Louis Weinert-Wilton
Die Panther
Louis Weinert-Wilton

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35

Es war um die Mittagsstunde des folgenden Tages, als Murphy übernächtigt und mit verkniffenem Gesicht auf der kleinen Station den aus London kommenden Zug verließ, und sein erster Blick galt unwillkürlich dem roten Dach von Spittering Farm, das von hier aus deutlich zu sehen war. Er hatte sich zwar bereits am Morgen durch einen neuerlichen Anruf von Scotland Yard aus versichert, daß dort alles in Ordnung ging, aber es bereitete ihm doch eine große Erleichterung, wieder an Ort und Stelle zu sein und selbst nach dem Rechten sehen zu können.

Einen Augenblick überlegte er nochmals, ob er nicht doch den Umweg machen und schon jetzt auch die andere Sache erledigen sollte, die in den letzten Stunden spruchreif geworden war, aber dann machte er eine energische Wendung und marschierte auf das kleine Wäldchen zur Rechten los. Nach etwa hundert Schritten begegnete ihm ein Arbeiter mit Krampe und Schaufel, der auf dem Weg zur Strecke war, und er ließ sich von diesem Feuer für seinen angekohlten Zigarrenstummel geben.

»Nichts Neues?« brummte er dabei paffend, und auch der Mann bewegte kaum die Lippen, als er antwortete:

»Noch nicht, Sir. Aber wir haben bereits mehr als zehn Galgengesichter in den Büschen gezählt, und jede Stunde kommen neue.«

Der Oberinspektor nickte dankend und griff so flott aus, daß er das Strandhotel in kaum zwanzig Minuten erreichte.

Der erste, der ihm hier begegnete, war Inspektor Elliot, aber dieser tat so kühl und geheimnisvoll, daß Murphy höchst mißtrauisch zu blinzeln begann.

»Mir scheint, Sie haben einen Trumpf in der Hand, mit dem Sie mich ausstechen wollen«, sagte er mit einem leichten Seufzer und ließ melancholisch die dicke Unterlippe hängen. »Unsereiner wird eben doch schon ein bißchen alt, und ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir einen kleinen Fingerzeig geben würden. Schließlich geht es ja diesmal um mein ganzes Renommee.«

Der Inspektor wurde noch zugeknöpfter, und die hochgezogenen Brauen in dem selbstbewußten Gesicht sagten dem andern, daß er nichts zu erwarten hatte. Aber Elliot kleidete die Ablehnung immerhin in eine höfliche Ausflucht.

»Ich weiß nicht, ob Sie damit etwas anfangen könnten«, schnarrte er überlegen, »denn es sind ganz persönliche Schlußfolgerungen. Und Sie werden verstehen . . .«

Er räusperte sich und trachtete eiligst loszukommen, und Murphy konnte ihm nur mit einem wehmütigen Blick nachsehen. Er suchte sich zunächst durch ein ausgiebiges Frühstück auf der Terrasse wieder ins Gleichgewicht zu bringen, aber eben als sein Appetit halbwegs angeregt war, störte ihn Mr. Hearson, der sofort auf ihre gestrige Begegnung in Limehouse zu sprechen kam.

»Ich habe mir wegen Ihres Befindens große Sorge gemacht«, erklärte er teilnahmsvoll, indem er den Oberinspektor durch seine scharfen Brillengläser forschend betrachtete. »Sie sahen wirklich sehr angegriffen aus, und nachdem Sie nicht zurückkehrten . . .«

»Kunststück, angegriffen auszusehen«, meinte Murphy mit vollem Mund, »wenn über einem plötzlich so eine verdammte Kiste zusammenklappt und man außerdem noch eine gehörige Portion Leuchtgas in die Lungen bekommt. – Pfui Teufel!«

Der zart besaitete Hearson zog schaudernd die Schultern ein und vermochte vor Entsetzen kaum zu sprechen.

»Furchtbar«, stammelte er. »Da war es noch ein Glück, daß Sie so glimpflich davongekommen sind.«

»Ein Wunder!« stellte der Oberinspektor mit Nachdruck richtig und blinzelte dabei so geheimnisvoll, daß der Mann mit der Brille eine Fortsetzung erwartete, aber sie kam nicht, und Hearson zwirbelte verlegen an seinem gepflegten Spitzbart.

»Ich kann mir nicht erklären, was in Johnson gefahren ist«, nahm er nach einer Weile das Gespräch wieder auf, »obwohl ich mir über ihn schon seit langem meine besonderen Gedanken machte. Sie wissen ja, daß wir nicht sehr gut miteinander standen. Und ich war höchst überrascht, als er plötzlich mein Angebot so ohne weiteres annahm. Dabei wäre ich unbedingt noch weiter gegangen.«

»Der alte Bursche ist einfach verrückt geworden«, erklärte Murphy, indem er das Messer in seiner gewaltigen Rechten wie einen Mast aufpflanzte. »Man bringt doch einen harmlosen Menschen, wie mich, der einen besuchen kommt, nicht kurzweg um. Und noch dazu auf so gemeine Weise. Daß es in seinem Kopf nicht richtig war, verraten auch die verschiedenen Spielereien, auf die man in dem Haus gekommen ist. Auf seinem Schreibtisch waren lauter Knöpfe. Mit dem einen konnte man den Stuhl, auf dem ich saß, zusammenklappen lassen, mit dem andern eiserne Jalousien vor die Tür und die Fenster rollen, und mit dem dritten ist er mit einem Sessel in die Tiefe gefahren, wie ein leibhaftiger Teufel. Es soll unter dem Haus eine Menge von Gängen geben, durch die man in alle Richtungen gelangen kann. Aber wir werden ihn schon zu fassen bekommen und auch den Halunken von seinem Diener. Morgen um diese Zeit« der Oberinspektor sah nach seiner Uhr – »sitzt er.«

Hearson konnte mit dem Kopfschütteln nicht fertig werden, und seine Mienen verrieten, wie nahe ihm das alles ging.

»Nun habe ich wirklich die ganze Sache allein auf dem Hals«, sagte er endlich mißmutig, »denn auch der Colonel hat mich ganz unvermittelt im Stich gelassen. Er mußte, wie er mir schrieb, plötzlich eine längere Reise antreten.«

Murphy zuckte kaum merkbar mit den Ohrenspitzen und bestrich einen ansehnlichen Bissen Steak, den er auf der Gabel hatte, sehr dick mit Senf.

»Ich habe den Colonel schon immer für einen sehr gescheiten Menschen gehalten«, meinte er etwas unklar und begann dann eifrig zu kauen.

Bevor der Oberinspektor sein Zimmer aufsuchen konnte, mußte er auch noch Ben anhören, der ihn bereits mit großer Ungeduld erwartet hatte.

»Sir«, stieß der ehemalige Landstreicher aufgeregt hervor, »man hat mir hier im Hotel eine Stelle angetragen. Bei den Maschinen. Und wenn Sie mich nicht mehr brauchen sollten . . .« Er schubste aus alter Gewohnheit die Hosen hoch und sah seinen Herrn etwas unsicher an, wußte aber mit der Antwort nichts Rechtes anzufangen.

»Scher dich zum Teufel«, brummte nämlich Murphy unliebenswürdig, weil er augenblicklich ganz andere Sorgen hatte, aber immerhin erinnerte er sich bei dieser Gelegenheit, warum er den Stromer so ausstaffiert und mit sich nach Chesterhills geschleppt hatte. Die Angelegenheit mit der Brieftaube war noch nicht ganz geklärt, und wenn sie auch heute keine wesentliche Rolle mehr spielte, so bildete sie doch immerhin ein Glied in der Kette, und Murphy war für gründliche und saubere Arbeit.

Er nahm daher oben zunächst einmal die Karte zur Hand, in die er nach den Angaben Kitsons den roten Strich eingezeichnet hatte, und verfolgte denselben in seinem Verlauf. Er ging etwa zwei Meilen westlich an Chesterhills vorbei, und es war nicht wahrscheinlich, daß es sich um eine der Brieftauben des Colonels gehandelt hatte. Nach dem eingravierten »R« war sie vielmehr für diesen bestimmt und sollte offenbar den Flug zu seiner Stadtwohnung nehmen.

Was die Botschaft selbst betraf, so war sich der Oberinspektor über deren Bedeutung schon längst im klaren, da sich der Colonel so prompt an seine Fersen geheftet hatte. Nachdem aber die Taubenpost nicht in seine Hände gelangt war, mußte ihm der Auftrag schließlich noch auf einem anderen Weg zugekommen sein, und die Vermutung, daß Johnson dies besorgt hatte, lag ziemlich nahe.

Obwohl er sich hiervon nicht sonderlich viel versprach, stahl sich Murphy gegen Abend wieder einmal aus dem Hotel, um der gewissen roten Linie in ihrer Verlängerung nachzugehen. Vorher hatte er mit großer Gründlichkeit seine zwei Pistolen instand gesetzt und mit einigen anderen Dingen zu sich gesteckt, und als er in die Nähe des »Tanzenden Delphin« kam, ließ er einen schrillen Pfiff durch die Finger los.

Mit Hannibal im Gefolge machte er sich auf den Weg. Er ließ seine Augen unausgesetzt nach links und rechts schweifen, aber weit und breit war kein Objekt zu erblicken, das für seine Nachforschungen in Betracht kam, und er beschloß daher, diese bei dem kleinen Baumbestand, den er vor sich hatte, abzubrechen.

Es waren alte hohe Kiefern, die mit hohem Gestrüpp durchwachsen waren, und als Murphy zwischen die Stämme trat, hatte er alle Mühe, sich durchzuschlängeln. Hannibal dagegen war ganz in seinem Element, und je dichter die Hindernisse waren, desto mehr reizten sie ihn. Schließlich fand ihn sein Herr vor einem umfangreichen Baumstrunk von mehr als Manneshöhe, an dem er mit gewaltigen Sprüngen hochzukommen versuchte.

Der Oberinspektor hatte kaum einen Blick auf den morschen Stamm geworfen, der an der Gabelung völlig abgebrochen war, als auch schon sein Interesse erwachte. Er turnte an den leiterartigen Astansätzen mit überraschender Behendigkeit in die Höhe, und wenige Augenblicke später sah er mit einem befriedigten Schmunzeln in die umfangreiche Aushöhlung. Sie war zwar leer, aber die verbliebenen Federn von der gleichen schwarzen Farbe verrieten, daß er offenbar den gesuchten Ort gefunden hatte.

In diesem Augenblick fuhr Hannibal wie der Blitz ins Gebüsch, und sein bösartiges Kläffen verriet, daß er irgend etwas gestellt hatte. Das konnte, wenn es ein Wild war, unangenehm werden, und Murphy beeilte sich, den gewissen leisen Pfiff loszulassen und raschestens zur Stelle zu kommen. Er hatte noch keine zehn Schritte zurückgelegt, als er sich plötzlich dem Einsiedler von Englemere gegenübersah, den Hannibal mit gesträubtem Fell und gefletschten Zähnen umkreiste.

»Ach, Mr. Short!« sagte Murphy höflich, indem er rasch nach dem Halsband seines Köters faßte. »Wir begegnen einander in den letzten Tagen ziemlich häufig. – Glauben Sie nicht, daß Ihnen das schaden könnte?«

»Die Hauptsache ist, daß es Ihnen nützt«, gab der Mann mit dem Raubvogelgesicht grinsend zurück und ließ den Oberinspektor stehen.


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