus bezeichnen würden, hob so jeden Vorwand zu Bearbeitungen, Zerrüttungen, Kürzungen und Korrekturen auf, denen man sich jedenfalls eifrigst gewidmet hätte. Aber aus meiner Unbeugsamkeit mußte auch ein schwerer Übelstand erwachsen: der gesprochene Dialog erschien, gänzlich in Musik gesetzt, zu lang, trotz der von mir angewandten Vorsicht, ihn so schnell wie möglich wiederzugeben. Nie konnte ich den Darstellern ihre langsame, schwere, emphatische Art, das Rezitativ zu singen, abgewöhnen; und hauptsächlich in den Szenen zwischen Max und Kaspar hatte der musikalische Vortrag ihrer wesentlich einfachen, familiären Unterhaltung den ganzen Pomp und die Feierlichkeit einer Szene aus der lyrischen Tragödie. Das schadete der allgemeinen Wirkung des Freischütz ein wenig, wiewohl er dennoch einen rauschenden Erfolg hatte. Ich wollte nicht als Autor dieser Rezitative genannt sein, in denen Künstler und Kritik trotzdem dramatische Eigenschaften fanden, ein besonderes Verdienst: das der Treue des Stils, der, wie sie sagten, sich vollkommen an den Webers anschloß, und das der Zurückhaltung in der Instrumentation, welches selbst meine Feinde gezwungen waren anzuerkennen.

Wie ich es vorausgesehen, konnte Duprez, der vor zehn Jahren, mit seiner kleinen Spieltenorstimme, den Max (Tony) im Pasticcio » Robin des bois« am Odeon gesungen hatte, seine nun große Heldentenorstimme derselben Rolle, die allerdings im allgemeinen etwas tief liegt, nicht anpassen. Er schlug die merkwürdigsten Transpositionen vor, die natürlich mit den unsinnigsten Modulationen durchsetzt waren, mit den groteskesten Lötfugen ... Ich machte diesem Wahnsinn kurzerhand ein Ende, indem ich Herrn Pillet erklärte, daß Duprez die Rolle nicht singen könne, ohne sie, nach seinem eigenen Geständnis, vollständig zu entstellen. Sie wurde sodann dem zweiten Tenor Marié anvertraut, dessen Stimme in der Tiefe nicht ohne Charakter ist, einem sehr guten Musiker, der aber als Sänger schwerfällig und zähflüssig ist.

Frau Stoltz konnte die Agathe nicht mehr singen, ohne ihre beiden Hauptarien zu transponieren: ich mußte die erste, die in E steht, nach D umsetzen, und das Gebet in aus dem dritten Akt eine kleine Terz tiefer rücken, wodurch es sein reizendes Kolorit zu drei Vierteln verlor. Dafür konnte sie das H-Dur des Schlußsextettes beibehalten, dessen Sopran mit soviel Schwung und Begeisterung von ihr gesungen wurde, daß sie jeden Abend den ganzen Saal zu lautem Beifall hinriß.

Die Ursache, warum sich die Sänger weigern, gewisse Rollen so wiederzugeben, wie sie geschrieben sind, besteht zu einem Viertel aus Unverstand und zur guten Hälfte aus Laune.

Ich kann mich erinnern, daß sich Duprez in der Romanze aus meiner Oper Benvenuto Cellini »Dem Ruhme galt mein einzig Streben« hartnäckig weigerte, ein mittleres g zu singen, den bequemsten Ton seiner Stimme und aller Stimmen. Anstatt der Töne g-d auf dem Wort protège, die auf eine anmutige, pikante Weise zur Schlußkadenz führen, bevorzugte er d-d, was ein großer Gemeinplatz ist. In der Arie »Du Heimat meiner Väter« ( Asile héréditaire) aus Wilhelm Tell wollte er niemals das aus dem fis enharmonisch verwechselte ges singen, das doch von Rossini mit soviel Geschick und vorsätzlich angebracht ist, um den Wiedereintritt des Themas in der Originaltonart herbeizuführen. Er schob immer ein f unter, das eine banale Härte erzeugt und den ganzen Reiz der Modulation zerstört.

Eines Tages kam ich mit Duprez vom Lande zurück und saß an seiner Seite im Wagen, der uns heimfuhr. Es fiel mir ein, ihm die Rossinische Phrase mit dem ges ins Ohr zu summen. Duprez errötete leicht, sah mich von der Seite an und sagte zu mir:

– »Ah, Sie kritisieren mich!«

– »Aber freilich! Gewiß kritisiere ich Sie. Warum zum Teufel bringen Sie die Stelle nicht so, wie sie ist?« ...

– »Ich weiß nicht ... Diese Note stört, beunruhigt mich ...«

– »Gehen Sie! Sie machen sich lustig. Mit welchem Recht sollte sie Sie stören, da sie keinen der andern Künstler stört, die weder Ihre Stimme noch Ihr Talent haben?«

– »Vielleicht haben Sie recht ...«

– »Wetter ja! Gewiß habe ich recht.«

– »Nun also! Ihnen zuliebe werde ich künftig ges singen.«

– »Durchaus nicht; singen Sie es Ihnen, den Zuhörern, dem guten Geschmack zuliebe; es ist befremdlich, daß ihn ein Künstler, wie Sie, außer acht läßt.«

Bah! weder mir, noch sich, noch Rossini, noch der Musik, noch dem gesunden Menschenverstand zuliebe sang Duprez in den Aufführungen des Wilhelm Tell jemals ges. Weder Engel noch Teufel werden ihn von seinem verruchten f abbringen. Er wird unbußfertig sterben.

Der Bassist Serda, der im Benvenuto Cellini die Rolle des Kardinals innehatte, behauptete, das hohe es in seiner Arie »Gnade dem Sünder allerwege« nicht erreichen zu können, und machte durch die Transposition dieses Tones in die tiefere Oktave einen Sextensprung abwärts anstatt eines Terzenschrittes aufwärts, was die Melodie vollkommen entstellte. Eines Tages war er dringend verhindert, einer Probe beizuwohnen: man bat Alizard, ihn zu vertreten. Dieser sang mit seiner prächtigen Stimme, deren ausdrucksvolle Kraft und Schönheit man noch nicht anerkennen wollte, meine Arie ohne die geringste Veränderung vom Blatt, und zwar so, daß die zuhörenden Choristen um ihn herum warmen Beifall spendeten. Serda erfuhr den Erfolg, und andern Tages fand er das es. Beachtenswert ist, daß derselbe Serda, der diesen Ton in meiner Arie nicht erreichen zu können vorgab, als St. Bris in den Hugenotten nicht nur e, sondern sogar das hohe fis brachte.

Welch ein Volk, diese Sänger!

Ich komme auf den Freischütz zurück.

Man versäumte nicht, ein Ballet einzulegen. All meine Anstrengungen, das zu verhindern, blieben vergeblich. So schlug ich denn vor, eine choreographische Szene zusammenzustellen, für die Weber selbst einen Fingerzeig gibt in seinem Rondo für Klavier »Die Aufforderung zum Tanz«, und instrumentierte das liebenswürdige Stück für Orchester. Aber anstatt den durch die Musik völlig vorgezeichneten Plan zu verfolgen, wußte der Choreograph nichts, als Gemeinplätze für den Tanz zu finden, banale Kombinationen, die beim Publikum nur einen sehr mäßigen Eindruck machen konnten. Um dann die Qualität durch die Quantität zu ersetzen, forderte man die Anfügung dreier anderer Tänze. Nun, da gab es Tänzer, die es sich in den Kopf gesetzt hatten, in meinen Sinfonien gäbe es Sätze, die zum Tanzen sehr geeignet wären und die das Ballet aufs beste vervollständigten. Sie sprachen mit Herrn Pillet darüber; dieser floß in ihrem Sinne über und wollte mich bitten, in Webers Partitur den Ball aus meiner phantastischen Sinfonie und das Fest bei Capulet aufzunehmen.

Der deutsche Komponist Dessauer befand sich damals in Paris und besuchte fleißig die Kulissen der Oper. Was den Vorschlag des Direktors betrifft, so beschränkte ich mich auf die Antwort:

– »Ich kann nicht darein willigen, Musik in den Freischütz aufzunehmen, die nicht von Weber ist; aber um Ihnen zu beweisen, daß dies keineswegs aus einer übertriebenen, unvernünftigen Verehrung für den großen Meister geschieht, wollen wir Dessauer, der da oben im Hintergrunde der Bühne spazieren geht, Ihren Gedanken vortragen; wenn er ihn billigt, erkläre ich mich einverstanden; wenn nicht, bitte ich Sie, nicht mehr mit mir darüber zu reden.«

Bei den ersten Worten des Direktors wandte sich Dessauer lebhaft zu mir und sagte:

– »O! Berlioz – tun Sie das nicht.«

– »Sie hören es,« sagte ich zu Herrn Pillet.

Infolgedessen war nicht mehr die Rede davon. Wir nahmen Tanzweisen aus Oberon und Preziosa, und so wurde das Ballet mit Kompositionen von Weber vervollständigt. Aber nach einigen Vorstellungen verschwanden die Stücke aus Oberon und Preziosa; dann wurden in der »Aufforderung zum Tanz«, die trotz ihrer Transkription für Orchester sehr viel Erfolg gehabt hatte, kreuz und quer Striche angebracht. Als Herr Pillet die Direktion der Oper niedergelegt hatte und ich in Rußland war, kam man überein, dem Freischütz einen Teil vom Finale des dritten Aktes wegzuschneiden; schließlich wagte man es, im selben Akte das ganze erste Bild mit dem erhabenen Gebet der Agathe, die Szene mit den Brautjungfern und Ännchens so romantische Arie mit dem Bratschensolo wegzulassen.

Und, so geschändet, führt man heute den Freischütz in der Pariser Oper auf. Dieses Meisterwerk an Poesie, Ursprünglichkeit und Leidenschaft dient den miserabelsten Balletten als Einleitung und muß daher verunstaltet werden, um ihnen Platz zu machen. Wenn irgendein neues choreographisches Werk, das länger ist, als seine Vorläufer, das Licht erblickt, wird man ohne Zögern den Freischütz von neuem beschneiden. Und wie führt man den Rest auf! Welche Sänger! Was für ein Kapellmeister! Welch schlappe Schläfrigkeit in den Tempi! Welche Mißstimmigkeit in den Ensembles! Welch platte, stupide, empörende Interpretation überall, von allen Seiten! ... Man braucht nur ein Erfinder, ein Lichtspender, ein Mann von Geist, ein Genius zu sein, um so gemartert, besudelt, geschändet zu werden! Plumpe Krämerseelen! Bis euch die Geißel eines neuen Christus aus dem Tempel jagt, seid versichert, das alles, was in Europa den geringsten Sinn für Kunst besitzt, aufs tiefste euch verachtet.


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