Helmut Wördemann
Gedichte
Helmut Wördemann

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Das hilfsbereite Haus

Es war einmal ein Haus, das war so warm wie draußen der Sommer. Und wenn die Fenster offen standen, wuchsen die Forsythien und die Kirschbaumzweige und sogar einige hochbeinige Sonnenblumen bis in die Zimmer herein.

Als aber der Winter die Sonne von der Erde zurückriss, um die Natur in einen starren Erholungsschlaf ohne Blüten und ohne Blätter zu zwingen, da erkaltete auch das Haus. Seine geizigen Bewohner panzerten sich mit Wolle, um Heizkosten zu sparen.

»Außerdem,« so gaben sie an, »brauchen wir uns dann nicht immer umzuziehen. Wir können drinnen so bekleidet sein wie draußen und müssen schlimmstenfalls einen Regen- oder Wintermantel überziehen.«

Ein Kind der Familie aber las gern Bücher, und oft genug hockte es vor dem Fernsehgerät oder vor dem Radio, um sich weltweit zu unterhalten. Es mischte sein flügges Gemüt in die Erzählungen, in die Filme oder in die Musik und spielte alles mit. Je mehr das Kind trotz der dicken Kleidung fror, weil es sich kaum bewegte, umso mehr litt auch das Haus.

Es machte den Wänden schon Schwierigkeiten, dass sie den Sommer entbehren mussten. Sie fröstelten und zitterten. Doch wenn sie das Kind frieren sahen und an dessen empfindliche Haut dachten, schalten sie sich, weil sie selber so hart gebaut waren, dass sie sich eigentlich über Temperaturunterschiede nicht zu beklagen brauchten.

Eines Tages fror es draußen so erbarmungslos, dass der Tau sich als Eis um die Gräser und Büsche klammerte. Auch die Hausmauer überzog der silbrig-weiße Glanz, mit dem der Winter seine grimmige Kälte maskierte. Innen aber bebte das Kind und konnte sich nicht mehr regen, da es ganz unterkühlt war und keine lebendige Kraft mehr in sich spürte. Da hielt es das Haus nicht mehr aus. Es riss sich aus den Fugen und rückte sich Wand um Wand an das Kind, um es zu beschützen.

Erst staute sich nun die restliche Wärme in der Enge, in der das Kind saß. Doch bald strömte durch die Spalten, die das törichte Haus mit der Bewegung der Wände selbst geöffnet hatte, eine so bittere Kälte, dass selbst die Luft gefror und sich wie eine zarte schöne Silberhaut um das Kind legte. Und während der Körper so ein glitzerndes Totenkleid bekam, floh die Seele ganz davon, eine mütterlich-liebevolle Musik trug sie schwebend in den Himmel.

 


 


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