Helmut Wördemann
Gedichte
Helmut Wördemann

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Die missbrauchte Zeitung

Es war einmal eine Wochenzeitung, die wurde gar nicht richtig genutzt. Die einen breiteten einen Teil ihrer inhaltreichen Seiten auf dem Küchentisch aus oder auf der Werkzeugbank, damit sie Krümel oder Abfälle oder gar Öltropfen auffingen. Die anderen wickelten damit irgendwelche Gegenstände ein, einen heißen Stein, um das Bett aufzuwärmen, ein Bündel Porree oder gar rohen, noch feuchten Fisch, wieder andere knickten sie zu einer Fliegenklatsche – ein paar Doppelblätter mussten immer herhalten.

»Die Menschen wissen ja gar nicht, was in mir steckt,« beklagte sich die Zeitung bei einem Buch, das zufällig in der Nähe lag. »Sie sehen nur mein Äußeres und bewundern meine Größe, aber die vielen Nachrichten aus aller Welt, für die ich mich geopfert und den wahrhaftig nicht leichten Druck der Presse erlitten habe, die liest keiner. Die Menschen sind doch sehr dumm, oder meinst du nicht?«

»Nun ja,« sagte das Buch bedächtig, »wenn sie nicht lesen, müssen sie wohl dumm sein und dumm bleiben. Unsereiner steht ja auch nur im Regal und gammelt vor sich hin. Um ehrlich zu sein, ich habe dich immer beneidet. Du wirst wenigstens gebraucht. Ich dagegen werde höchstens einmal zum Schein hingelegt, hinter meinem Rücken werden dann billige Sensationshefte gelesen. Dafür muss ich mich als Bildungsmauer hergeben. Das nenne ich, den Geist auf den Kopf stellen. Im Vergleich dazu bist du ja noch auf anständige Weise nützlich, wenn ich auch zugeben muss, dass man dich genauso verkennt wie mich. Was könnten die Menschen alles lernen, wenn sie aus sich herausgingen und bei uns einkehrten.«

Da kamen ein paar Kinder, falteten die Zeitung zusammen, immer wieder, bis sie ganz klein und dick war, und schnitten ihr die Ecken ab, und bei jedem Auseinanderklappen schnitten sie noch einmal und noch einmal die Ecken ab, bis die Zeitung wieder ganz ausgebreitet war und wie eine hübsch gelöcherte Tischdecke dalag.

»Ich glaube eher, dass du zu beneiden bist,« wisperte die Zeitung im Sterben, »du stehst meistens unbehelligt im Regal, du bist so stark gebunden, dass man dich nicht so leicht umbringen kann wie mich. Aber ich gönne es dir, denn meine Nachrichten wären sowieso in ein paar Tagen überholt gewesen, und dann hätte man mich doch weggeworfen. Ich kann nur hoffen, dass meine vielen Tausend Artgenossen ein besseres Schicksal genießen. Sie sind ja wie ich, und wenn meine inneren Werte verkannt werden, so können sie doch bei klügeren Menschen Klügeres bewirken.«

»Ja,« sagte das Buch teilnahmsvoll, »damit tröste ich mich auch.«

 


 


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