Helmut Wördemann
Gedichte
Helmut Wördemann

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Der geschliffene Stein

Es war einmal ein ungehobelter kleiner Stein, ein eckiges graues Kind der Straße. Sein Mantel setzte sich aus dem Staub zusammen, mit dem die Autos ihn einnebelten, den der Regen wieder abwusch und den der Verkehr regelmäßig erneuerte, so dass er stets der Tagesmode entsprach. Seine Unterlage war hart, denn sie bestand aus seinesgleichen.

Eines Tages verlor ein Kind einen Kieselstein, der war schön rund und glatt. »Oh!« wunderte sich der Straßenstein, »wer hat dich denn so fein herausgeputzt?«

»Fein herausgeputzt? Du hast gut reden. Zurechtgeschliffen ist das richtige Wort. Was glaubst du wohl. Früher sah ich auch so – entschuldige – so schäbig aus wie du und hatte eine rauhe Gestalt.«

»Ich möchte so schick sein wie du,« erklärte der Straßenstein im Ton eines festen Entschlusss.

»Na gut, dann komm heraus aus dem Verkehrswind der Straße, rolle mit mir zum Strand, überlasse dich dem Wasser und dem Sand, dann hast du eine Chance. Aber das sage ich dir gleich, ohne Schmerzen geht das nicht. Die schleifen dich, dass dir Hören und Sehen vergeht, und wenn du vor lauter Reibereien demütig geworden bist, dann bist du vielleicht auch schön. Aber dann bist du nicht mehr eitel, und die Schönheit macht dir keine Freude mehr.«

»Der will mich nur nicht in seine Gesellschaft aufnehmen,« dachte der Straßenstein, »als wenn es schlimmer wäre, am Strand zu liegen als im Straßendreck.« Laut sagte er: »Nimm mich nur mit, ich habe schon manchen Puff verkraftet, da wird mich das Gerolle auch nicht kleinkriegen.«

»Aber ja doch, das ist die erste Bedingung, mit der du einverstanden sein musst. Ist doch klar, wenn du glatt geschliffen wirst, fallen doch alle grantigen Erhebungen von dir ab, das ist doch der Sinn der Sache. Es bleibt nur ein runder Kern. Doch dafür hast du den Vorteil, dass man mit dir spielen kann.«

»Spielen? Na Junge, das ist doch genau das Richtige, ein Leben lang spielen. Nimm mich mit.«

Da zeigte ihm der Kieselstein den Weg durch ein Kanalisationsrohr, in dem der Wasserstrom kräftig nachhalf, sonst hätte der eckige Stein dem glatten kaum folgen können.

Jahre später hatten Wind und Wetter aus dem schäbigen Schotterstein einen feinen Kiesel gemacht. Ja, wenn er sich gelegentlich in einer Wasserlache betrachtete, wunderte er sich darüber, wie gut er aussah, was alles unter seinem rauhen Äußeren zum Vorschein gekommen war.

Während seiner Entwicklung hatte er sich auch an die anderen gut angepasst. Er war nicht der einzige Ungehobelte gewesen, so dass man sich gegenseitig hatte helfen können, wenn die Glatten allzu übermütig wurden. Eine richtige Herzlichkeit entstand allerdings nicht, erst recht nicht, als sie alle fertig waren.

Eines Tages nahm ein Schuljunge den glatt gewordenen Stein mit, verlor ihn jedoch, und zwar zufällig dort, wo er früher gelegen hatte. Aber die alte Heimat hatte sich sehr verändert, manche Freunde waren abgegangen, alte Angehörige waren zersprungen, neue Mitarbeiter aus der Nachbarschaft hinzugekommen.

Das Schlimmste aber war, dass er selber nicht mehr der alte war. Sein freudiger Gruß an frühere Bekannte prallte auf vorsichtige Neugier. »Wer sind Sie?« hieß es dann verwundert. »Aber ich bin doch...« Der vornehm gewordene Stein unterbrach sich selbst. »Ich bin es ja gar nicht,« dachte er, »ich bin ja gar nicht mehr ich. Im Kern ja, doch wer durchschaut schon den Kern? Und wenn sie mich wiedererkennen, so werden sie mir doch nicht mehr trauen.«

Da rempelte ihn ein alter Kumpel an, der offenbar doch in den Kern schauen konnte, denn er sprach, als hätte er die trüben Gedanken gehört: »Junge, gräm dich nicht. Bleib bei uns. Du bist jetzt gebildet und kannst uns nützen, zumindest aber bist du ein schöner Anblick. Wenn du in Kauf nehmen willst, dass dein Glanz unter Straßenstaub verblasst, wodurch du uns wenigstens scheinbar wieder gleichst, dann werden wir schon miteinander klarkommen, bist doch jetzt so rund, dass du nirgendwo mehr anecken kannst.« Bei diesem Wortspiel kicherte der Alte selbstgefällig vor sich hin.

Der geschliffene Stein folgte dem Rat, denn er liebte seine schmutzige Heimat mehr als den verspielten Strand. Er kroch in ein Asphaltloch und reparierte so die Straße. Und manchmal, wenn es regnete, wurde er schön wie früher am Strand alle Tage, nun aber tat ihm das Schönsein gut, weil es nicht mehr die Hauptsache war.

 


 


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