Helmut Wördemann
Gedichte
Helmut Wördemann

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Die missmutige Mauer

Es war einmal eine Hausmauer, die trug geduldig die Nordspitze des Daches. Sie trotzte im Winter den frostigen Winden, und fast das ganze Jahr hindurch fing sie den Regen ab, der schräg vom Westen heranprallte und der am liebsten bis ins Schlafzimmer vorgedrungen wäre. Die Mauer hatte aber nicht einmal ein Fenster, so dass weder Kälte noch Schnee noch Regen noch Wind hindurchdringen konnte.

So sehr die Menschen in dem Haus sich darüber freuten und der Mauer im stillen für seinen Schutz und sein Durchhaltevermögen dankten, so sehr bekümmerte es doch die Wand selber, so bewegungslos dazustehen, immer auszuhalten zwischen Wohngemütlichkeit und wechselndem Wetter.

»Wenn ich doch wenigstens so ein bewegtes Leben hätte wie du,« sagte die Mauer manchmal zu der Birke, die ganz in ihrer Nähe stand und im Sturm schunkeln konnte oder im leichten Wind fuchteln wie ein gestikulierender Mensch.

»Oh, Mann,« pflegte die Birke dann zu antworten,»wie kannst du so etwas sagen, da ich dich doch gerade wegen deiner Festigkeit beneide. Wie gerne wäre ich so standhaft wie du, so aufrecht, so undurchdringlich und so nützlich.«

Immer wieder schmeichelte es der Mauer, von einem lebendigen Wesen so gelobt zu werden, doch manchmal fühlte sie sich so berstend elend, dass sie weiterjammerte:

»Aber du bist eins mit der Erde, bis durchdrungen von den Tagen und von den Nächten, und die Sonne kümmert sich persönlich um dich, damit du wächst. Außerdem« – hier flammte eine dunkle Schamröte über die ohnehin schon rote Mauer – »außerdem bist du schöner als ich, und die Kinder klettern in dir herum und sind fröhlich.«

»Oh nein,« widersprach die galante Birke, »ich bin doch nur schwarz-weiß gefleckt, eine kühle Dame, hihihi. Du dagegen schimmerst in Ocker, Rot, Orange und Braun; und wenn das Tageslicht sich ändert, wechselst du dein Aussehen wie ein Mensch, der mal traurig und mal lustig aussieht.«

Der Vergleich mit einem Menschen tröstete die Mauer am besten. Sie schwieg dann auch, dachte aber für sich:

»Wenn ich wenigstens etwas zu tun hätte.«

Eines Tages, es war nicht einmal ein Sommertag, sondern mitten im Winter, nämlich kurz nach Weihnachten, kamen die Kinder, die in dem Haus wohnten, mit einem Ball nach draußen, den sie vom Christkind bekommen hatten.

»Werft mir keine Scheibe ein!« rief der Vater ihnen nach,»geht auf die Nordseite, die Mauer hat keine Fenster!«

Der Tag war grau, aber windstill und nicht zu kalt. Also gehorchten die Kinder gern und spielten auf der Nordseite. Bald kamen sie auf die Idee, den schmucken bunten Ball gegen die Mauer zu werfen und wieder aufzufangen. Der beste Fänger sollte gewinnen, allerdings musste immer ein anderer als der Fänger den Ball gegen die Wand werfen.

Die Mädchen und Jungen jauchzten vor Vergnügen, am meisten, wenn sich die Mauer einen Spaß daraus machte, den Ball seitlich abprallen zu lassen, so dass man ihn gar nicht fangen konnte. Nicht selten köpfte ihn die Mauer zur Birke hinüber, als schönen Gruß und um sie darauf aufmerksam zu machen, dass nun auch sie, die starre Mauer, einer erfreulichen Beschäftigung nachging.

 


 


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