Helmut Wördemann
Gedichte
Helmut Wördemann

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Die gefangenen Mücken

Es war einmal eine Pflanze, die hatte kesselförmige aromatische Blüten. Immer wieder versuchten Käfer, Fliegen oder Mücken auf dieser glatten Mündung zu landen, und immer wieder rutschten sie ab.

Eines Tages sah eine Mücke, wie sich ihre Schwester in der Blütentiefe verlor und nicht wieder auftauchte.

»Ich will doch sehn,« dachte sie, »wo meine Schwester geblieben ist.«

Sie setzte sich auf den Rand der Blüte, verlor den Halt und sauste in die Spitze des Trichters hinab. Als sie wieder zur Besinnung kam und ein paar Schritte nach oben gehen wollte, um sich besser nach ihrer Schwester umschauen zu können, blieb sie an Borsten hängen, die man von oben nicht erkennen konnte. Im gleichen Augenblick sah sie auch ihre Schwester, festgekrallt von den gleichen haarigen Widerhaken.

»Du Dummkopf!« rief die Schwester, »musstest du wieder hinter mir her spionieren? Jetzt sitzen wir beide in der Falle!«

»Jaja, ist ja schon gut. Aber konnte ich denn wissen, dass uns so eine Pflanze gefährlich werden kann? Ich hab's ja nur gut gemeint. Du warst verschwunden, und ich habe dich gesucht.«

»Zappel nicht so viel!« kommandierte die Schwester ärgerlich, ohne weiter auf die Rechtfertigung ihres Bruders einzugehen, »wir müssen unsere Kräfte schonen. Vielleicht gelingt es uns dann morgen früh mit vereinten Kräften, das Gitterwerk zu durchbrechen.«

Der Bruder schwieg um des Friedens und der Ruhe willen. Und da auch die Ruhe eine Falle ist, für den Schlaf nämlich, schlummerten beide ein.

Die Mücken merkten nicht, dass sich über ihnen die Staubgefäße der Blüte öffneten und einen sanften Pollenregen auf sie rieseln ließen.

Als sie sich am nächsten Morgen befreien wollten, wunderten sich die Mücken sehr, denn die Gitter waren erschlafft und lagen hilflos da wie Strickleitern. Sie krochen zurück in die Freiheit. Unterwegs aber kamen sie an einer Narbe vorbei. Da sie hungrig und durstig waren, schlürften sie deren Saft und streiften dabei, ohne es zu merken, die Pollen ab, mit denen die Pflanze sie heimlich beladen hatte. Sie ahnten nicht, dass sie die Pflanze befruchteten und weshalb diese ihnen nachrief:

»Nichts für ungut, Freunde. Und vielen Dank auch!«

»Erst fängt sie uns, dann dankt sie uns für unsere Flucht. Da soll nun einer schlau draus werden,« sirrten die Mücken kopfschüttelnd vor sich hin und zischten ab.

 


 


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