Helmut Wördemann
Gedichte
Helmut Wördemann

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Der beleidigte Kleiderschrank

Es war einmal ein alter Kleiderschrank, breit und behäbig. Doch seine Schönheit hatte mit der Zeit ihren Glanz verloren, so dass die Familie beschloß, einen neuen, modernen zu kaufen. Sie stellte den Schrank, den schon der Urgroßvater angeschafft hatte, auf den Dachboden, wo auch andere alte Möbelstücke aufbewahrt wurden, denn wegwerfen wollte man sie wegen ihrer ehrwürdigen Vergangenheit nicht.

Da sank dem alten Schrank der ganze Lebensmut, er verblasste vor Enttäuschung und wurde noch hässlicher. Doch dann bäumte sich sein beleidigter Lebenswille noch einmal auf. Er knirschte vor Zorn und bebte vor Wut, bis die Fugen sich lockerten und er auseinanderplatzte.

Nach einigen Monaten kam das Ehepaar reumütig die Treppe herauf, um das gute alte Stück zurückzuholen und in Ehren wieder einzusetzen. Der Kleiderschrank aber hatte seinen Geist aufgegeben. Ohne Liebe hatte er nicht weiterleben können. Nun lagen seine Trümmer Brett für Brett verquer übereinander.

Das Ehepaar wollte ihn erst auf den Müll werfen. Da er beziehungsweise seine Überreste aber keinem im Weg waren, ließ es alles liegen, wie es lag.

Erst viele Jahre später entdeckten die erwachsenen Kinder des Paares den zusammengebrochenen Schrank. Sie brachten die Stücke zum Restaurator, und der setzte sie wieder zusammen. Nach schmerzhaften Wochen des Fugens, Schleifens, Zusammensetzens und Polierens kehrte der alte Kleiderschrank endlich auf seinen Platz im Schlafzimmer zurück. Er fühlte sich wie neugeboren, sprach aber nur von der guten alten Zeit.

 


 


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