Helmut Wördemann
Gedichte
Helmut Wördemann

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Der widerspenstige Brombeerbusch

Es war einmal ein Brombeerbusch, der war so gut, dass er Jahr für Jahr leckere Früchte hervorbrachte; und auch seine Blätter waren sehr menschenfreundlich, denn man konnte Tee daraus brauen. Aber der Strauch wollte seine Güte nicht missbrauchen lassen. Deshalb hielt er jedem, der ihn ausrauben wollte, harte Dornen entgegen.

Vor diesem Brombeerbusch stand eines Tages im Herbst ein kleines Mädchen, das wollte gerne von den reifen Beeren naschen. Als es aber seine Händchen in den Strauch steckte, wurde es gestochen.

»Warum stichst du mich denn?« fragte das Mädchen demütig-erschrocken. »Du hast mich doch selber angelockt mit deinen schwarzäugigen Früchten, und deine Blätter haben ein bisschen gewinkt. Da habe ich gedacht, ich sollte kommen.«

»Ja,« sagte der Busch, »ich habe dich eingeladen. Weil du mich lieben sollst, habe ich dich hergewünscht. Ich möchte einmal geliebt werden, ohne dass man etwas von mir will.«

»Ja,« antwortete das Mädchen, »das kann ich wohl verstehen, denn es ergeht ja dem, der zu dir kommt, ganz ähnlich. Man kommt, um sich deine Liebe zu holen, nämlich in Gestalt deiner Früchte. Nähme man dich selber mit, müsste man dich zuerst aus der Erde reißen, und dann würdest du verdorren.«

Das sah der Strauch wohl ein, doch misstraute er den Worten, weil er das Mädchen sehr gern hatte und ihre Falschheit nicht hätte ertragen können. Er wollte es deshalb prüfen und forderte es auf: »Wenn du jeden Tag wiederkommst, dann will ich dir glauben, dass du mich gerne siehst und es nicht auf mein Eigentum abgesehen hast.«

Das Mädchen nickte, setzte sich nieder, stützte den Kopf in die Hände und betrachtete den misstrauischen Freund wie ein lebendiges Gemälde, das nach Wald duftete und so unbescholten dastand, breit hingelagert wie ein grüner Hügel.

Eine Woche lang kam das Mädchen Tag für Tag. Bei jedem Besuch musste es feststellen, dass der Strauch ärmer geworden waren, denn andere Menschen gingen nicht so zartfühlend mit ihm um. Soweit sie in sein Buschwerk eindringen konnten, pflückten sie ihm die Beeren von den Zweigen; ein paar Kratzer nahmen sie in Kauf. Einer hatte sogar einige Zweige von ihren Blättern entblößt, so dass der Strauch am letzten Tag der Woche stellenweise zerzaust war.

»Es tut mir leid,« sagte er zu dem Mädchen, »du musst ja nun von mir denken, ich hätte dich betrügen wollen. Als ich dich bat, meine Freundin zu sein, wusste ich ja wohl, dass andere mich ausplündern würden, obwohl ich mich dagegen wehre. Wenn es dir aber nicht darauf ankommt, mich abzuernten, bist du vielleicht nicht so enttäuscht wie ich fürchte.«

»Nein,« tröstete ihn das Mädchen und streichelte die leicht verstaubten Blätter eines Zweiges, den der Busch über den flachen, trockenen Graben zu ihr an die Böschung reichte. »Ich hätte zwar gerne von deinen Früchten genossen, aber so wichtig ist der Geschmack auch nicht, nach wenigen Minuten hat er sich aufgelöst. Ich will auch weiterhin nur deinetwegen kommen; ich will dein Schicksal beobachten, im Winter, im Frühling, im Sommer und wieder im Herbst. Ich kenn' dich ja jetzt durch und durch, so dass ich alles mitfühlen kann, was du in Kälte und Wärme erlebst.«

Da breitete der Strauch ganz gerührt seine Arme aus, und das Mädchen sah in seiner Tiefe die leuchtendsten und die dicksten Beeren, zu denen kein Strauchdieb hatte vordringen können. Sie ließ sich umfangen und nahm die Einladung an. So spendete der Busch ihr doch noch seine besten Früchte, und sie wusste, dass es aus Liebe geschah.

 


 


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