Louis Weinert-Wilton
Die Panther
Louis Weinert-Wilton

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30

Al Evans saß halb aufgerichtet im Bett, und in seinem hageren Gesicht spiegelte sich eine gewisse Unruhe, als er hinter Rayne einen Fremden eintreten sah.

Aber der breitschultrige Mann tat so herzlich, wie ein alter Bekannter, und faßte nach der knochigen Rechten, die matt auf der Bettdecke lag.

»Freut mich, daß Sie glücklich über dem Berg sind«, sagte er und fühlte ihm mit wichtigem Gesicht Stirn und Puls. »Alles in Ordnung«, stellte er befriedigt fest, und der Kranke dachte erleichtert, daß es wahrscheinlich der Arzt sei, der ihn während seiner tagelangen Ohnmacht behandelte. Er hatte ihn zwar noch nie gesehen, aber es war ihm ja auch alles andere entgangen, was während dieser Zeit um ihn geschehen war.

In diesem Augenblick kam noch Tom mit einer Mappe und einem Schreibzeug, und Murphy ließ sich so am Bett nieder, daß er dem Kranken voll ins Gesicht sehen konnte, während Rayne an dem kleinen Tisch Platz nahm.

Alles das war so seltsam, daß Evans es mit der Angst zu tun bekam, aber der Mann vor ihm merkte es und legte die Hand beruhigend auf die seine.

»Regen Sie sich nicht auf, Al Skinner«, sagte er, »einmal muß es ja sein. Sie haben es sich vielleicht anders gedacht, aber so geht es nicht, glauben Sie mir. Um der jungen Lady willen muß alles vollkommen ins reine gebracht werden.«

In die blauen Augen des Kranken kam plötzlich ein lebhaftes Leuchten, und er versuchte, sich noch mehr aufzurichten. Dann bewegte er die Lippen, als ob er etwas sagen wollte, aber er brachte keinen Ton hervor und konnte nur nicken.

»Sehen Sie, das habe ich mir gedacht«, meinte der Oberinspektor zufrieden. »Aber nur langsam, ganz langsam. Wir haben Zeit. Sie werden uns alles erzählen, und Mr. Rayne wird es aufschreiben, und die Sache wird in Ordnung sein. Für die junge Lady und auch für Sie, Mr. Evans, wie Sie jetzt heißen. Dabei wollen wir auch bleiben. Den Al Skinner brauchen wir nur als Kronzeugen, und alles andere kommt schon in Ordnung.«

Der Kranke war in fieberhafte Erregung geraten, und seine Augen suchten mit einem flehenden, ratlosen Blick Rayne, bis dieser endlich auch ans Bett trat und ihm beruhigend über die feuchte Stirn fuhr.

»Die kleine Lady . . .«, lallte Evans schwer und unbeholfen, und der ängstliche Ausdruck seines Gesichtes verriet, daß es eine Frage sein sollte.

»Sie ist schon seit Tagen hier, Evans«, sagte Rayne mit Nachdruck, und mit dem hageren Mann ging plötzlich eine überraschende Veränderung vor. Er lächelte glücklich, richtete sich mit einem energischen Ruck auf und griff sich an den dürren Hals.

»Es wird schon gehen, Sir«, preßte er hervor. »Wenn sie nur hier ist.«

Er hielt erschöpft inne, und der Oberinspektor ließ ihm geduldig Zeit, seine Kräfte zu sammeln.

»Und nun erzählen Sie uns die Geschichte von Lyndsell House«, sagte Murphy nach einer Weile gemütlich. »So kurz, wie Sie können. Je kürzer, desto besser.«

Der kranke Mann nickte und schien es nun selbst nicht erwarten zu können, sich auszusprechen. Die ersten Worte überstürzte er förmlich, aber dann wurde er ruhiger und sprach sogar ziemlich klar und deutlich.

»Ich war zuerst Gärtner, dann bin ich ein paar Jahre zur See gewesen. Als ich abheuerte, konnte ich lange keine Stellung finden und logierte in einem Heim in Poplar. Dort machten sich einige Burschen an mich heran, die immer bei Geld waren, besonders ein Buckliger. Eines Abends gaben sie mir tüchtig zu trinken und nahmen mich dann mit sich. Ich weiß heute eigentlich noch immer nicht, was damals vorgegangen ist, aber es muß eine üble Sache gewesen sein. Als ich nüchtern war, sagte mir der Bucklige, daß ich nun zu ihnen gehörte und daß ich zu parieren hätte, weil sie mich sonst fürs ganze Leben ins Gefängnis bringen würden. Ich bekam es mit der Angst zu tun, und sie konnten mit mir machen, was sie wollten. Sie brachten mich in verschiedene Stellungen, aber nirgends konnte ich lange bleiben, denn ich mußte überall etwas für sie ausführen und dann verschwinden. Sie versteckten mich immer eine Weile, aber dann ging es von neuem los, und ich hatte es nicht besser als ein gehetztes Tier.«

Der hagere Mann schloß die Augen und schwieg erschöpft, und Murphy ließ rücksichtsvoll einige Minuten verstreichen, bevor er ihn zu der Sache führte, um die es sich handelte.

»So kamen Sie nach Lyndsell House«, sagte er leichthin, und Evans nickte.

»Als Gärtner. Ich hatte es sehr gut dort und dachte schon, daß man mir nun vielleicht Ruhe geben würde, als sie plötzlich mit einer neuen Geschichte kamen. Sie hatten von unserem Herrn viel Geld erpressen wollen, aber er hatte sich an die Polizei gewendet, und sie verlangten nun von mir, daß ich unsere kleine Lady in ihre Hände bringen sollte . . .«

Der Kranke begann zu zittern, machte mit den Händen fahrige Bewegungen, und seine Augen füllten sich mit Tränen.

»Es war ein wunderschönes, liebes Kind«, stammelte er, »und ich habe mich lange gesträubt, aber es half nichts. Ich hätte damals ein Ende machen und alles anzeigen sollen, aber sie überwachten mich auf Schritt und Tritt, und ich wußte, daß es um mein Leben ging. Außerdem hatten sie mir versprochen, daß dem Kinde nichts geschehen sollte, und eines Tages nützte ich einen günstigen Augenblick und reichte ihnen die Kleine über die Parkmauer, wo einige von unseren Burschen ständig auf der Lauer lagen.«

Er machte wieder eine Pause, und in seinen Mienen spiegelte sich die Erschütterung, die diese Erinnerungen in ihm hervorriefen.

»Am selben Abend holten sie mich«, fuhr er plötzlich mit trockenen Lippen und irrem Blick fort, »um der kleinen Lady einen Panther auf die Schulter zu tätowieren. Ich hatte das als Matrose gelernt. Es war unser Zeichen, und so nannten wir uns, und der Herr sollte sehen, welche Macht die Panther hatten, und daß es ihnen mit ihren Drohungen ernst war. – Ich habe auch das getan«, murmelte er tonlos, »und in meinem ganzen Leben bin ich diese Stunde nicht mehr losgeworden. Ich habe die arme kleine Lady immer vor mir gesehen und . . .« Ein wehes Stöhnen erschütterte seinen hageren Körper, und er schlug die Hände vors Gesicht.

»Bitte, haben Sie bisher alles mitgeschrieben, Mr. Rayne?« fragte der Oberinspektor, nachdem er sich mehrere Male geräuschvoll geschneuzt hatte, und als der junge Mann mit verkniffenen Lippen nickte, wandte er sich wieder Evans zu. Er hätte ihn gerne geschont, aber es war zu fürchten, daß die Kräfte des Kranken jäh versagten, und die Angaben waren zu wichtig, um sie auch nur für Stunden unvollständig zu lassen. »Damals ist das Kind wieder zurückgekommen. Dann aber . . .«

»Das war ungefähr ein halbes Jahr später«, nahm Evans seinen Bericht wieder auf, und er schien nun die Sache auch möglichst rasch vom Herzen haben zu wollen, denn er stieß mit großer Anstrengung Wort für Wort hastig hervor. »Sie wollten das Kind abermals haben, und ich sollte es ihnen wieder bringen. Diesmal sollte aber die kleine Lady für immer weg. Man sagte mir zwar nicht warum, aber ich hörte sie tuscheln, daß die junge Miß, die seit einiger Zeit Sekretärin bei unserem Herrn war, von diesem geheiratet werden wollte, und daß zu diesem Zweck zuerst das Kind aus dem Weg geräumt werden müßte. Dann würde er leichter herumzukriegen sein. Die Miß hat mir auch die Dienstboten vom Leib gehalten, als ich die Kleine holte. Ich sollte sie in eine unserer Herbergen bringen – wir hatten fast jeden Tag eine andere, wo wir zusammenkamen –, aber unterwegs überlegte ich mir's. Ich wollte nicht mehr mittun, mochte geschehen, was wollte. Ich brachte die Kleine zu einem verheirateten ehemaligen Kameraden, einem armen Burschen, gab ihm drei Pfund und bat ihn, er möchte sich ihrer annehmen. Ich war ganz von Sinnen und hatte nur den einen Wunsch, den Teufeln für immer zu entkommen. Fast hätten sie mich aber im letzten Augenblick doch noch erwischt, und vielleicht wäre es besser gewesen. Ich habe in meinem ganzen weiteren Leben keine ruhige Stunde mehr gehabt . . .« Er wandte das Gesicht jäh zur Wand und begann wie ein Kind zu schluchzen.

»Sir«, sagte Murphy zu Rayne, indem er sich mit dem Handrücken über die Augen fuhr, »wollen Sie, bitte, an der Stelle, wo der Mann von der Sekretärin von Sir William Lyndsell sprach, am Rande folgendes bemerken: Miß Margaret Nash, später Lady Lyndsell . . .«

Er hatte noch nicht ausgesprochen, als der junge Mann mit einem Ruck aufsprang und ihn mit verstörten Augen anstarrte, aber der Oberinspektor achtete nicht weiter darauf, sondern drehte die Daumen und klapperte mit der Unterlippe. »Sehen Sie, lieber Evans«, meinte er nach einer Weile, »nun wäre das Ärgste vorüber. Jetzt sagen Sie mir nur noch, wie das war, als Sie zurückgekommen sind. Alles andere ist nicht so wichtig.«

Der Kranke beruhigte sich allmählich, und der weitere Teil seiner Aussagen nahm ihn auch nicht mehr so her. »Ich bin früher gekommen, als mich Mr. Rayne und Peter erwarteten, weil ich mit den ›Panthern‹ abrechnen wollte. Sie hatten mich zum Verbrecher gemacht, mich gequält und verfolgt, mir mein ganzes Leben zerstört, und ich wollte ihnen das alles heimzahlen. Ich hatte jetzt Geld, und mit Geld läßt sich manches machen. Viele Jahre lang hatte ich mir vorgestellt, wie ich mich rächen würde, und wenn ich an die arme, kleine Lady dachte, so schien mir für diese Bestien keine Strafe arg genug. Einmal brachte mir drüben ein Eingeborener ein Paar junge schwarze Panther ins Haus, und da ist der Teufel in mir erwacht. Ich habe mir seither immer solche Tiere gehalten und habe täglich stundenlang vor dem Käfig gesessen und habe mir gedacht, wie das wäre, wenn ich die Burschen bei der Hand hätte und einen nach dem andern durch die Gittertür stoßen könnte . . .« Die sanften Augen des Mannes begannen plötzlich zu glühen, und sein Gesicht verzerrte sich. »Damit sie am eigenen Leibe zu spüren bekommen, was ein Panther ist. Vor allem dieser Satan, der Bucklige.«

»Das war also der Hauptanführer?« unterbrach ihn Murphy interessiert, aber Evans schüttelte mit dem Kopf.

»Nein. Er hat nur uns kleine Leute von der Bande kujoniert. Der Führer war jemand anders. Es hieß, er solle ein ganz junger Mensch sein, aber Sicheres wußte niemand und wollte auch keiner wissen. Wenn er sich sehen ließ, war es bös. Ich bin einmal mit dabei gewesen und werde das nie vergessen. Wir waren gegen zwanzig Burschen in der Herberge, als plötzlich die Tür aufflog und zwei Männer mit großen Mänteln und verhüllten Gesichtern oben auf der Treppe standen. Es war im Nu still wie auf einem Kirchhof, denn die meisten wußten, was das zu bedeuten hatte. Dann ist einer der beiden langsam die Stufen heruntergekommen, auf einen von uns zugegangen, hat eine riesige Hand unter dem Mantel hervorgezogen, und im selben Augenblick gab es einen harten Schlag, unter dem ein starker Bursche wie ein Halm zusammenbrach. Es waren wie gesagt, gegen zwanzig Leute da, denen sonst die Messer und Schießeisen recht locker saßen, aber keiner wagte zu zucken. Der Mann oben auf der Treppe – es soll der ›Panther‹ gewesen sein, wie sie ihn hießen – hatte in jeder Hand eine Pistole, und man hatte schon öfter erfahren, daß die kleinste Bewegung das Leben kosten konnte. Der andere war die ›Pranke‹ und das Ganze nannten sie ein ›Gericht‹.«

Evans suchte wieder zu Atem zu kommen, und der Oberinspektor wackelte mittlerweile lebhaft mit den Ohren. »Und jetzt sind Sie der ›Pranke‹ selbst in den Weg gelaufen?« meinte er nach einer Weile teilnahmsvoll.

Das harte Gesicht des hageren Mannes bekam einen schreckhaften Ausdruck. »Man hat mich in eine Falle gelockt«, erklärte er flüsternd. »Ich hatte einen der Leute von damals aufgetrieben und versprach ihm viel Geld, wenn er mich auf die Spur bringen würde. Er wollte zuerst um keinen Preis, aber als er hundert Pfund in der Hand hielt, ließ er mit sich reden. Er wollte mich irgendwohin bringen, wo ich Näheres erfahren könne, und an dem gewissen Nachmittag teilte er mir telefonisch mit, daß mich abends ein Wagen abholen würde. – Ich hätte auf meiner Hut sein sollen, denn ich kannte ja die heimtückische Bande. Aber der Mann sollte noch neunhundert Pfund von mir bekommen, und ich hatte nur den Wunsch, den Buckligen aufzustöbern. Er war der ärgste Bluthund von allen gewesen. Trotzdem steckte ich für alle Fälle einen Revolver zu mir, aber der Schofför kümmerte sich nicht weiter um mich. Erst als wir zu dem Gehölz kamen, sagte er, daß ich aussteigen und quer durch den Wald gehen müßte, wo ich den andern, mit dem ich die Sache besprochen hatte, treffen würde. Aber nach vielleicht hundert Schritten hörte ich plötzlich hinter mir ein leises Geräusch, und als ich mich blitzschnell umdrehte . . .« Er brach schaudernd ab und ließ seinen scheuen Blick ängstlich durch das Zimmer wandern. »Ich konnte gerade noch einen Schuß abgeben«, stieß er mühsam hervor.

»So«, sagte Murphy befriedigt, indem er sich erhob, »nun ruhen Sie sich aus. Es war ein bißchen viel für das erstemal, aber dafür sind Sie jetzt die Last los.« Er drückte den kranken Mann behutsam in die Kissen zurück und blinzelte nach dem Tisch. »Nur noch eine kleine Unterschrift, wenn Mr. Rayne fertig ist.«

Auch das war bald geschehen, aber Evans hatte sichtlich noch etwas auf dem Herzen. In seinen Augen stand eine flehentliche Bitte, und seine blassen, dünnen Lippen bewegten sich.

»Wenn ich die kleine Lady sehen könnte . . .«, preßte er endlich leise und zaghaft hervor. »Nur ganz von weitem . . .«

»Die kleine Lady?« sagte Murphy lebhaft und begann mit den Augen zu blinzeln. »Aber natürlich! – Mr. Rayne . . .«

Der junge Mann war bereits verschwunden, und der Kranke rückte unruhig auf seinem Lager hin und her. Dann richtete sich sein Blick starr nach der Tür, und der Oberinspektor wandte sich zum Fenster, wo er mit seinem Taschentuch sehr geräuschvolle Manipulationen ausführte.

Grace Wingrove erschien zögernd und mit der leichten Falte zwischen den Brauen auf der Schwelle und sah neugierig fragend in das hagere Gesicht, das ihr mit fieberhaften Augen entgegenstarrte. – Wer war dieser Mann, der so entscheidend in ihr Leben getreten war, und was wollte er von ihr? Plötzlich vernahm sie einen erschütternden Wehlaut, gewahrte ein Paar magere, zitternde Arme, die sich ihr flehend entgegenstreckten, und das junge Mädchen schritt wie eine Traumwandlerin in das Zimmer, um nach diesen Händen zu fassen.

Murphy war mit großer Behendigkeit der erste auf dem Flur und hatte schrecklich viel zu schnauben und in seinem feisten Gesicht herumzuwischen. Auch Rayne fühlte nicht das Bedürfnis zu sprechen. Er schritt mit versteinertem Gesicht neben dem andern her und suchte mit den Enthüllungen fertig zu werden, die ihm die letzte halbe Stunde gebracht hatte. Soweit sie Grace Wingrove betrafen, war nun eine große Sorge von ihm genommen. – Aber das andere war entsetzlich und in seinen Folgen unausdenkbar.

Er ging in Gedanken versunken mit dem Mann von Scotland Yard bis vor das Tor, wo Murphys wunderbares Auto hielt. Auf dem Rücksitz hockte, dünn und starr, Ben Kitson, und neben ihm fletschte Hannibal unaufhörlich die Zähne nach den karierten Hosen.

Der Oberinspektor klopfte seinen Wagen erst eine Weile liebevoll ab und kletterte dann unbeholfen auf den Bock.

»Sir«, sagte er und legte plötzlich besonderen Nachdruck auf diese Anrede, »nun sind Sie im Bilde und wissen, was auf dem Spiel steht. – Und in den nächsten Tagen werden Sie wahrscheinlich noch etwas erfahren, was Sie sich heute nicht träumen lassen.«


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