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60.

Berlin.

 

An Desmarest

Ich würde mit der Königstadt Berlin kein Ende finden, wenn ich auf seine musikalischen Reichtümer im einzelnen eingehen wollte. Es gibt, wenn überhaupt, wenig Hauptstädte, die sich gleicher harmonischer Schätze rühmen können. Die Musik liegt dort in der Luft, man atmet sie, sie durchdringt einen. Man findet sie im Theater, in der Kirche, im Konzert, auf der Straße, in den öffentlichen Gärten, überall; stets groß und kühn, stark und behende, strahlend im Schmuck der Jugend, edeln, ernsthaften Wesens, ein schöner, gerüsteter Engel, dem es manchmal beliebt zu schreiten, aber mit zitternden Schwingen, bereit, seinen Flug wieder himmelwärts zu nehmen.

Denn die Musik ist in Berlin von allen geachtet. Reich und arm, Klerisei und Militär, Künstler und Kunstfreunde, Volk und König zollen ihr gleiche Verehrung. Der König besonders widmet sich ihrer Pflege mit demselben echten Eifer, den er dem Kultus der Wissenschaften und anderen Künsten entgegenbringt – und das will viel sagen. Er verfolgt begierigen Blicks die Fortschritte, ja, ich möchte sagen: Kapriolen der neuen Kunst, ohne die Erhaltung der Meisterwerke alter Schule zu vernachlässigen. Er hat ein wunderbares, für seine Bibliothekare und Kapellmeister sogar peinliches Gedächtnis, wenn er aus heiterem Himmel die Aufführung gewisser Stücke von alten Meistern verlangt, die kein Mensch mehr kennt. Nichts entgeht ihm in der Domäne der Gegenwart, noch in der der Vergangenheit; er will alles hören und alles prüfen. Daher die lebhafte Anziehung, die Berlin auf große Künstler übt; daher die außerordentliche Volkstümlichkeit musikalischen Empfindens in Preußen; daher die Institute seiner Hauptstadt auf dem Gebiete der Chor- und Instrumentalmusik, die mir so bewundernswert erschienen sind.

Zu diesen gehört die Singakademie. Wie die in Leipzig, wie alle andern Akademien ähnlicher Art in Deutschland, wird sie fast ganz von Liebhabern gebildet; aber mehrere Künstler beiderlei Geschlechts, die dem Theater angehören, nehmen gleichfalls teil daran. Und die Damen von Welt glauben sich nichts zu vergeben, wenn sie ein Oratorium von Bach an der Seite von Mantius, Boeticher oder Fräulein Hähnel mitsingen. – Die meisten Sänger der Berliner Akademie sind musikalisch und fast alle haben frische, klangvolle Stimmen; namentlich die Soprane und Bässe kamen mir vortrefflich vor. Außerdem wird in den Proben unter der geschickten Leitung des Herrn Rungenhagen lange und geduldig studiert, so daß denn auch, wenn ein großes Werk vor das Publikum kommt, die Resultate großartig und außerhalb jeder Vergleichung mit dem sind, was wir in dieser Art in Paris hören können.

Am Tage, da ich, auf Einladung des Direktors, in die Singakademie ging, wurde die Passion von Sebastian Bach aufgeführt. Die berühmte Partitur, die Sie ohne Zweifel gelesen haben, ist für zwei Chöre und zwei Orchester geschrieben. Die Sänger, wenigstens dreihundert an der Zahl, waren auf den Stufen eines umfangreichen Amphitheaters aufgestellt, sehr ähnlich dem, das wir im Saale der Chemiekurse, im Jardin des Plantes, besitzen. Ein Zwischenraum von nur drei oder vier Fuß trennte die beiden Chöre. Die beiden schwach besetzten Orchester begleiteten die Stimmen von der Höhe der letzten Stufen, hinter den Chören, und befanden sich demnach in ziemlicher Entfernung vom Kapellmeister, der, vor dem Ganzen, niedrig und zur Seite des Pianos plaziert war. Eigentlich muß man Cembalo, nicht Piano sagen; denn es hatte fast den Ton der elenden Instrumente dieses Namens, die man zu Bachs Zeiten gebrauchte. Ich weiß nicht, ob man eine solche Wahl mit Absicht trifft, aber ich habe in den Gesangschulen, in den Übungsräumen der Theater, überall, wo es sich darum handelte, Singstimmen zu begleiten, bemerkt, daß das zu diesem Zwecke bestimmte Piano so erbärmlich war, wie man es nur finden konnte. Die einzige Ausnahme bildet dasjenige, dessen sich Mendelssohn im Leipziger Gewandhaussaal bediente.

Sie wollen mich fragen, was das Piano-Cembalo zu tun habe bei der Aufführung eines Werkes, in dem der Autor dieses Instrument überhaupt nicht angewendet hat! Es begleitet gleichzeitig mit den Flöten, Hoboen, Violinen und Bässen und dient wahrscheinlich dazu, die Intonation in den ersten Reihen des Chores rein zu erhalten, die, wie es scheint, bei den Tuttistellen das zu weit entfernte Orchester nicht gut hören können. Jedenfalls ist es Sache der Gewohnheit. Das beständige Klappern der auf dem schlechten Klavier angeschlagenen Akkorde wirkt gar einschläfernd und breitet einen überflüssigen Schleier von Monotonie über das Ganze; ohne Zweifel ein Grund mehr, mit dieser Gepflogenheit nicht zu brechen. Je weniger ein alter Brauch taugt, desto heiliger ist er!

Die Sänger sitzen alle, während sie pausieren, und stehen auf, sobald sie singen. Es ist gewiß ein wirklicher Vorteil für die Stimmgebung, im Stehen zu singen; nur geben leider die Choristen der Ermüdung in dieser Stellung allzu bereitwillig nach und wollen sich setzen, sobald sie mit ihrer Phrase fertig sind; hieraus folgt, daß in einem Werke, wie das Bachische, wo die beiden Chöre häufig dialogisieren und außerdem jeden Augenblick durch rezitativische Soli unterbrochen werden, immer irgendeine Gruppe aufsteht oder eine andere sich setzt, und daß dieses beständige Auf und Nieder schließlich ziemlich lächerlich wird. Übrigens nimmt es gewissen Choreinsätzen alles Überraschende, weil das Auge vor dem Ohr den Zeitpunkt anzeigt, in dem die Stimmen eintreten. Lieber noch würde ich die Choristen immer sitzen lassen, wenn sie nicht stehen bleiben können. Aber diese Unmöglichkeit gehört zu denen, die sofort verschwinden, wenn der Dirigent gehörig zu sagen weiß: ich will oder ich will nicht.

Wie dem auch sei, die Aufführung mit diesen Chormassen hatte für mich etwas Imponierendes. Das erste Tutti der beiden Chöre benahm mir den Atem; ich war bei weitem nicht auf die Gewalt dieser harmonischen Windsbraut gefaßt. Indessen muß eingeräumt werden, daß diese schöne Klangfülle viel rascher ermüdet, als die des Orchesters, da der Charakter der Singstimmen an Abwechslung hinter denen des Orchesters zurücksteht. Versteht sich; denn es gibt kaum vier Singstimmen von verschiedenem Charakter, während sich die Zahl der Instrumente verschiedener Gattungen auf mehr als dreißig beläuft.

Ich denke, mein lieber Desmarest, Sie erwarten von mir keine Analyse des großen Bachischen Werkes; diese Arbeit überschritte die Grenzen, die ich mir stecken muß, ganz und gar. Übrigens kann das Fragment, welches man vor drei Jahren im Konservatorium aufgeführt hat, als der stilistische Typus und die Manier des Komponisten in diesem Werke gelten. Die Deutschen bezeigen grenzenlose Bewunderung für seine Rezitative, und gerade ihre Vortrefflichkeit mußte mir entgehen, da ich die Sprache, in der sie geschrieben sind, nicht verstehe und also ihre Ausdrucksfähigkeit nicht würdigen kann.

Wenn man aus Paris kommt und unsere musikalischen Gebräuche kennt, muß man, um es zu glauben, Zeuge der Aufmerksamkeit, der Ehrfurcht, der Pietät gewesen sein, mit der ein deutsches Publikum eine derartige Kompositron anhört. Jeder folgt den Worten des Textbuches mit den Augen; nicht eine Bewegung im Auditorium, kein Gemurmel, weder zustimmendes, noch tadelndes, keine Beifallskundgebung; man ist in der Kirche, hört den Evangelisten singen, wohnt schweigend nicht einem Konzert, sondern einem Gottesdienste bei. Und so muß man diese Musik auch hören. Man betet Bach an, man glaubt an ihn, ohne einen Moment dem Gedanken Raum zu geben, seine Göttlichkeit könne jemals bezweifelt werden; ein Ketzer würde Abscheu erregen, man darf davon nicht einmal reden. Bach ist Bach, wie Gott Gott ist.

Einige Tage nach der Aufführung des Bachischen Meisterwerkes kündete die Singakademie die von Grauns »Tod Jesu« an. Das ist wiederum eine geweihte Partitur, ein heiliges Buch, dessen Bekenner sich aber speziell in Berlin befinden, während die Religion S. Bachs in ganz Norddeutschland verbreitet ist. Sie können sich vorstellen, wie mich dieser zweite Abend interessiert hätte, besonders nach dem Eindruck des ersten, und wie gern ich das vornehmste Werk des Kapellmeisters Friedrichs des Großen kennen gelernt hätte! Denken Sie sich mein Unglück! Gerade an diesem Tage werde ich krank. Der Arzt – obgleich ein großer Freund der Musik, der gelehrte, liebenswürdige Dr. Gaspard – verbietet mir, das Zimmer zu verlassen. Vergebens lädt man mich noch ein, einen berühmten Organisten zu bewundern: der Doktor ist unbeugsam. Und erst nach der heiligen Woche, als weder Oratorien, noch Fugen, noch Choräle mehr zu hören waren, gab mir der liebe Gott die Gesundheit zurück. Das ist der Grund, weshalb ich mich über die Musikaufführungen in den Berliner Kirchen ausschweigen muß, die so bedeutend sein sollen. Wenn ich jemals wieder nach Preußen komme, krank oder nicht, muß ich unbedingt die Musik von Graun hören, und ich werde sie hören, seien Sie unbesorgt, sollte ich auch dran sterben. Aber dann wäre es mir schon wieder unmöglich, mit Ihnen darüber zu reden ... Nun also, es ist ausgemacht, daß Sie nie etwas durch mich erfahren sollen; so machen Sie denn die Reise selbst und erzählen Sie mir Neuigkeiten.

Was die Militärkapellen betrifft, so hieße es ihnen viel schlechten Willen entgegenbringen, wenn man nicht wenigstens einige davon hörte, da sie ja zu jeder Tageszeit, zu Fuß oder Roß, die Straßen Berlins durchziehen. Diese kleinen, vereinzelten Trupps würden jedoch kein Bild von der Gewalt der großen Ensembles geben, die der Leiter und Instruktor der Militärkapellen von Berlin und Potsdam (Wiprecht) bilden kann, wann er will. Stellen Sie sich vor: er hat eine Masse von sechshundert Musikern und darüber unter sich, die alle gut vom Blatt spielen, die Technik ihres Instrumentes wohl inne haben, rein blasen und von Natur durch unermüdliche Lungen und Lippen von Leder begünstigt sind. Daher die äußerste Leichtigkeit, mit der Trompeten, Hörner und Kornets die hohen Töne bringen, welche unseren Künstlern nicht zu Gebote stehen. Es sind Regimenter von Musikern, nicht Regimentsmusiker. Der Prinz von Preußen willfahrte meinem Wunsche, seine musikalischen Truppen zu hören und in Muße zu studieren, durch die dankenswerte, gütige Einladung zu einer Matinee, die mir zuliebe veranstaltet wurde und zu der er Wiprecht seine Befehle gegeben hatte.

Das Auditorium war sehr wenig zahlreich; wir waren unser höchstens zwölf oder fünfzehn. Ich wunderte mich, das Orchester nicht zu sehen – keinerlei Geräusch verriet seine Gegenwart –, als mich eine Ihnen und mir wohlbekannte langsame Melodie in F-Moll den Kopf nach dem großen Saale des Palais wenden ließ, auf den uns ein großer Vorhang die Aussicht nahm. Seine Königliche Hoheit war so höflich gewesen, das Konzert mit der Ouvertüre »Die Vehmrichter« beginnen zu lassen, die ich, für Blasinstrumente eingerichtet, noch nie gehört hatte. Es waren unter Wiprechts Leitung dreihundertzwanzig Mann zusammen; sie führten das schwere Stück mit wunderbarer Präzision und jener wütenden Begeisterung aus, die ihr vom Konservatorium an den großen Tagen des Enthusiasmus und der Hingerissenheit dafür an den Tag legt.

Besonders donnerartig klang das Solo der Blechinstrumente in der Einleitung, das von fünfzehn großen Baßposaunen, achtzehn oder zwanzig Tenor- und Altposaunen, zwölf Baßtuben und einem Haufen Trompeten gespielt wurde.

Die Baßtuba, die ich in meinen früheren Briefen schon mehrfach erwähnt habe, hat in Preußen die Ophikleïde völlig entthront – wenn diese überhaupt je dort geherrscht hat, was ich bezweifle. Es ist ein großes Blasinstrument, ein Abkömmling des Bombardons, mit einem Mechanismus von fünf Ventilen versehen, der ihr einen ungeheuern Umfang in der Tiefe gibt.

Gewiß: die Töne sind in der äußersten Tiefe etwas unbestimmt; aber, wenn sie in der höheren Oktave durch eine zweite Baßtuba verdoppelt werden, gewinnen sie eine unglaubliche Rundung und vibrierende Kraft. Mittellage und Höhe sind übrigens sehr vornehm, durchaus nicht rauh, wie bei der Ophikleïde, sondern vibrierend und sehr angenehm zum Klang der Posaunen und Trompeten, deren wahrer Kontrabaß die Tuba ist und mit denen sie sich in unübertrefflicher Weise verbindet. Wiprecht hat sie in Preußen verbreitet. A. Sax stellt jetzt wundervolle Exemplare davon in Paris her.

Die Klarinetten machten mir denselben guten Eindruck, wie die Blechinstrumente; besonders taten sie sich in einer großen Schlachtensinfonie für zwei Orchester hervor, einer Komposition des englischen Gesandten, Grafen von Westmoreland.

Darnach kam ein glänzendes, ritterliches Stück für Blechinstrumente allein von Meyerbeer, das dieser unter dem Titel »Fackeltanz« für die Hofbälle geschrieben hatte; darin befindet sich ein langer Triller auf d, den achtzehn Ventiltrompeten sechzehn Takte lang aushielten, als ob es Klarinetten wären.

Das Konzert schloß mit einem sehr gut gearbeiteten charakteristischen Trauermarsch, einer Komposition von Wiprecht. Es war nur eine Probe abgehalten worden!!!

In den Pausen zwischen den Stücken, wenn das furchtbare Orchester schwieg, hatte ich die Ehre, einige Augenblicke mit der Prinzessin von Preußen zu plaudern, deren erlesener Geschmack und Kenntnisse der Komposition ihr Urteil so wertvoll machen. Ihre Königliche Hoheit spricht außerdem unsere Sprache so rein und elegant, daß ihr Gesprächspartner ganz schüchtern wurde. Ich wollte, ich könnte hier ein shakespearisches Bildnis der Prinzessin entwerfen, oder doch wenigstens die ungefähre Skizze ihrer sanften Schönheit ahnen lassen; vielleicht würde ich's wagen ... wenn ich ein großer Dichter wäre.

Ich wohnte einem der Hofkonzerte bei. Meyerbeer saß am Klavier; ein Orchester war nicht da, und die Sänger waren vom Theater: dieselben, von denen ich schon berichtet habe. Gegen das Ende des Abends fühlte sich Meyerbeer ermüdet vom Begleiten – ein so großer Klavierspieler er auch ist, vielleicht gerade deshalb – und trat seinen Platz ab – raten Sie, an wen? ... An den ersten Kammerherrn des Königs, den Grafen Roedern, der als vollendeter Musiker und Pianist Frau Devrient begleitete, die Schuberts »Erlkönig« sang! Was sagen Sie dazu? Das ist doch ein erstaunlicher Beweis für die Verbreitung musikalischer Kenntnisse. Herr von Roedern besitzt außerdem ein Talent anderer Art, von dem er glänzende Proben gab bei der Organisierung des berühmten Maskenballes, der im letzten Winter unter dem Namen »Fest am Hofe von Ferrara« ganz Berlin auf den Kopf stellte; Meyerbeer hat eine Menge Stücke dazu geschrieben.

Diese zeremoniösen Konzerte wirken immer kalt; aber man findet sie angenehm, wenn sie zu Ende sind, weil sie gewöhnlich einige Zuhörer versammeln, mit denen ein Augenblick des Gesprächs stolz und glücklich macht. So traf ich beim König von Preußen Alexander von Humboldt, die Leuchte der Gelehrsamkeit, den großen Anatom des Erdballs.

Mehrmals am Abend kamen der König, die Königin und die Prinzeß von Preußen, um mit mir über das Konzert zu sprechen, das ich eben in der Großen Oper gegeben hatte, mich um meine Ansicht über die Hauptkünstler in Preußen zu bitten, mich über meine Instrumentationsprinzipien zu befragen usw. usw. Der König behauptete, ich hätte alle Musiker seiner Kapelle besessen gemacht. Nach dem Souper machte Seine Majestät Anstalt, sich in seine Gemächer zurückzuziehen, kam aber plötzlich zu mir, als ob er sich anders besänne, und sagte:

– »Apropos, Herr Berlioz, was werden Sie uns in Ihrem nächsten Konzert zu hören geben?«

– »Ich will die Hälfte des vorigen Programms wiederholen, Majestät, und noch fünf Sätze aus meiner Sinfonie ›Romeo und Julie‹ hinzufügen.«

– »Aus ›Romeo und Julie‹! Und ich reise! Dennoch müssen wir das hören! Ich komme wieder!«

Und wirklich, am Abend meines zweiten Konzerts, fünf Minuten vor der angesagten Stunde, steigt der König aus seinem Wagen und betritt seine Loge.

Soll ich mich jetzt mit Ihnen über die beiden Abende unterhalten? Die haben mir reichlich Mühe gemacht, ich versichere Sie. Und doch sind die Künstler geschickt, ihre Absichten waren die wohlwollendsten, und Meyerbeer schien sich zu vervielfachen, um mir zu helfen. Das kommt daher, daß der Tagesdienst eines großen Theaters, wie der Berliner Oper, immer Forderungen stellt, die sehr hinderlich und unvereinbar mit den Vorbereitungen zu einem Konzert sind; so mußte denn Meyerbeer, um die Schwierigkeiten, die sich jeden Augenblick ergaben, abzuwehren und zu meistern, sicherlich mehr Energie und Geschicklichkeit daranwenden, wie damals, als er zum ersten Male die Hugenotten herausbringen sollte. Und dann wollte ich die großen Stücke des Requiems, die hymnischen ( Dies irae, Lacrymosa) mit denen ich in den andern deutschen Städten nicht hatte zustande kommen können, in Berlin hören lassen; Sie wissen ja, welchen Aufwand an Singstimmen und Instrumenten sie erfordern. Glücklicherweise hatte ich Meyerbeer von meiner Absicht unterrichtet, und schon vor meiner Ankunft hatte er sich nach den Mitteln umgesehen, die ich brauchte. Die vier kleinen Orchester von Blechinstrumenten waren leicht gefunden – wenn nötig, wären ihrer dreißig zu haben gewesen –; aber die Pauken und Paukenschläger machten viel zu schaffen. Endlich gelang es, sie mit Hilfe des trefflichen Wiprecht zusammenzubringen.

Man wies uns für die ersten Proben einen prächtigen Konzertsaal an, der dem zweiten Theater angehörte, dessen Akustik aber so unglücklich ist, daß ich gleich beim Eintreten merkte, was wir auszuhalten haben würden. Der von einem Takt zum nächsten hinüberschallende Ton richtete eine unerträgliche Verwirrung an und machte die Übungen mit dem Orchester äußerst schwierig. Ja, auf ein Stück (das Scherzo aus Romeo und Julie) mußten wir sogar verzichten, da wir, nach einer Stunde Arbeit, nicht mehr als die Hälfte davon fertig brachten. Dennoch wiederhole ich: das Orchester war so gut, wie nur möglich. Aber die Zeit fehlte, und so mußten wir das Scherzo auf das zweite Konzert verschieben. Schließlich gewöhnte ich mich etwas an den Lärm, den wir verursachten, und vermochte in dem Klangchaos zu unterscheiden, was von den Ausführenden gut oder schlecht wiedergegeben wurde; wir fuhren also fort zu probieren, ohne Rücksicht auf die Wirkung, die sich glücklicherweise sehr von derjenigen unterschied, die wir hernach in der Oper erzielten. Die Ouvertüre zu Benvenuto, Harold, Webers »Aufforderung zum Tanz« und die Stücke aus dem Requiem wurden so vom Orchester allein studiert, während der Chor für sich in einem andern Lokal arbeitete. Bei der Einzelprobe, die ich für die vier Blechorchester im Dies irae und Lacrymosa verlangt hatte, beobachtete ich zum drittenmal eine Tatsache, die mir unerklärlich geblieben ist und in folgendem bestand:

Mitten im Tuba mirum befindet sich eine Fanfare von vier Posaunengruppen, die sich nach und nach auf den vier Tönen des G-Dur-Dreiklangs aufbaut. Das Tempo ist sehr breit; die erste Gruppe muß ihr g auf »eins« bringen; die zweite ihr h auf »zwei«; die dritte bringt d auf »drei« und »vier«, und die vierte das obere g auf »vier«. Nichts ist leichter verständlich, als eine derartige Folge, nichts leichter zu intonieren, als jeder einzelne dieser Töne. Nun also! Als das Requiem zum ersten Male im Invalidendom zu Paris aufgeführt ward, war die Ausführung dieser Stelle unmöglich. Als ich später in der Oper Bruchstücke daraus geben wollte, mußte ich, nachdem ich eine Viertelstunde lang vergeblich diesen einzigen Takt hatte üben lassen, darauf verzichten; immer gab es eine oder zwei Gruppen, die nicht anpacken wollten; unabänderlich war es die mit h oder die mit d oder alle beide. Als in Berlin mein Blick auf diese Stelle der Partitur fiel, dachte ich sogleich an die hartnäckigen Pariser Posaunen:

– »Ach!« sagte ich zu mir, »wollen sehen, ob es den preußischen Künstlern gelingt, die offene Tür einzurennen!«

Ach nein! Vergeb'ne Müh'! Nicht Wut, nicht Geduld, nichts nützt hier! Unmöglich, den Einsatz der zweiten oder dritten Gruppe zu bekommen; selbst die vierte, die ihr Stichwort, das von den andern gegeben werden muß, nicht hört, setzt nicht mehr ein. Ich nehme sie einzeln vor, ich bitte Nummer 2 um ihr h.

Sie bringt es sehr gut.

Ich wende mich an Nummer 3, bitte um ihr d.

Sie intoniert es ohne Schwierigkeit.

Hören wir jetzt die vier Töne nacheinander in der vorgeschriebenen Reihenfolge! ... Unmöglich! Ganz unmöglich! Man muß es aufgeben! ... Verstehen Sie das? Und da soll man nicht mit dem Kopf gegen die Wand rennen? ...

Und wenn ich die Posaunisten von Paris und Berlin fragte, warum sie in dem verhängnisvollen Takte nicht geblasen hätten, gaben sie stets nur zur Antwort: sie wüßten selbst nicht; die beiden Töne täten es ihnen an. Bei den zwei letzten Aufführungen des Requiems in der St. Eustachiuskirche zu Paris wurde die Stelle doch endlich fehlerlos gespielt.

Ich muß an H. Romberg schreiben, der das Stück in St. Petersburg aufgeführt hat, um zu erfahren, ob die russischen Posaunen den Zauber zu brechen vermochten.

In allem übrigen hat das Orchester meine Intentionen vortrefflich begriffen und ausgeführt. Bald waren wir so weit, eine Hauptprobe in der Oper abzuhalten, auf der Bühne, die, wie zum Konzert, in Stufen eingeteilt war. Sinfonie, Ouvertüre, Kantate, alles geht nach Wunsch; aber als die Stücke aus dem Requiem an die Reihe kamen – allgemeine Panik; der Chor, den ich nicht selbst hatte einstudieren können, war im Tempo anderer Meinung als ich, und als er sich auf einmal dem Orchester mit den wahren Tempi gegenüber sah, wußte er nicht mehr, was tun; die Einsätze erfolgten falsch oder unsicher: und im Lacrymosa sangen die Tenöre überhaupt nicht mehr. Ich wußte nicht, welchen Heiligen anrufen. Meyerbeer, der an diesem Tage sehr unpäßlich war, hatte nicht aufstehen können; der Chordirektor Elßler war gleichfalls krank; das Orchester verlor den Mut, als es den vokalen Zusammenbruch sah ... Einen Augenblick setzte ich mich hin, gebrochen und vernichtet, und fragte mich, ob ich nicht alles stehen und liegen lassen und Berlin am nämlichen Abend den Rücken kehren sollte. Ich dachte in diesem bösen Augenblick an Sie und sagte mir:

»Torheit, es zwingen zu wollen! O, wenn Desmarest hier wäre, der nie mit unsern Proben am Konservatorium zufrieden ist, und mich entschlossen sähe, das Konzert für morgen ansagen zu lassen, so wüßte ich wohl, was er täte: er würde mich in mein Zimmer einschließen, den Schlüssel in die Tasche stecken und dem Intendanten kurzweg eröffnen, das Konzert könne nicht stattfinden.«

Das hätten Sie doch sicherlich getan, nicht? Nun denn, Sie wären im Unrecht gewesen. Hier der Beweis. Nachdem die erste Angst vorüber war, der erste kalte Schweiß vergossen, war mein Entschluß gefaßt und ich sagte:

»Das muß gehen.«

Ries und Ganz, die beiden Konzertmeister, waren bei mir und wußten nicht recht, was sagen, um mich zu ermuntern: ich wende mich lebhaft zu ihnen:

– »Sind Sie des Orchesters sicher?«

– »Ja! Hier ist nichts zu fürchten. Wir sind sehr müde, aber wir haben Ihre Musik verstanden, und morgen werden Sie zufrieden sein.«

– »Nun denn, so gibt es nur einen Entschluß: der Chor muß auf morgen früh bestellt werden, und mir muß ein guter Begleiter gegeben werden, da ja Elßler krank ist; und Sie Ganz, oder vielleicht Sie, Ries, kommen mit Ihrer Violine, und wir lassen, wenn nötig, den Chor drei Stunden lang probieren.«

– »Schon recht. Wir werden da sein; alles soll besorgt werden.«

Und wirklich, am andern Morgen waren wir, Ries, der Begleiter und ich, am Werk. Wir nahmen nacheinander die Kinder vor, die Frauen, die ersten Soprane, die zweiten Soprane, die ersten Tenöre, die zweiten Tenöre, die ersten und zweiten Bässe, ließen sie in Gruppen zu zehn, dann zu zwanzig singen; hiernach nahmen wir zwei, drei, vier Partien zusammen und endlich alle Stimmen. Und wie Phaeton in der Fabel rief ich schließlich:

Was ist denn das? Mein Wagen fährt nach Wunsch?

Ich halte eine kleine Ansprache an die Choristen, die Ries ihnen, Satz für Satz, ins Deutsche überträgt – und schon lebten alle unsere Geister wieder auf, voller Mut und Freude, die große Schlacht, in der ihre Ehre und die meine auf dem Spiel standen, noch in keinem Stücke verloren zu haben. Im Gegenteil: wir haben sie gewonnen und noch dazu glänzend. Versteht sich, daß am Abend die Ouvertüre, die Sinfonie und die Kantate »Der fünfte Mai« eine königliche Aufführung erlebten. Mit einem solchen Orchester und einem Sänger, wie Boeticher, konnte das nicht anders sein. Und als es ans Requiem ging, war alles voller Aufmerksamkeit und Ergebenheit, vom Wunsche beseelt, mir beizustehen; die Orchester und der Chor waren in musterhafter Ordnung aufgestellt, jeder war auf seinem Posten, nichts fehlte – und so begannen wir das Dies irae. Kein Fehler, kein Schwanken; der Chor hielt dem Ansturm der Instrumente stand, ohne mit der Wimper zu zucken; die vierfache Fanfare krachte aus den vier Ecken des Theaters, das unter dem Rollen von zehn Pauken erzitterte, unter dem Tremolo der fünfzig entfesselten Bögen; einhundertzwanzig Stimmen haben, aus einer Sintflut düsterer Harmonien, Geräuschen aus einer andern Welt, ihre furchtbare Weissagung hervorgeschleudert:

Judex ergo cum sedebit,
quidquid latet, apparebit!

Das Publikum machte den Eintritt des liber scriptus einen Augenblick durch Beifall und Geschrei unhörbar, und wir gelangten zu den letzten gedämpften Akkorden des mors stupebit schaudernd, aber als Sieger. Und welche Freude unter den Mitwirkenden; wie sie Blicke wechselten von einem Ende der Bühne zum andern! Ich für mein Teil hatte den Klöppel einer Glocke in meiner Brust, ein Mühlrad im Kopfe, meine Knie schlugen aneinander, ich bohrte meine Nägel ins Holz meines Pultes, und wenn ich mich, beim letzten Takt, nicht gezwungen hätte zu lachen, und mit Ries, der mich stützte, sehr laut und sehr schnell zu sprechen – ich bin sicher, daß ich zum ersten Male in meinem Leben auf eine höchst lächerliche Weise, wie die Soldaten sagen »gemuckt« hätte. Die Feuerprobe einmal vorüber, war der Rest nur noch ein Spiel, und das Lacrymosa beschloß, zur vollen Genugtuung seines Autors, den apokalyptischen Abend.

Am Ende des Konzerts sprachen viele Leute mit mir, gratulierten, drückten mir die Hand; aber ich verstand nichts ... blieb ohne Empfindung ... Gehirn und Nerven waren zu hart mitgenommen; ich »versimpelte« zur Erholung. Nur Wiprecht mit seinem kürassiermäßigen Händedruck hatte die Gabe, mich wieder zu mir selbst zu bringen. Er machte mir tatsächlich die Rippen krachen, der brave Mann, und mischte in seine Ausrufungen teutsche Flüche, gegen welche die von Guhr nur ein Ave sind.

Wer damals das Senkblei in meine keuchende Freude geworfen hätte, wäre nicht bis auf den Grund gekommen. Sie müssen doch gestehen, daß es manchmal verständig ist, eine Dummheit zu machen; denn ohne meine Tollkühnheit hätte das Konzert nicht statt gehabt, und die Theaterarbeiten lagen auf lange hinaus so, daß sie den Wiederbeginn der Proben zum Requiem vereitelt hätten.

Für das zweite Konzert kündigte ich, wie vorhin erwähnt, fünf Sätze aus »Romeo und Julie« an; darunter die Fee Mab. In den vierzehn Tagen, die den zweiten Abend vom ersten trennten, hatten Ganz und Taubert aufmerksam die Partitur dieses Scherzos studiert, und als sie mich entschlossen sahen, es zu bringen, war die Reihe, sich zu fürchten, an ihnen.

– »Wir werden nicht damit fertig werden«, sagten sie zu mir. »Sie wissen, daß wir nur zwei Proben haben; fünf oder sechs wären aber nötig dazu; nichts ist schwieriger, nichts gefährlicher; es ist musikalisches Spinnweb, und ohne ein ganz ungewöhnliches Gefühl für Rhythmus wird man es zerfetzen.«

– »Bah! Ich wette, man wird sich gut aus der Affäre ziehen. Wir haben freilich nur zwei Proben, aber auch nur fünf neue Sätze zu lernen, von denen vier keine großen Schwierigkeiten darbieten. Übrigens hat das Orchester schon eine Ahnung von diesem Scherzo durch die erste Probe, in der wir es teilweise gespielt haben, und ich will auch, daß die Künstler wissen, was daran ist; es wird gehen.«

Und es ging, fast ebensogut, als in Braunschweig. Man kann mit solchen Musikern viel wagen, die übrigens, bevor sie von Meyerbeer dirigiert wurden, so lange unter Spontinis Zepter gestanden hatten.

Dieses zweite Konzert hatte dasselbe Ergebnis, als das erste; die Fragmente aus Romeo wurden sehr gut aufgeführt. Die Fee Mab setzte das Publikum in große Verlegenheit, selbst musikalisch gebildete Hörer, wie z. B. die Prinzessin von Preußen, die durchaus wissen wollte, wie ich den Begleitungseffekt des Allegretto herausgebracht hätte, und sich nicht vorstellen konnte, daß es Flageolettöne von geteilten Geigen und von Harfen wären. Der König gab dem Satze »Fest bei Capulet« den Vorzug, aber ich glaube, die Sympathien des Orchesters galten eher dem Adagio, der Liebesszene. In diesem Falle hätten die Berliner Musiker denselben Geschmack wie die Pariser. Fräulein Hähnel hatte die Strophen für Alt im Prolog auf der Probe schlicht gesungen, aber im Konzert, am Schluß der beiden Verse:

Wo sich verzehrt
die Nachtigall in langen Klagen

– glaubte sie die Fermate mit einem langen Triller verzieren zu müssen, um die Nachtigall nachzuahmen. O, gnädiges Fräulein!!! Welch ein Verrat! Und Sie sehen so gutherzig aus!

Nun also! Es gibt Leute, die dem Dies irae, dem Tuba mirum, dem Lacrymosa, dem Offertorium des Requiems, den Ouvertüren zu »Benvenuto« und zu »König Lear«, dem »Harold« samt seiner Serenade, seinen Pilgern und Räubern, der Sinfonie »Romeo und Julie« mit ihrem Feste bei Capulet, den Schwänken der Fee Mab – kurz allem, was ich in Berlin zu Gehör gebracht, allen Ernstes den »fünften Mai« vorziehen! Die Geschmäcker sind verschieden, wie die Gesichter, ich weiß; aber als man mir das sagte, muß ich eine seltsame Fratze geschnitten haben. Glücklicherweise führe ich hier ganz außergewöhnliche Meinungen an.

Ade, mein lieber Desmarest; Sie wissen, wir haben in einigen Tagen im Konservatorium öffentlich ein altes Sprüchlein herzubeten; bringen Sie mir Ihre sechzehn Violoncelli wieder, die großen Sänger; ich bin glücklich, sie wieder zu hören und Sie an ihrer Spitze zu sehen. Es ist lange her, seit wir zuletzt zusammen musizierten! Um ihnen Freude zu machen, sagen Sie ihnen, ich würde sie mit dem Taktstock Mendelssohns anführen.

Ganz der Ihre.


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