Helmut Wördemann
Gedichte
Helmut Wördemann

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Der abhängige Finger

Es war einmal ein kleiner Finger, der wollte immer ausscheren, um seinen Aktionsradius zu vergrößern. Obwohl die Hand, zu deren Gliedern er gehörte, sich viel bewegte und viel herumkam, wollte der Finger doch gerne seinen eigenen Spielraum haben. Dabei zierte und spreizte er sich, dass die Hand ihn nicht mehr richtig im Griff hatte und auch selber aus dem Rhythmus geriet.

Es dauerte nicht lange, da stieß der Finger in seinem unbeholfenen Selbständigkeitsdrang gegen eine Tischplatte und lief vor Schmerzen blaurot an. Der Mann, dem die Hand und der Finger gehörten, umwickelte ihn mit einem Verband, so dass er ungestört heilen konnte.

In dieser Dunkelheit kam der kleine Finger zur Besinnung:»Was habe ich denn jetzt?« fragte er sich verbittert, »Jetzt habe ich nicht einmal einen Aktionsradius für die Augen, von Berührungen ganz zu schweigen. Selbst die zarte Luft dringt nur mühsam bis zu meiner Haut vor. Nur innen habe ich noch den alten Kontakt: die Hand lässt mich nicht los. Jetzt merke ich erst richtig, dass ich zu ihr gehöre, dass sie ohne mich gar keine richtig Hand wäre, jedenfalls keine komplette. Sie versorgt mich mit allem, was ich brauche, und sie allein kann mich gesund machen.«

Verlegen und großspurig zugleich verkündete der kleine Finger dem weich lauschenden Verband: »Wenn ich aus deinem Gefängnis entlassen bin, werde ich wieder ein vernünftiges Glied meiner Familie. Ich bin sicher, dass meine vier Geschwister mich gerne wieder in ihre Arbeits- und Freudegemeinschaft aufnehmen«.

 


 


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