Helmut Wördemann
Gedichte
Helmut Wördemann

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Der glänzende Kieselstein

Es war einmal ein Kieselstein, der lag in der Nähe des Sandstrandes im Meer. Lächelnd ließ er Wind und Wellen über sich ergehen und freute sich seines Lebens, als wüsste er, dass sein Körper farbig schimmerte wie ein kostbarer Edelstein.

Er war sogar etwas hübscher als seine Artgenossen rundherum. Jedenfalls kam eines Tages ein barfüßiger Junge und las ihn auf, ohne die anderen Kieselsteine weiter zu beachten. Er steckte ihn in einen Beutel und nahm ihn mit nach Hause. Aber als der Junge den inzwischen getrockneten Stein hervorholte, um ihn auf der Fensterbank glänzen zu lassen, war er sehr enttäuscht, denn der Kiesel war ganz matt geworden und sah gar nicht mehr so schön aus wie zuvor im Meer.

»Es ist das Wasser, das ihn glänzen lässt,« sagte der Vater des Jungen. »Leg' den Stein doch in ein Glas mit Wasser.«

Das tat der Junge, und der Kieselstein leuchtete wieder wie ein Edelstein.

Nach mehreren Tagen aber entwickelten sich auf der schönen Oberfläche des Steines hässlich-grüne Algen, so dass er als Schmuckstück nicht mehr in Frage kam.

»Ich wasche ihn ab,« beschloß der Junge, und der Vater sah lächelnd zu, wie sein Sohn die Flecken abzuspülen versuchte. Er hatte zwar den Rat gegeben, den Stein ins Wasserglas zu legen, hatte sich aber inzwischen seine Gedanken gemacht. »So einfach geht das nicht,« belehrte er dann seinen erfolglosen Sohn. »Es hat auch wenig Zweck, den Stein sauber zu machen und dann wieder ins Wasserglas zu legen. Der braucht bewegtes Wasser. Auch ein Mensch setzt Grünspan an und fängt an zu stinken, wenn er sich nicht bewegt und nicht vom Leben in Betrieb gehalten wird. So ein Kieselstein kann auch nur glänzen, wenn er daheim seinen Mann steht, als kleiner Wellenbrecher zwar nur, aber immerhin. Zusammen mit seinen Freunden verhindert er, dass die Meereswellen den Strand verzehren, und strahlt dabei in bunten Farben.«

 


 


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