Louis Weinert-Wilton
Die Panther
Louis Weinert-Wilton

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2

Schon in der nächsten halben Stunde sollte Murphy nochmals diese Feststellung machen können.

Wenn Ben Kitson gerade ein reines Gewissen hatte, hielt er es für überflüssig, sich der Polizei gegenüber jener respektvollen Höflichkeit zu befleißigen, die er sonst vor diesen gefürchteten Herren an den Tag zu legen pflegte.

»Es ist ein Skandal, wie bei uns zu Lande ein Gentleman, der nicht das geringste ausgefressen hat, behandelt wird«, sagte er entrüstet und zog mit einem energischen Ruck wieder einmal die Hosen hoch, die an den hageren Lenden keinen rechten Halt hatten. »Wenn ich ein Lord oder ein Rothschild wäre . . .«

Er vollendete nicht, was dann wäre, denn Spang war eben damit beschäftigt, die verschiedenen Dinge in Augenschein zu nehmen, die man fürsorglich aus seinen Taschen gezogen hatte, und Ben fand es geraten, sich dieses Inventar rasch noch einmal einzuprägen. Erstens, damit er auch wirklich alles zurückerhielt, wenn man ihn wieder laufen ließ, und zweitens, um nicht durch eine unangenehme Frage überrascht zu werden, falls vielleicht doch die eine oder die andere verfängliche Kleinigkeit darunter sein sollte. Aber seine Raubvogelaugen entdeckten unter den mageren Schätzen wirklich nichts, was ihn hätte in Verlegenheit bringen können, und nur der kunstvoll gebogene Stahlhaken hätte gerade nicht dabei sein müssen. Aber schließlich konnte er ja nicht dafür, daß der Schlüssel zu seiner Gartentür eine so primitive Form hatte, und solch eine Kleinigkeit rechtfertigte noch lange nicht, daß man seine beschauliche Sommerwanderung in Essex gestern rücksichtslos unterbrochen und ihn nach Scotland Yard hereingeschleift hatte. Er sollte bei einer großen Sache mitgetan haben, die vor etwa acht Tagen gedreht worden war, aber er hatte draußen in der Grafschaft ein zwanzigfaches Alibi, an dem selbst die mißtrauische und heimtückische Polizei nicht rütteln konnte. Lauter ehrenwerte, mildtätige Honoratioren, bei deren Nennung der anfangs so eklige Sergeant immer kleiner geworden war.

»Was haben Sie denn hier für eine Kostbarkeit?« fragte da Spang plötzlich und kramte unter den Habseligkeiten ein Ding hervor, das nur um weniges größer als eine Patronenkapsel war und auch genau so kupfrig schimmerte. Aber trotz der Winzigkeit mußte etwas Besonderes daran sein, denn der Sergeant besah es von allen Seiten, bog und putzte daran herum und nahm dann sogar eine Lupe zur Hand.

»Wie sind Sie dazu gekommen, Kitson?«

Der Landstreicher war auf alles eher gefaßt als auf diese Frage, aber sie gab ihm seine gute Laune vollends wieder. Von diesem Stückchen Blech, das er eines Tages fast verschluckt und dann mechanisch in die Westentasche geschoben hatte, konnte ihm keine Gefahr drohen.

»Ein Taufgeschenk von meinem seligen Herrn Paten«, erklärte er mit einem herausfordernden Grinsen. »Sie können sich denken, was für ein zarter Junge ich gewesen sein muß, wenn das Ringlein gepaßt hat. Natürlich bloß am kleinen Finger.«

Der Polizist lächelte etwas dünn und ließ noch immer kein Auge von dem verbogenen Metallstreifen.

»Passen Sie auf, daß Sie nicht auch noch ein Paar Armbänder dazu bekommen. Ich glaube, Mr. Murphy wird sich ein bißchen mit Ihnen unterhalten wollen. Jedenfalls werde ich ihn fragen.«

Ben riß wieder einmal heftig an seinen Hosen, aber sein Gesicht verriet diesmal nichts von Entrüstung, sondern arge Bestürzung. In seinen Kreisen bekam man so etwas wie Vitriolgeschmack im Mund, wenn der Name fiel, den er eben gehört hatte. Man nannte Tybald Murphy »die heulende Daumenschraube«, und wer etwas auf dem Kerbholz hatte, wußte, daß seine Stunde geschlagen hatte, wenn er es mit ihm zu tun bekam.

Der Stromer fühlte sich schuldlos wie ein neugeborenes Kind, aber trotzdem schlotterten ihm ein wenig die Knie, und seine hageren, stoppligen Wangen waren etwas fahl, als er vor dem Gefürchteten stand.

Murphy saß mit dem gleichen lebhaften Interesse über dem winzigen Kupferblättchen wie vordem sein Gehilfe, und seine Mienen wurden immer strahlender, je genauer er es sich besah. Die eingeprägte Figur war unzweifelhaft ein zum Sprung geducktes Katzentier und daneben stand die Ziffer 5. Auf der Rückseite aber war ein R eingeritzt und darunter in winzigen Buchstaben, aber deutlich lesbar »Murphy«.

Der Oberinspektor konnte sich an diesem Namen nicht genug sattsehen, und als er endlich das feiste Gesicht hob, lag darauf so leutselige Milde, daß der wanderlustige Tagedieb seine Beklemmung sofort wieder los wurde. Die schweren Jungen, die überhaupt in allem ein etwas großes Maul hatten, schienen von der »heulenden Daumenschraube« viel zu viel Wesens zu machen, und schon die ersten Worte des freundlichen Mannes bestätigten ihm dies.

»Mr. Ben Kitson? Ich freue mich immer sehr, wenn ich eine neue Bekanntschaft mache. Wahrscheinlich werden wir uns aber nun öfter sehen. Mit Kleinem fängt man an, mit Großem hört man auf. Heute ist es ein Täubchen. Natürlich nur aus Versehen, ich weiß. Ich esse Täubchen auch sehr gern«, gestand er und schmatzte mit seiner dicken Unterlippe. »Meine Wirtin kauft sie, glaube ich, immer auf dem Geflügelmarkt in Hoxton. Dort sollen die schmackhaftesten zu haben sein. – Wie sind denn sie zu dem Tierchen mit dem kleinen Blechring gekommen?«

Er blinzelte Kitson schelmisch an, und dieser bekam es wieder mit seiner guten Laune zu tun.

»Es ist mir zugeflogen, Sir«, erklärte er ernsthaft, und der Oberinspektor nickte ebenso ernsthaft zurück.

»Wie ich es mir gedacht habe. – Nachdem Sie ihm mit der Schleuder eins hinaufgebrannt hatten. – Wann war denn das und wo?«

Der Landstreicher schubste mit den Hosen, und in seine Mienen trat kühle Abwehr. Nach seiner Gesetzeskenntnis war die Geschichte mit der Taube eine Sache, die niemanden etwas anging, und er wollte sich deshalb nicht schikanieren lassen. »Die heulende Daumenschraube« sollte einmal an den Unrechten geraten sein.

»Keine Ahnung mehr«, meinte er obenhin und zuckte bedauernd mit den Achseln. »Unsereiner erlebt so viel, wenn er über Land reist . . .«

Wieder nickte Murphy verständnisvoll und klappte dabei die ausgiebigen Finger seiner Rechten langsam auf und zu. Dann schloß er sie zur Faust und sah Kitson so mitleidsvoll an, daß diesem plötzlich höchst unbehaglich wurde.

»Junge«, sagte er, und seine gefühlvolle Stimme vibrierte, »es gibt kein größeres Unglück als ein schlechtes Gedächtnis. Meins ist ja auch nicht gerade das Beste, aber wenn es sein muß, bekomme ich es schon heran. Schade, daß Sie mit dem Ihren nicht auch so umspringen können.« Seine Augen hafteten traurig auf Kitsons etwas unsicherem Gesicht, und seine Faust bewegte sich wie ein Schmiedehammer gemessen auf und nieder. »Denn was wird geschehen, du Grashüpfer? – Wenn du dich binnen zwei Minuten nicht ganz genau an den Tag und den Ort erinnerst, wird dir meine Hand in den faulen Mund fahren, daß deine schönen Zähne wie Erbsen im ganzen Zimmer herumkollern werden. Und dein ganzes weiteres Leben wird selbst das weichste Täubchen für dein armes Gebiß zu hart sein.«

Ben Kitson war kein Held. Er sah noch, wie der Oberinspektor seine große silberne Taschenuhr bedächtig auf den Tisch legte, dann begannen seine langen dünnen Beine wie Rohre zu schwanken, und er mußte sich krampfhaft die Hosen halten.

»Bei Chesterhills, Euer Gnaden«, stieß er hastig hervor. »Auf einem Hügel mit einer hohen Föhre. Vorgestern, gerade so um Mittag herum.«

»Woher kam sie?« fragte Murphy sanft.

»Von der Küste. Ich sah sie schon von weitem heranstreichen. Sie flog etwas unsicher und nicht sehr hoch, und ich dachte mir, daß dem Tier wohl etwas fehlen dürfte.«

Der Landstreicher hoffte, daß der ungemütliche Mann mit dem freundlichen Gesicht damit zufrieden sein werde, denn mehr hatte er wirklich nicht zu sagen. Aber der Oberinspektor saß mit geschlossenen. Lidern und vorgeschobener Unterlippe regungslos da, als ob er ein kleines Schläfchen hielte, und auch als er endlich blinzelnd erwachte, blieb er zunächst völlig stumm und machte sich nur umständlich in seinen Taschen zu schaffen. Dann legte er zwei Schillinge auf den Tisch und dazu aus einer Aschenschale zwei Zigarrenstummel von der ansehnlichen Dicke und Länge seines Daumens. »Mr. Ben Kitson«, sagte er dabei höflich und mit väterlichem Wohlwollen, »ich nehme an, daß Ihnen bei Ihrer Sommerreise das Geld ausgegangen sein dürfte. Hier haben Sie eine Kleinigkeit, damit Sie sich sattessen und durch einen Schluck stärken können, aber wenn Sie alles versaufen sollten, werden Sie in des Teufels Küche geraten. Sie sind bereits dreimal wegen Landstreicherei vorbestraft, und wenn Sie die Polizei ein viertesmal erwischt, werde ich dafür sorgen, daß Sie eine dauernde Anstellung im Arbeitshaus bekommen. Ich meine es gut mit Ihnen, und deshalb gebe ich Ihnen auch noch zwei Zigarren. Es ist ein vorzügliches Kraut, aber sie haben keinen rechten Zug. Vielleicht versuchen Sie es, ihnen mit Ihrem Sperrhaken Luft beizubringen. Wenn es nicht geht, kauen Sie sie einfach. Und gegen Abend suchen Sie Sam Waterstone in Stepney auf. Er wird Ihnen eine Unterkunft verschaffen und Sie etwas ausstaffieren, denn morgen fahren wir beide über Land! Sie werden pünktlich um neun Uhr beim Holborn Viadukt sein. Und wenn Sie zu irgend jemandem auch nur ein Wort von dem fallen lassen, worüber wir beide uns unterhalten haben, so prügele ich Sie windelweich. Es würde mir zwar schrecklich leid tun«, – er bekam nasse Augen, und seine Stimme wurde unsicher – »aber Sie können Gift darauf nehmen, daß ich es tun werde.«

Erst in gehöriger Entfernung von Scotland Yard wagte es Ben Kitson, seine eiligen Schritte zu hemmen, um zunächst einmal eine der Zigarren Mr. Murphys mit zitternden Händen in Brand zu setzen. Er brauchte dazu ziemlich lange, aber dafür qualmte dann der Stengel wie ein nasser Heuschober, und der Landstreicher konnte darangehen, sich die Ratschläge und Aufträge der »heulenden Daumenschraube« noch einmal nachdrücklich einzuprägen. Er wußte, daß diese verdammt ernst gemeint waren.

Unterdessen war Murphy eifrig damit beschäftigt, die beiden Besucher der letzten Stunde seiner Kartothek einzuverleiben. Wer immer mit ihm in Berührung kam, mußte es sich gefallen lassen, auf einem Stück Pappendeckel verewigt zu werden, und der Oberinspektor nahm diese Arbeit äußerst genau. Er notierte nicht nur alles, was er über den Betreffenden wußte und in Erfahrung bringen konnte, sondern auch alles, was er über ihn dachte, und das waren zuweilen sehr unangenehme und gefährliche Dinge. Glücklicherweise vermochte sie aber niemand zu lesen, denn die Schriftzeichen der »heulenden Daumenschraube« bestanden nur aus ungefähr millimeterstarken Schattenstrichen von verschiedener Größe und jede der schiefen Zeilen ähnelte einem abgenagten Staketenzaun. Bei Mr. Hearson aus Chesterhills nahm der Oberinspektor sein abgegriffenes »Who's who?« zu Hilfe, und je länger er an den verschiedenen Würden und Ehrenstellen und den Klubs zu schreiben hatte, desto ehrerbietiger wurde sein rundes Gesicht.

Als er endlich damit fertig war, beutelte er einige Male höchst nachdenklich an seiner Nase und setzte dann mit fester Hand noch zwei Reihen dicker Pflöcke hinzu.

Als auf sein Klingelzeichen Spang lautlos wie ein Fuchs ins Zimmer geschnürt kam und den Chef stumm und melancholisch in das riesige Tintenfaß starren sah, glaubte er etwas für dessen Zerstreuung tun zu müssen.

»Ich meine«, sagte er mit geheimnisvoller Wichtigkeit, indem er den »Sunday-Narrator« aus der Tasche zog, »daß wir mit dem alten Mann, der im letzten Kapitel plötzlich aufgetaucht ist, eine große Überraschung erleben werden. Es kommt mir ganz so vor, als ob . . .«

Er konnte nicht vollenden, denn Murphys große Hand fuhr mit einem raschen Griff nach dem »Sunday-Narrator«, zerknüllte ihn und warf ihn verächtlich in eine Ecke.

»Sie sollten sich in Grund und Boden schämen, Spang, als Beamter von Scotland Yard solchen albernen Schund zu lesen«, rügte der Oberinspektor würdevoll und streng. »Sie scheinen zu wenig zu tun zu haben, aber ich werde Sie schon in Schwung bringen. – Stellen Sie fest, wo ein gewisser Aubrey Rayne wohnt, und dann machen Sie sich fertig, mich zu begleiten.«

Der Sergeant war an die wechselnden Ansichten und Launen seines Chefs gewöhnt und trollte sich eiligst.


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