Helmut Wördemann
Gedichte
Helmut Wördemann

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Die verliebte Saatkrähe

Es war einmal eine junge Saatkrähe, die verliebte sich in einen goldenen Pirol, dessen Flügel aber fast so schwarz waren wie die der Krähe. Schwer von süßen Träumen hob sie sich ab vom Acker und stieg zu dem Kirschbaum empor, in dem das Pirolweibchen die ersten reifen Früchte naschte.

»Ich liebe dich,« krächzte die Krähe, nachdem sie sich gegenüber dem Pirol auf einem Zweig niedergelassen und sorgsam die Flügel zurechtgelegt hatte.

Das Weibchen betrachtete den schwarzen Mann wohlwollend neugierig. Es war noch ledig, obwohl die Paarungs- und Brutzeit für Pirole längst abgelaufen war. Ihm gefielen die kräftige Gestalt der Krähe, der dunkle Ernst und der purpurblaue Schimmer seines Gefieders.

Dann schluckte sie die Kirsche herunter und fragte kurz und bündig: »Willst du mich heiraten?«

Sie mussten sich schnell entscheiden, denn Vögel fliegen schnell auseinander und wissen nie, ob sie sich wieder begegnen. Das verstand auch die Krähe so, die schnell erwiderte:

»Ja, Liebste. Ich will dich heiraten und immer für dich da sein.«

Nun küssten sie sich und heirateten.

Als die Saatkrähe aber anfing, in den Zweigen eines hohen Baumes ein dürres Nest zusammenzustecken, schüttelte seine junge Frau wehmütig den Kopf:

»In diesem Jahr können wir keinen Nachwuchs mehr haben. Meine Zeit in Europa ist abgelaufen. Ich muss zurück in meine afrikanische Heimat. Der August hat schon begonnen, und meine Verwandtschaft ist schon versammelt.«

Da wurde die Krähe ganz traurig, so dass es die Pirolfrau nicht mit ansehen konnte:

»Du musst mich begleiten,« flötete sie, »wir werden drüben eine glückliche Ehe führen, und im Mai kehren wir zurück nach Deutschland.«

Die verliebte Saatkrähe konnte nicht antworten so weh und süß war ihr zumute. Sie nickte nur, und dann flog sie mit den Pirolen in den immer warmen Süden.

Das junge Paar verbrachte hier die glücklichsten Tage seines Lebens. Doch dann fühlte sich die Krähe unbehaglich, eine heimliche Sehnsucht ätzte in ihr, als hätte sich Salzsäure ins Blut gemischt, und so starb sie.

»Das habe ich gleich gefürchtet,« sagte der weise Vater des Weibchens zu seiner bekümmerten Tochter, »das Leben hier war zu weich für ihn. Er brauchte die winterliche Härte des Nordens. Es war nicht gut, ihn mitzunehmen.«

»Ich dachte,« stammelte die schöne Tochter unter Tränen, »das Starke könne überall leben und nur das Schwache brauche seine eigene Umwelt.«

Im nächsten Frühjahr vermählte sie sich mit einem hübschen Pirol, legte vier Eier und brütete sie aus. Aus einem aber schlüpfte krächzend eine kräftige Krähe, ein Andenken an eine kleine glückliche Verbindung zwischen Nord- und Südvögeln.

 


 


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