Helmut Wördemann
Gedichte
Helmut Wördemann

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Die künstlerische Schere

Es war einmal eine Schere, die war so blank und so glatt, dass sie jeden Sonnenstrahl, der durch das Fenster hereinschien, und jedes Lampenlicht freundlich widerspiegelte und in seinem Glanz immerzu lächelte. Da sie aber auch sehr scharf war, konnte sie kein Papier in Ruhe lassen. Immerzu musste sie hineinbeißen und hineinschneiden, bis es in Fetzen zerfiel.

Das war der harten, aber Ordnung liebenden Schere selbst zuwider. Deshalb vertraute sie sich einem Locher an, der seinen Platz neben ihr auf dem Schreibtisch hatte.

»Du machst immer so schöne runde Löcher,« sagte die Schere und lächelte verbissen, denn es fiel ihr nicht leicht, jemandem ein Kompliment zu machen. »Wie schaffst du das nur? Ich hinterlasse immer nur Schnipsel. Deine Werke werden sauber in Aktenordnern abgelegt, aber meine wirft man in den Papierkorb.«

»Ganz einfach,« antwortete der Locher, der sich rundum geschmeichelt fühlte, »ich beherrsche mich und lasse nicht mit mir machen, was man will. Ich bin auf Löcher programmiert und damit basta.«

»Dann bist du fein 'raus,« erwiderte die Schere, »du kannst gar nicht anders. Wenn du auf Löcher programmiert bist, ist es eigentlich kein Problem, nur Löcher zu stanzen. Ich aber bin ein freier Künstler.«

Der Locher, der sich eben noch im Kompliment der Schere gesonnt hatte, ärgerte sich über diese Rede, die ihm das Verdienst an seiner Leistung wieder absprach.

»Ich könnte die Löcher ja auch reißen,« sagte er gereizt, »dann wären sie nicht zu gebrauchen, und der ganze Bogen Papier müsste weggeworfen werden. Ein bisschen Selbstdisziplin täte auch dir ganz gut.«

»Entschuldigung,« bat die Schere, »ich hab's nicht böse gemeint, ich wollte nur sagen, dass ich auch besser wäre, wenn man mich auf eine bestimmte Aufgabe festgelegt hätte.«

»Du musst dich eben selber festlegen. Schneide doch nur noch geometrische Formen: Linien, Kreise, Dreiecke, Rechtecke – dann machst du nie etwas falsch. Kann ja sein, dass man diese Formen gerade nicht braucht, aber sie sind doch wenigstens schön.«

Die Schere schloss nachdenklich den spitzen Mund. Dann schnappte sie noch einmal auf und zu, um ein kurzes »Ja« auszustoßen und schwieg weiter.

Als die Schere das nächste Mal in die Hand eines Menschen geriet, hielt sie sich an den Rat des Lochers und schnitt nur exakte Gebilde, so dass der Mensch sich freute:

»He!« rief er aus, »was entdecke ich an dir für Fähigkeiten! Du entpuppst dich ja als nützlicher Geselle. Lass mal sehn.« Der Mensch faltete nun in seiner Vervielfältigungslust einen Bogen Papier mehrmals und schnitt immer wieder die Ecken ab. Dann breitete er den Bogen aus, und siehe, es war ein schmuckes Tischtüchlein daraus geworden.

Als es fertig war und die Schere wieder neben dem Locher lag, konnte sie sich nicht enthalten zu sagen: »Ich kann aber mehr als nur runde Löcher schneiden.«

»Ja,« gab der Locher zu, »du kannst mehr, aber dafür ist die Gefahr, dass du etwas falsch machst, auch größer als bei mir.Im übrigen werde ich täglich gebraucht und du nur zu bestimmten Anlässen.«

»Wir sollten uns nicht streiten,« gab die Schere beschwichtigend nach, »der eine macht dies, der andere macht das, und jeder macht das Beste aus sich. Mal ist dieser nützlicher, mal jener, was soll's.«

Und sie gab lächelnd einen Sonnenstrahl weiter, der das Gespräch staunend verfolgt hatte.

 


 


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