Helmut Wördemann
Gedichte
Helmut Wördemann

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Die gleichen Bäche

Es waren einmal zwei Bäche, die stammten aus derselben Quelle und wurden von ihr mit derselben Menge Wasser ausgestattet. Sie sprangen wie zwei fröhliche Kinder lebenslustig ins Tal hinab, über Stock und Stein, mal linksherum, mal rechtsherum, wie die Unebenheiten des Weges es von ihnen verlangten.

Unterwegs rauschten sie und riefen sich übermütig zu, wer wohl am schnellsten im Tal angelangt sei und wer wohl den größten Erfolg haben werde. Es war ein heiteres Geplänkel zwischen Sonnenlicht und Büscheschatten.

Als sie aber am Ende waren, wurden sie stiller. Der eine landete auf einer weiten Wiese und machte es sich auf dem weichen Gras gemütlich. Der andere aber fiel in ein tiefes Loch, blubberte, als drohte er zu ersticken, und wühlte sich dann fest.

Als sich beide beruhigt und mit ihrer Lage abgefunden hatten, begann der ausgedehnte Bach seinen Bruder zu hänseln:

»Na, Kleiner, was sagst du nun? Wir waren gleich alt, wir waren gleich groß, wir waren gleich schnell, und doch habe ich mehr erreicht als du. Als See bin ich dir überlegen, das musst du zugeben. Tut mir ja leid, dass du so klein enden musstest. Aber helfen kann ich dir auch nicht.«

Der Bach, der sich in das Loch verlaufen hatte, warf kurze Wellen ans Ufer und stotterte verlegen etwas vor sich hin, das niemand verstehen konnte.

Nach einem Jahr aber war der weite, flache See ganz vom Gras durchstochen und von Staub verdreckt. Auf dem kleinen tiefen aber schwammen Enten wie Reinmachefrauen.

»Siehst du, Bruder,« sagte da der scheinbar erfolglose Bach, »es kommt nicht auf die Größe an, sondern auf die Tiefe. Sei froh, dass unsere Mutter uns noch immer speist, sonst würdest du nämlich schnell austrocknen. Ich aber habe Kontakt zum Grundwasser und bin auch tief genug, um Tiere aufzunehmen. Es tut mir ja leid, dass du so oberflächlich bist, aber warte nur ab, bis die wilden Gräser dich überragen. Dann werden sie Insekten und Frösche und sicher auch Vögel anlocken, so dass auch du dich nützlich machen kannst.«

»Ich bin zufrieden,« antwortete der Flache. »Ich bin eine spiegelnde Liege- und Schaukelwiese für die Sonne, das macht mich so glücklich, dass ich das kleine Getier gerne beherberge.«

»Dann haben wir beide, was wir wollen,« meinte der Tiefe und fügte im stillen hinzu: »Hast du die Sonne großflächig, so habe ich sie tief im Herzen. Du erwärmst dich schnell und kühlst schnell ab. Ich nehme die Wärme bedächtig auf und bewahre sie in meinem Innern.«

So kam es, dass die gleichen Brüder ungleich wurden und doch gleich zufrieden weiterlebten.

 


 


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