Louis Weinert-Wilton
Die Panther
Louis Weinert-Wilton

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25

Grace Wingrove war während der Fahrt nach London sehr schweigsam, und in ihren dunklen Augen lag ein verträumter Blick, der irgendwohin in weite Ferne zu schweifen schien. Als sie sich aber der Peripherie der Riesenstadt immer mehr näherten, begann sich zwischen ihren Brauen plötzlich die gewisse strenge Falte zu zeigen, und ihre Mienen bekamen einen etwas unschlüssigen Ausdruck.

Es kam ihr zum Bewußtsein, daß sie eigentlich in der nächsten Stunde eine sehr wichtige Entscheidung zu treffen hatte. Sie war vor einigen Tagen aus Gründen, die sie sogar heute noch nicht kannte, und unter förmlicher Gewaltanwendung zur Gefangenen gemacht worden, aber nun lag es eigentlich ganz an ihr, ob sie es weiter bleiben wollte oder nicht. Der Wagen war offen, und weder ihr Begleiter noch der heimtückische Tom konnten sie hindern, aus der Falle zu schlüpfen. Es genügte ein einziger Hilferuf in dem immer dichter werdenden Straßengewühl, um im nächsten Augenblick frei und in Sicherheit zu sein, und das junge Mädchen öffnete zu wiederholten Malen die Lippen, um vorläufig zu versuchen, ob ihr die Stimme auch gehorchen würde. Die Sache war wirklich sehr einfach, aber nach einiger weiterer Überlegung entschied sie sich doch dafür, vorläufig noch zu warten. Es war ja nun nicht mehr gar so eilig, und vielleicht würde sich eine Gelegenheit ergeben, bei der sie die Leute von Spittering Farm ohne viel Lärm und Aufsehen loswerden konnte.

Sie blinzelte verstohlen nach dem großen Mann an ihrer Seite und ärgerte sich, daß er so steif und wortkarg dasaß. Wenn sie selber nicht zum Plaudern aufgelegt war, so hatte er doch eigentlich die Verpflichtung, wenigstens eine Unterhaltung zu versuchen, nicht aber so zu tun, als ob sie völlig Luft sei. Sie fand das sehr ungezogen, und als sie bis Stratford gekommen waren, äußerte sich ihre üble Laune in der höchst knappen Bemerkung:

»Ich wohne Holloway, 11 Green Street.«

Rayne wandte sich ihr etwas zerstreut zu und neigte verbindlich den Kopf, aber diese stumme Antwort paßte ihr gar nicht, und ihr stolzes Gesichtchen bekam einen kampfbereiten Ausdruck.

»Sie bilden sich doch hoffentlich nicht ein«, sagte sie, »daß ich mich wieder zurückbringen lassen werde?«

Sie sah ihn mit blitzenden Augen an, aber als sie seinem Blick unter den halbgeschlossenen Lidern begegnete, wandte sie den Kopf zur Seite und lauschte nur begierig, was er darauf zu erwidern haben würde.

»O doch«, hörte sie ihn gelassen, aber mit großer Bestimmtheit sagen. »Das war die Bedingung, die ich gestellt habe und auf die Sie eingegangen sind, und ich bin überzeugt, daß Sie sie auch einhalten werden.«

Das junge Mädchen fand es geraten, sich auf ein kurzes Achselzucken zu beschränken, was alles mögliche heißen konnte und jedenfalls zu nichts verpflichtete. Die Sache war schließlich wirklich nicht so einfach, wie es den Anschein hatte. Das mit der Bedingung war zweifellos richtig, und gegebene Versprechen hatte man eigentlich zu halten. Außerdem war ihr in Spittering Farm bisher nicht das mindeste Übel zugefügt worden. Im Gegenteil – und wenn sie sich an die fürsorgliche Mrs. Fanny, an den armen Peter und noch an einiges andere erinnerte, so kam ihr der Gedanke, mit dem sie sich eben beschäftigt hatte, sehr hinterhältig und undankbar vor.

Sie beschloß daher, sich die Sache vorläufig aus dem Kopf zu schlagen und abzuwarten, wie die Dinge sich weiter entwickeln würden. Wenn der Mann an ihrer Seite sich unterstand, sie in ihrer Freiheit auch nur im geringsten zu beschränken, so sollte er sie kennenlernen.

Aber Rayne dachte augenblicklich weder daran, noch überhaupt an das hübsche Mädchen neben sich, sondern an Dinge, die viel unangenehmer waren und um seinen Mund so scharfe Falten gruben, daß Grace davon ganz betroffen war.

Sie erreichten eben das Victoria-Embankment, und als der ernste Backsteinbau von Neu-Scotland-Yard sichtbar wurde, konnte sich die junge Dame eine anzügliche Bemerkung nicht versagen.

»Sie scheinen sehr viel Courage zu haben, daß Sie sich in diese Gegend getrauen«, meinte sie und lächelte ihn etwas boshaft an.

»Man muß hie und da etwas wagen«, gab er gelassen zurück, und im nächsten Augenblick hielt der Wagen auch schon vor dem Portal. Tom nahm von seinem Herrn ein kleines, versiegeltes Päckchen und einen Brief entgegen und verschwand in dem Gebäude, aber schon nach wenigen Minuten saß er wieder am Volant und ließ das Auto anlaufen.

Die Gasse in Holloway war eng und düster, und als Grace Wingrove sie wiedersah, überkam sie plötzlich ein Gefühl arger Enttäuschung und Niedergeschlagenheit. Sie hatte hier in bescheidener Behaglichkeit zufrieden ihr bisheriges Leben zugebracht und nicht einmal war in ihr der Wunsch aufgestiegen, diese dicht aneinander gerückten Mauern mit dem winzigen Stückchen Himmel gegen eine andere Umgebung zu vertauschen. Aber nun, da sie nur wenige Tage fern gewesen war, schien ihr plötzlich alles unfreundlich und schrecklich bedrückend, und bei dem Gedanken, daß hier eigentlich ihr Heim sei, begann ihr Herzschlag zu stocken. Sie sah unwillkürlich Spittering Farm vor sich mit der strahlenden Sonne und dem leuchtenden Grün, und sie sehnte sich nach dem frischen Duft von Erde und Harz, während sie beklommen die heiße, stickige Luft der stillen Gasse einatmete.

Das Haus, vor dem der Wagen hielt, war schmal und zählte nur je vier Fenster in der Front des Halbstocks und der beiden Obergeschosse.

»Wünschen Sie, daß ich auf Sie warte?« fragte Rayne unbefangen, indem er ihr fürsorglich beim Aussteigen half. »Oder soll ich Sie später abholen?«

Das junge Mädchen war mit einemmal sehr kleinlaut, und in den sonst so lebhaft blitzenden Augen lag eine seltsame Unsicherheit.

»Ich werde mich beeilen«, sagte sie nach einigem Zaudern ausweichend, und Rayne lüftete höflich den Hut.

»Ich werde also warten. Wo liegt Ihre Wohnung? Tom wird, wenn Sie fertig sind, Ihr Gepäck herunterschaffen.«

»Nein, danke«, wehrte sie lebhaft ab. »Ich werde mir schon selbst helfen. Gar so viel habe ich ja nicht mitzunehmen, und vom Halbstock ist es nicht so weit.«

Sie wurde sich plötzlich bewußt, daß sie damit eigentlich etwas voreilig gewesen war, geriet in Verlegenheit und wandte sich rasch ab. Der dienstbeflissene Tom riß das Tor auf, und während das junge Mädchen eilig den dunklen Flur betrat, folgte ihr sein Blick ganz mechanisch in die Finsternis. Grace mußte ihre Wohnung schon längst erreicht haben, als er noch immer an der Schwelle verharrte, und sein rotes Gesicht war so gespannt und bedenklich, daß es seinem Herrn auffiel.

»Was ist los?« fragte dieser betroffen, indem er die Augen voll aufschlug und die kaum angebrannte Zigarette wegwarf.

Der Diener hob unschlüssig die Schultern und ließ die Tür ins Schloß fallen.

»Ich weiß nicht, Sir. – Als wir in die Gasse einbogen, sah ich einen Mann eilig in ein Haus stürzen, und ich glaube, es war dieses. Und jetzt war es mir, als ob sich ganz hinten im Flur einige Schatten bewegt hätten. Natürlich kann es auch ein Hausbewohner gewesen sein.«

Rayne stand bereits am Tor und hatte die Hand auf dem Drücker, als er unschlüssig innehielt. Er war in das Geheimnis des Mädchens mit der Pantherkatze zu wenig eingeweiht, um sofort eine Gefahr zu befürchten, sondern dachte vor allem daran, wie Grace Wingrove es aufnehmen würde, wenn er ihr plötzlich nachkam. Es konnte sich wirklich um eine ganz harmlose Sache handeln, und es würde schwer sein, sie von seiner guten Absicht zu überzeugen.

Er sah ganz mechanisch nach der Uhr, begann dann mit großen Schritten vor dem Haus auf und ab zu wandern und wechselte endlich auf die andere Seite hinüber, um einen Blick nach dem Halbstock hinaufzuwerfen. Er fing nun wirklich an, von Sekunde zu Sekunde in immer größere Besorgnis zu geraten, und als sich hinter den verschlossenen Fenstern auch nicht der flüchtigste Schatten zeigte, bemächtigte sich seiner eine fieberhafte Erregung . . .

Grace Wingrove war nicht in der Lage, sich irgendwie bemerkbar zu machen. Sie hatte den dunklen Flur bis zur Vordertreppe eilig durchschritten und war dann die wenigen Stufen förmlich hinaufgeflogen. Der muffige Geruch, den die alten Mauern ausströmten, war ihr unangenehm, und die Totenstille, die sie umfing, zerrte an ihren Nerven. Außer ihr wohnten nur ein älterer Junggeselle und eine alleinstehende Frau, die beide tagsüber außerhalb beschäftigt waren, in dem bescheidenen Haus, aber dem Mädchen war dies bisher nie zum Bewußtsein gekommen, da es gleich den anderen zu derselben Zeit seinem Beruf nachgegangen war. Nun aber erinnerte sie sich seltsamerweise daran und fühlte das Verlangen, so rasch wie möglich aus dem verlassenen, unfreundlichen Gebäude zu kommen.

Sie schloß hastig die Tür auf, drehte in dem winzigen Vorzimmer das Licht an und betrat dann den Wohnraum, dessen Fenster auf die Gasse gingen. Sie blickte sich flüchtig um, holte einen kleinen Koffer herbei und machte sich dann in dem anstoßenden Schlafzimmer daran, die Dinge, die ihr am notwendigsten schienen, einzupacken.

Sie war damit bald fertig und wollte nur noch einen Blick in die Küche werfen, um nachzusehen, ob der Gashahn in Ordnung war. Es war ihr eine große Erleichterung, die altmodischen, dürftigen Räume wieder verlassen zu können, und sie mochte nicht daran denken, daß sie schließlich doch einmal hierher zurückkehren mußte.

Sie setzte ihr Köfferchen im Vorzimmer nieder und klinkte eine Tür an der Hofseite auf . . .

Und was weiter geschehen war, vermochte Grace nie so recht anzugeben. Sie hatte sich plötzlich wie von eisernen Klammern gepackt gefühlt, so daß sie kein Glied zu rühren vermochte, und im selben Augenblick war ihr so etwas wie eine Haube über den Kopf geflogen und hatte ihr das Gesicht und den Atem benommen . . .

Aubrey Rayne sah wohl zum zwanzigstenmal in den knappen zwanzig Minuten, die bereits verflossen waren, nach der Uhr und betrat dann in einem plötzlichen Entschluß das Haus. Er konnte sich in der Dunkelheit nicht gleich zurechtfinden und mußte sein Taschenfeuerzeug zu Hilfe nehmen, um überhaupt die schmale Treppe zu finden. Oben angelangt, suchte er nach der Klingel und drückte kurz. Er vernahm deutlich das gedämpfte Läuten und wartete gespannt, aber in der Wohnung blieb alles still. Er leuchtete auf das kleine Schild, um sich zu vergewissern, ob er auch an der rechten Tür wäre, und als er sich davon überzeugt hatte, setzte er die Klingel plötzlich so hart und anhaltend in Bewegung, daß das Schrillen durch das ganze Haus klang. Aber noch immer rührte sich nichts, und mit einemmal fühlte er, daß Grace Wingrove in Gefahr war.

Ohne einen Augenblick zu überlegen, warf er sich mit seinen kräftigen Schultern gegen das Holz, und Tom, der unten am Tor sprungbereit lauschte, schlüpfte geräuschlos ins Haus. Der kleine unansehnliche Mann mit dem Schafsgesicht und dem schmalen weißen Haarkranz um die ehrwürdige Glatze hatte ganz verwegenes Abenteurerblut in den Adern, das sich im Dienst zweier großer Herren in allen möglichen Weltteilen ausgetobt hatte und nun nach einer kleinen aufregenden Episode lechzte.

Er spannte alle seine geschärften Sinne an und war schon im Begriff, seinem Herrn oben beizuspringen, als er plötzlich vom Ende des Flurs her ein Geräusch zu vernehmen glaubte. Mit wenigen lautlosen Sätzen war er an der Stelle, und noch im Laufen entsicherte er den kleinen Browning, den er aus alter Gewohnheit ständig in der Hüftentasche zu tragen pflegte.

Tom hörte nun deutlich hastig schwere Schritte irgendwo herunterkommen und gewahrte auch schon die Stelle, wo die von den Küchen zu den Kellern führende Treppe mündete.

Er drückte sich eng an die Wand und vernahm dicht neben sich eine heisere Stimme.

»Rascher, zum Teufel. Wir müssen sie unten haben, bevor er mit der Tür fertig wird.«

Der Mann mit dem harmlosen Widdergesicht wußte genug und traf seine Vorbereitungen.

Wenige Sekunden später tauchte in Reichweite von ihm eine Gestalt auf, die das Ende eines Bündels schleppte, dann kam dieses langgestreckte, festumschnürte Bündel selbst und hierauf ein zweiter Mann, der das andere Ende mit beiden Händen gefaßt hielt. Die Burschen stolperten in der Finsternis, die hier noch ärger war, als im vorderen Flur, hastig vorwärts und bogen nun mit ihrer Last eilig um die Ecke zur Kellertreppe.

Tom stand regungslos auf der dritten Stufe, als sein Gesicht ein keuchender Atem streifte.

Im nächsten Augenblick gab es einen harten Schlag, wie wenn ein Hammer auf ein Brett fällt, und gleich darauf polterte ein schwerer Körper in die Tiefe.

Der zweite Mann hielt krampfhaft die Last, die ihm zu entgleiten drohte, und starrte betroffen in das Dunkel, aber schon traf auch ihn etwas so heftig zwischen die Augen, daß ein ganzer Sternenhimmel um ihn herumtanzte.

»Verdammt«, fauchte er heiser, und drängte sich eilig vor, aber nach zwei Schritten fuhr ihm etwas schmerzhaft ins Kreuz, und er sauste haltlos die steile Treppe hinab.

Tom tat einen tiefen, befriedigten Atemzug, dann tastete er nach dem in dicke Decken gewickelten Bündel und nahm es in seine Arme. Er hörte, wie droben eben mit einem gewaltigen Krachen die Tür aus den Fugen ging, aber der Weg, den die andern gekommen waren, war wohl kürzer.

Aubrey Rayne stürzte in wilder Hast in das nächste Zimmer, dann in das zweite, und in seinen Augen, die die Räume absuchten, stand eine wahnsinnige Angst. Wenn dem Mädchen wirklich etwas widerfahren war, trug er daran die Verantwortung, und er machte sich nun die heftigsten Vorwürfe, daß er auf den sicheren Instinkt Toms nichts gegeben hatte. Er sah das schöne stolze Gesicht Grace Wingroves vorwurfsvoll auf sich gerichtet, und es überkam ihn ein Gefühl, wie er es in seinem Leben bisher noch nie gehabt hatte. Die Zähne zusammengebissen, riß er alle Türen auf und grübelte über das Rätsel nach, wie das Mädchen hatte verschwinden können. Trotz des Lärms, den das Aufbrechen der Tür verursacht hatte, lag das Haus noch immer totenstill, und es schien kein lebendes Wesen unter dem Dach zu weilen.

Als er auch den letzten Raum, die kleine Küche, leer fand, stieg seine Erregung auf das höchste, um so mehr, als ihm das gepackte Köfferchen im Vorzimmer sagte, daß Grace bereits reisefertig gewesen war. Erst im letzten Augenblick mußte sich also etwas ereignet haben, was mit ihrem unerklärlichen Verschwinden in Zusammenhang stand.

Er rannte nochmals durch die ganze Wohnung, aber nirgends war die Spur eines Kampfes zu entdecken, und als er schließlich wieder in der Küche landete, war er völlig ratlos und verzweifelt.

In diesem Augenblick hörte er, daß irgendwo ein Schlüssel im Schloß gedreht wurde, aber bevor er sich noch klar darüber werden konnte, was das zu bedeuten hatte, stand plötzlich Tom mit seiner Last vor ihm.

Wenige Minuten später war das junge Mädchen aus den Decken geschält und lag bleich und mit kaum merklichen Atemzügen auf einer Ottomane.

Der so energisch aussehende Mann mit den angegrauten Schläfen stellte sich höchst ratlos und ungeschickt an, aber Tom tat in seiner steifen Würde so, als ob er hier zu Hause wäre. Er brachte Polster herbei, um den dunklen Mädchenkopf bequem zu betten, trieb irgendwo das Notwendige für eine Essigkompresse auf und machte sich dann mit gewichtigem Gesicht daran, der Bewußtlosen den Puls zu fühlen. »Vielleicht wäre es doch gut, Sir, für alle Fälle einen Arzt zu rufen«, schlug er bescheiden vor, aber Rayne zögerte unentschlossen. Es war zwischen ihnen noch kein erklärendes Wort gefallen, und der junge Mann hatte sich geschworen, Grace Wingrove nicht einen Augenblick mehr allein zu lassen, wenn er sie heil wiederfinden sollte.

»Besteht keine Gefahr mehr?« forschte er besorgt.

Der Diener verzog sein rotes Gesicht zu einem ehrerbietigen Grinsen.

»Ich glaube nicht, Sir«, sagte er schlicht. »Die Leute liegen irgendwo im Keller und dürfen zunächst einige Stunden vollauf mit sich selbst zu tun haben.«

In der nächsten Viertelstunde machte Aubrey Rayne die rasendste Fahrt, die er in den Gassen Londons je unternommen hatte, und er kam erst einigermaßen zur Ruhe, als der ihm seit langem bekannte Arzt nach einer flüchtigen Untersuchung den Fall unbedenklich fand.

»Eine kräftige Äthernarkose«, erklärte er, »aber keine ernsten Folgeerscheinungen. Ein oder zwei Tassen starken schwarzen Kaffee und recht viel frische Luft werden die Patientin bald wieder zum Bewußtsein bringen. – Und dann natürlich möglichst Ruhe.«

Er war zu diskret, um irgendwelche Fragen zu stellen und drückte sich, von Rayne geleitet, wieder durch die aufgebrochene Tür, als ob dies ein ganz normaler Wohnungszugang wäre.

Als der junge Mann eilig zurückkehrte, fand er sämtliche Türen und Fenster geöffnet, und Tom saß mit der Kaffeemühle zwischen den Knien neben dem Ruhebett. Er räumte aber den Platz sofort seinem Herrn ein und verschwand in der Küche, um jedoch schon nach wenigen Minuten mit einer aromatisch duftenden Tasse Kaffee zurückzukehren.

»Sie werden Miß Wingrove etwas aufrichten müssen, damit ich ihr den Kaffee einflößen kann«, sagte er, aber Rayne wurde plötzlich so unbeholfen wie ein kleiner Junge, und wußte offenbar nicht recht, wie er dies anstellen sollte.

»Nehmen Sie sie einfach in die Arme, Sir«, kam ihm der Diener zu Hilfe, und der große elegante Mann tat dies mit einer geradezu übertriebenen Zartheit und Vorsicht.

Im nächsten Augenblick fiel das feine Köpfchen des Mädchens an seine Schulter, und er spürte ihr seidenweiches Haar an seiner Wange. Er blickte etwas verlegen auf Tom, aber dieser bekundete durch ein lebhaftes Nicken, daß es so gut war und begann auch schon das Getränk mit großem Geschick zwischen die halbgeöffneten Lippen zu löffeln.

Plötzlich tat Grace einen tiefen, hörbaren Atemzug und schlug die Lider auf. Aber es dauerte geraume Zeit, bevor sie in die Wirklichkeit zurückfand. Sie erkannte das rote Schafsgesicht, vermochte sich jedoch nicht zu erklären, was der Mann mit der Tasse wollte und weshalb sie überhaupt so dasaß. Sie versuchte, das Köpfchen zu heben, aber dabei gewahrte sie plötzlich dicht vor sich einen etwas hochmütigen Mund und ein Paar graue Augen, und sie war davon so verwirrt und fühlte sich so müde, daß sie sofort wieder nach einer Stütze suchte und die Augen schloß.

»Ich glaube, jetzt dürfte es genug sein, Sir«, flüsterte Tom, und Rayne schickte sich an, seine Last wieder in die Polster zu betten. Er mußte sich dabei tief über das schöne Gesichtchen beugen, wenn er recht behutsam vorgehen wollte, und Grace, die durch die Lider blinzelte, sagte sich, daß dies alles doch kein Traum sein könne, da sie es so klar und deutlich vor sich sah.

Ihr völliges Wiedererwachen vollzog sich nun ziemlich rasch, aber sie konnte sich nicht erinnern, was eigentlich vorgefallen war, und die beiden Männer um sie taten so harmlos, daß sie sich vor einer Frage scheute.

»Falls Sie sich stark genug fühlen, wäre es am besten, wenn wir sofort heimführen«, schlug Rayne mit seltsamer Befangenheit vor. »Tom wird hierbleiben und Ihre Wohnung in Ordnung bringen.«

Sie nickte lebhaft, aber ihr eiliger Versuch, aufzustehen, mißlang. Sie mußte noch eine halbe Stunde ruhen, und Tom präsentierte ihr eine zweite Tasse Kaffee und einige Biskuits. Erst dann war sie imstande, den kurzen Weg zum Wagen zurückzulegen, wo Rayne sie neben seinen Führersitz placierte. »Damit der Wind Sie mir während der Fahrt nicht aus dem Wagen bläst«, sagte er mit einem weichen Lächeln, das Grace zum erstenmal an ihm bemerkte und das sie unwillkürlich erröten ließ. »Außerdem können Sie mir auf die Finger sehen, damit ich kein zu rasches Tempo nehme.«

Die Heimfahrt verlief ebenso schweigsam wie die Fahrt am Morgen, denn Grace Wingrove hatte wiederum sehr viel und Ernstes zu denken. Sie empfand, daß sich nun ihr Schicksal entschieden hatte, aber sie wußte nicht, wie das enden sollte. Das Leben, das sie noch vor wenigen Tagen ergeben und zufrieden gelebt hatte, war für sie mit einemmal so dürftig und reizlos geworden, daß sie sich nie mehr würde hineinfinden können. Nun ging sie willenlos einen neuen Weg, ohne zu wissen, wohin er eigentlich führte. Aber das war ihr gleichgültig, wenn . . .

Ihre Augen suchten scheu den jungen Mann an ihrer Seite, der den Wagen in rasender Fahrt gegen Spittering Farm steuerte.


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