Louis Weinert-Wilton
Die Panther
Louis Weinert-Wilton

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9

Die Algernon Street in Kilburn ist eine kleine Seitengasse mit freundlichen Einfamilienhäusern, in der einer den andern kennt und alle Ereignisse sich mit Blitzesschnelle verbreiten. So lief an diesem frühen Sommermorgen das Gerücht von Tür zu Tür, daß Mr. Murphy von Scotland Yard anscheinend umzuziehen gedenke. Aber die Sache stellte sich schließlich als blinder Alarm heraus.

Tatsächlich stand allerdings das sogenannte Automobil des Oberinspektors vor dem Haus und wurde von ihm, seiner Haushälterin und Spang mit Koffern, Reisetaschen, Schachteln und sogar einem kleinen Tischchen hoch beladen. Aber weitere Möbelstücke kamen nicht an die Reihe, sondern Murphy schwang sich nach einer nochmaligen kritischen Musterung seiner Ladung unternehmend auf den Sitz. Das war aber nur eine Vorbereitung, um sich etwas einzusitzen, denn zunächst mußte er seiner Haushälterin noch eine Reihe von Instruktionen bezüglich des Gießens der Kakteen und der Verköstigung seines Laubfrosches erteilen, und dann kam Spang an die Reihe, der heute noch schattenhafter und bedeutungsloser aussah als sonst.

»Ich werde jetzt einige Tage nicht auf Sie aufpassen können«, sagte der Oberinspektor eindringlich, »aber ich hoffe, daß Sie mittlerweile keine Dummheiten anstellen werden. Vielleicht bleibe ich sogar eine ganze Woche weg oder auch zwei, wenn mir die Seeluft gut tut. Wo ich zu finden bin, wissen Sie ja, aber mit albernen Akten lassen Sie mich in Ruhe. Die können warten. Wenn Sie dagegen etwas über den Mann erfahren, der gestern im Auto hinter uns her war, so benachrichtigen Sie mich sofort. Die zwei Galgengesichter, die jetzt an den beiden Enden unserer Gasse stehen, dürften auch zu ihm gehören.«

Der Sergeant sah weder nach links noch nach rechts, sondern nickte nur melancholisch und streckte die spitze Nase in die Luft, wobei er seine dünnen Lippen kaum merklich bewegte. »Colonel Rowcliffe«, hauchte er. »Kensington Courtfield Road. Er ist aber die meiste Zeit in Chesterhills, wo er ein Landhaus hat.«

Murphy zuckte ein bißchen mit den Ohren und beglückte seinen Gehilfen mit einem anerkennenden Blick.

»Wenn Sie nur nicht ein so unmögliches, blödes Gesicht hätten, Spang. Sie sind ja gar nicht so dumm, aber mit Ihrem Aussehen blamieren Sie ganz Scotland Yard. Trotzdem will ich Sie zur Beförderung vorschlagen, wenn Sie sich bei dieser verzwickten Tigergeschichte halbwegs anstellig erweisen. Sie werden es schon erfahren, wenn ich Sie brauche. Mit Hannibals Halsband kennen Sie sich doch hoffentlich noch aus. Wir haben zwar die Sache lange nicht geübt, aber ich habe sie Ihnen ja schon so oft eingedroschen, daß Sie sich sie gemerkt haben müssen. Übrigens haben Sie ja auch den Chiffreschlüssel.« Er wandte sich auf seinem Sitz halb um, und seine Stimme bekam einen warmen, väterlichen Klang. »Hannibal, sieh dir Mr. Spang noch einmal gut an und gib ihm das Pfötchen . . .«

Der Sergeant war mit der Packerei endlich fertig, und er schwitzte nicht wenig. Es dauerte noch eine ziemliche Weile, bevor der Wagen ein dumpfes Brummen hören ließ und sich langsam in Bewegung setzte.

Die beschauliche Fahrt ging quer durch das nördliche London nach Old Ford, und auf die Minute um neun hielt der Oberinspektor beim Holborn Viadukt, wohin er Ben Kitson bestellt hatte.

Der Vagabund von gestern befand sich inmitten einer gaffenden Menge, die sich sofort ansammelte, und es fiel selbst dem geübten Auge des alten Polizisten schwer, ihn in dem wohlausstaffierten Gentleman von heute wiederzuerkennen. Der alte Hehler Waterstone mußte wieder einmal ein besonders schlechtes Gewissen haben, daß er sich des ihm empfohlenen Schützlings so angenommen hatte, aber das gehörte vorläufig nicht zur Sache. »Steigen Sie ein«, knurrte Murphy ungeduldig, »aber kommen Sie Hannibal nicht zu nahe, sonst fährt er Ihnen in die schönen Hosen. Er ist an eine solche Gesellschaft nicht gewöhnt.«

Der Einzug des Oberinspektors in das stille Chesterhills erregte fast dasselbe Aufsehen, wie sein Auszug aus London, und als das ehrwürdige Auto vor dem Strandhotel hielt, einem zweistöckigen Neubau mit der Aussicht auf einige nackte Felsen, eine schmale Düne und einen reizlosen Wassertümpel, gab es auch hier sofort einen beträchtlichen Auflauf. Chesterhills war keines der modernen Seebäder für die oberen Zehntausend, sondern ein Erholungsort für die weniger Begüterten, die auch einmal Tage oder Wochen zu erschwinglichen Preisen etwas Seeluft schnappen wollten. Sie bekamen sie zwar nicht ganz unmittelbar, denn der Ort lag an einem Seitenarm der großen Bucht, und die offene See war durch ein langgestrecktes Felsmassiv völlig verdeckt, aber man konnte die Bay mit dem Boot oder auf den Strandwegen bequem in einer halben Stunde erreichen, und der Ort erfreute sich daher eines ziemlich starken Zuspruchs. Die Verwaltung tat auch alles, um immer neue Gäste heranzulocken und bei den Besuchern keine Langeweile aufkommen zu lassen. Außer den üblichen Vergnügungen gab es einen regelrechten Klub, zu dem auch Damen Zutritt hatten, und auch die Freunde des Spiels kamen auf ihre Rechnung, wodurch mit den ehrsamen Bürgern auch Elemente auftauchten, die Leben in die Bude brachten.

Augenblicklich war die Saison auf ihrer vollen Höhe, und als Murphy schwitzend und steif von seinem Sitz kletterte und Kitson kurz befahl »Laden Sie ab!«, sah er sich einem Hotelangestellten gegenüber, der mit einem unverschämten Blick auf den Wagen und das Gepäck mit kühlem Bedauern die Achseln zuckte.

»Leider alles besetzt, Sir«, sagte er frech, aber das Gehör des Oberinspektors schien unter der Hitze und der Anstrengung des Fahrens gelitten zu haben, denn er nickte sehr lebhaft und äußerst freundlich und überwachte dann Bens eifrige Tätigkeit mit kritischen Augen.

»Seien Sie vorsichtig, Menschenskind«, mahnte er »Wenn Sie mir etwas zerschlagen oder die Sachen durcheinanderbeuteln, werden Sie etwas erleben. Besonders gut geben Sie mir auf die grüne Schachtel acht, denn da habe ich einige frische Eier drin und in der schwarzen Tasche ist meine Teemaschine. Nehmen Sie hübsch behutsam Stück für Stück herunter und tragen Sie ebenso behutsam Stück für Stück aufs Zimmer. Nachdem Sie so lange gesessen haben, wird es Ihnen ganz gut tun, sich ein bißchen auszulaufen. – Welches Zimmer, sagten Sie, daß ich haben kann?« wandte er sich liebenswürdiger an den betreßten Mann. »Im zweiten Stock und hinten hinaus wäre mir lieber, denn da wird es jedenfalls billiger sein. Den Burschen« – er machte eine kurze Kopfbewegung nach Kitson hin, – »können Sie irgendwo unters Dach stecken. Er ist nicht sehr anspruchsvoll. Aber ich möchte es möglichst luftig und bequem haben. Und vor allem muß ein solides Bett da sein, in dem man sich ordentlich ausstrecken kann, ohne daß dabei die Geschichte aus dem Leim geht. Ich hoffe, daß Sie so etwas haben.«

»Wir haben überhaupt nichts«, erklärte der würdevolle Portier neuerlich und fand diesmal selbst die leiseste Andeutung des Bedauerns für überflüssig. Das Strandhotel war nicht gerade ein ausschließlich von Lords und sonstigen vornehmen Persönlichkeiten besuchtes Haus, aber auf Leute, die ihre Eßwaren selbst mitbrachten und derartige plebejische Bedürfnisse hatten, legte es absolut keinen Wert. »Ich glaube, Ihnen dies doch ganz deutlich gesagt zu haben.«

»Gesagt haben Sie es schon«, gab Murphy zu, ohne einen Blick von den Hantierungen seines frisch gebackenen Dieners zu verwenden, »aber helfen wird es Ihnen nichts.« Er wandte sich blitzschnell um, fuhr mit den Händen in die Hosentaschen und trat dem bestürzten Mann fast auf die Füße. »Oder glauben Sie wirklich«, fuhr er mit rotem Kopf und funkelnden Augen fort, »daß ich mit meiner schönen Kalesche und den vielen Sachen, die ich aufgeladen habe, wieder den weiten Weg nach London zurückgondeln werde, weil Sie in Ihrer verdammten Bude keinen Platz haben? Warum haben Sie sich nicht größer gemacht? Ich weiß überhaupt nicht, weshalb ich mich mit Ihnen herumärgere, denn jetzt, wo ich einmal hier bin, bleibe ich auch. Machen Sie das, wie Sie wollen. Meinetwegen schmeißen Sie einen anderen hinaus.«

Der etwas schielende Portier war zwar im Hoteldienst einige fünfzig Jahre alt geworden und hatte manches erlebt, aber dieser energische Gast brachte ihn völlig außer Fassung. Er wich besorgt gegen das Vestibül zurück, der andere folgte ihm jedoch auf dem Fuße, und so geschah es, daß der zurückweichende Mann von der Drehtür unversehens erfaßt und ins Innere befördert wurde, als ein eiliger Herr ins Freie stürzte.

Schon im nächsten Augenblick stellte der geschmeidige Pförtner fest, daß es für ihn keinen gelegeneren und günstigeren Abgang hätte geben können, denn der geschäftige Mr. Hearson, der Allmächtige von Chesterhills, schüttelte dem sonderbaren Fremden mit ausgesuchter Höflichkeit die Hand und ließ es sich nicht nehmen, ihn selbst in die Halle zu geleiten.

Das war natürlich etwas anderes, und der Betreßte überflog rasch noch einmal die Zimmertafel, als in seinem Rücken auch schon die gebieterische Stimme Mr. Hearsons ertönte.

»Geben Sie rasch den Schlüssel von Appartement 3. Ich werde mit Mr. Murphy selbst hinaufgehen, und Sie können dem Diener bei dem Gepäck behilflich sein. – Es ist Mr. Murphy von Scotland Yard«, raunte er dem dienstbeflissenen Angestellten vertraulich und bedeutsam zu, »aber hängen Sie es nicht an die große Glocke. Mr. Murphy aus London genügt – die Leute können sonst vielleicht doch die Köpfe zusammenstecken und alles mögliche tuscheln.«

Er eilte bereits die teppichbelegte Treppe hinauf, und der Oberinspektor, der hörbar hinter ihm dreinschnaufte, verfolgte mit neidischen Blicken die Beweglichkeit dieses Mannes, der doch kaum viel jünger als er selbst sein konnte. Aber Hearson war eben etwas leichter gebaut, und da war es kein Kunststück, so herumzuspringen und so vornehm und elegant auszusehen.

Das Appartement Nr. 3 bestand aus einem kleinen Salon, einem luftigen Schlafraum, einem Bade- und einem Vorzimmer und machte einen äußerst gediegenen Eindruck, aber Murphy zog ein langes Gesicht und sah seinen Begleiter mißtrauisch von der Seite an.

»Was soll das kosten?« fragte er etwas befangen. »Unsereiner bekommt nicht die Reisevergütung eines Ministers oder Staatssekretärs, und auch noch draufzahlen möchte ich bei der Geschichte wirklich nicht.«

Hearson lächelte mit der verständnisvollen Miene eines Weltmannes.

»Diese Räume sind überhaupt nicht zu bezahlen. Wir haben deren drei, und sie sind ausschließlich für unsere Gäste bestimmt. Unsere Angelegenheiten machen ziemlich häufig amtliche Verhandlungen notwendig, und da muß natürlich für die Unterbringung der Herren jederzeit Vorsorge getroffen sein. Und da Sie auch in dienstlicher Eigenschaft hier sind, so ist es nur selbstverständlich, daß wir Sie, wie jeden anderen Vertreter der Regierung oder irgendeiner Obrigkeit als unseren Gast betrachten.«

»Jawohl, nur dienstlich«, bestätigte Murphy eifrig und ließ sich erschöpft in einen der tiefen Klubsessel fallen. »Glauben Sie, daß mich sonst zehn Pferde aus meinem Büro herausbekommen hätten – bei dieser Hitze?« Er fächelte sich mit seiner tellergroßen Hand Kühlung zu und lutschte mißmutig an der dicken Unterlippe. »Ich habe es mir lange überlegt, weil ich, offengestanden, schon ein bißchen bequem geworden bin, aber was will man machen? Pflicht ist Pflicht.« Er seufzte tief auf und begann mit ergebenem Gesicht die Daumen zu drehen. »Mr. Hearson, danken Sie dem Schicksal, daß es Sie davor bewahrt hat, zur Polizei zu gehen. Ein feiner Beruf sage ich Ihnen. Tag und Nacht heißt es auf den Beinen sein, und man müßte dazu eigentlich mit der Nase eines Bluthundes auf die Welt kommen.«

»Die scheinen Sie nach Ihrem Ruf ja zu haben«, meinte der elegante Herr verbindlich, aber Murphy blinzelte höchst verschmitzt und schlug sich auf die Schenkel.

»›Die heulende Daumenschraube‹, was? – Haben Sie auch schon davon gehört? Sehen Sie«, fuhr er vertraulich fort, »das ist auch so ein Schwindel. Wenn unsereiner erst einmal so einen Ruf hat, dann glaubt man, wer weiß was für ein verflucht gescheiter Kerl er ist. Und gerade die geriebensten Gauner sind die ersten, die darauf hereinfallen. Aber hexen kann keiner von uns. Und wenn ich an die sonderbare Geschichte denke, die hier passiert ist, so brummt mir der Schädel wie ein Kreisel, und ich kann nicht klug daraus werden. Ich bin ja sonst nicht gerade auf den Kopf gefallen, aber bei dieser Hitze ist mit meinem Gehirn nichts anzufangen.«

Der Oberinspektor wurde in seiner rückhaltlosen Mitteilsamkeit durch Ben und den Portier unterbrochen, die das Gepäck angeschleift brachten, während Hannibal knurrend und mißtrauisch hinter ihnen dreinschlich. Murphy zählte mit seinem dicken Zeigefinger pedantisch die einzelnen Stücke, dann winkte er entlassend.

»Sie können sich jetzt ein Frühstück geben lassen, Kitson«, sagte er gönnerhaft, »aber fressen Sie nicht zuviel. Sie sind das nicht gewöhnt, und ich möchte nicht die Schuld daran tragen, daß Sie sich den Magen verderben. Wenn Sie fertig sind, setzen Sie sich unter meinen Balkon und spitzen die Ohren. Falls ich Sie brauchen sollte, werde ich pfeifen.«

Kitson zog mit einer Miene ab, als ob er die Rolle eines korrekten Dieners, der den Mund zu halten hat, schon seit undenklichen Zeiten bekleidete, und der Portier beeilte sich, ihm zu folgen. Dieser Mann von Scotland Yard war entschieden kein angenehmer Gast, und es schien geraten, ihm tunlichst aus dem Wege zu gehen.


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