Louis Weinert-Wilton
Die Panther
Louis Weinert-Wilton

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34

»Kehren Sie den Fuchsbau von oben nach unten«, sagte Murphy eine Viertelstunde später zu dem Leiter des Polizeirayons Limehouse, »aber geben Sie acht, daß Sie nicht in irgendein Loch purzeln. Das Haus spielt alle möglichen Stückchen. So werden Sie an der Stelle, wo der Stuhl hinter dem Schreibtisch steht, wohl eine Versenkung finden, und ich wette, daß Sie dann in einem der anstoßenden Häuserblocks herauskommen werden; oder vielleicht sogar in beiden. Jedenfalls setzen Sie sich aber nicht in die niederträchtige Kiste vor dem Schreibtisch, denn das könnte Ihnen ebenso übel bekommen wie mir.«

Der Oberinspektor war in großer Eile, denn es drängte ihn, wieder nach Chesterhills zu kommen, wo allen Anzeichen nach die Ereignisse zur letzten Entscheidung reiften. Inwieweit diese durch sein Abenteuer im Haus Johnsons beeinflußt wurde, vermochte er augenblicklich nicht zu beurteilen, aber jedenfalls sah er nun in dem schwierigen Fall völlig klar und hatte auch den letzten Faden zu dem Netz in der Hand. Sein Besuch in Limehouse war einer etwas kühnen Folgerung entsprungen, auf die ihn der einfältige Spang mit seinem konfusen Bericht gebracht hatte, aber nun stimmte plötzlich alles. Allerdings wäre ihm dieses Schlußglied um ein Haar zum Verhängnis geworden, und daß er so heil davongekommen war, bildete eigentlich ein neues Rätsel. Aber so oft Murphy daran dachte, kam ein schlaues Schmunzeln in sein feistes Gesicht, und er mußte sich dann immer mit dem Taschentuch über die feuchten Äuglein fahren.

Es war kurz nach zwei Uhr, als der Oberinspektor noch einen letzten Blick durch sein Büro in Scotland Yard schweifen ließ und dann energisch die Melone auf das mächtige Haupt drückte. Der Zug nach Chesterhills ging gegen halb vier, und er hatte gerade noch Zeit, ein kleines Frühstück einzunehmen.

Er war schon fast an der Tür, als die Ordonnanz eintrat und gewohnheitsmäßig die Abendzeitung brachte. Murphy griff danach, um sie als Lektüre während der Fahrt zu sich zu stecken, als ihm plötzlich vom obersten Blatt einige Zeilen in fetten Lettern in die Augen sprangen und seine Mienen förmlich erstarren ließen:

»Lord Shelley ist heute morgen auf Highgate-Castle plötzlich verschieden.«

Kaum eine Viertelstunde später gerieten die Telefonapparate von Scotland Yard zum zweitenmal an diesem Tag in fieberhafte Tätigkeit, und zum zweitenmal an diesem Tag fand hinter den dicken Polstertüren des Chefzimmers eine lange, ernste Beratung statt.

Als sie beendet war, empfing Murphy in seinem Büro dieselben vier Herren, mit denen er am Tag vorher auf der Landstraße bei Chesterhills zusammengetroffen war, und dann rief er nach einiger Überlegung Spittering Farm an.

Es meldete sich zunächst Tom, durch den er Rayne an den Apparat bitten ließ.

»Ich wollte mich nur erkundigen, wie es Miß Wingrove und Ihnen geht«, erklärte er auf die etwas erstaunte Frage unbefangen. »Alles in Ordnung? Ja? Schön, freut mich. Passen Sie nur ja recht gut auf. Besonders während der Nacht. Ich kann leider heute nicht mehr zurückkommen, aber da Sie draußen sind, bin ich vollkommen beruhigt. – Lesen Sie Zeitungen?« fügte er plötzlich ganz nebenbei hinzu und lauschte gespannt auf die Antwort. »Nein? Man erfährt daraus nichts Erfreuliches? – Da haben Sie recht. Also auf morgen. Bitte, empfehlen Sie mich Miß Wingrove.«

Bei hereinbrechender Dunkelheit hatte der große, schnelle Wagen von Scotland Yard die Hälfte seines Weges zurückgelegt, und es war bereits Nacht, als er endlich vor dem düsteren Tor von Highgate-Castle hielt. Von einem der klobigen Türme wehte die Flagge auf Halbmast, und aus den dunklen Fensterreihen leuchtete nur hie und da ein mattes Licht.

Murphy setzte den wuchtigen Klopfer energisch in Bewegung, aber er mußte es zu wiederholten Malen tun, bevor ein mürrischer, verschlafener Diener erschien.

»Melden Sie Lady Shelley, daß wir sie zu sprechen wünschen«, sagte er kurz, indem er den Mann beiseite schob und mit seiner Begleitung in die Einfahrt trat. »Wir kommen in amtlicher Eigenschaft. Zuerst aber führen Sie die beiden Herren in den Raum, in dem Lord Shelley aufgebahrt ist.«

Der Diener knickte plötzlich zusammen, schaltete das Licht ein und beeilte sich, mit großen scheuen Augen dem erhaltenen Auftrag nachzukommen. Unterwegs ließ er den Oberinspektor und die beiden anderen Beamten in ein hohes, unwohnliches Zimmer treten und geleitete dann den Arzt und dessen Begleiter weiter. Die Geduld der in tiefem Schweigen Harrenden wurde auf eine harte Probe gestellt, denn es verging fast eine halbe Stunde, ohne daß der Mann zurückgekehrt oder die Herrin des Hauses erschienen wäre.

Nach wenigen weiteren Minuten ließ aber der Diener die beiden Herren wieder ein, und Murphy hielt ihn zurück.

»Bestellen Sie Lady Shelley, daß wir nicht mehr länger als höchstens eine Viertelstunde warten können«, sagte er ernst und eindringlich. »Dann müßten wir sie selbst aufsuchen.«

»Nun?« wandte sich der etwas ungeduldige Gehilfe des Staatsanwalts gespannt an den Arzt, aber dieser hob unsicher die Schultern.

»Jedenfalls ganz seltsame Symptome«, erklärte er zögernd. »Vielleicht eine Blutvergiftung, die von einem winzigen Schnitt an der Wange ausgegangen ist . . .«

Diesmal hielt Lady Margaret die gestellte Frist ein, aber sie befand sich in einem derartigen Zustand, daß sie sich von dem Diener führen lassen mußte. Sie vermochte sich kaum aufrecht zu halten, und ihr Gesicht war grau und verfallen. Sie versuchte, den verstörten Blick in ihren Augen durch eine kalte hochmütige Miene zu verschleiern, und rang verzweifelt nach Fassung, aber Murphy überrumpelte sie sofort.

»Wir müssen Sie um einige Auskünfte ersuchen, Lady Shelley«, begann er ohne weitere Einleitung. »Erstens über das seinerzeitige Verschwinden der kleinen Grace Lyndsell, zweitens über die näheren Umstände, unter denen Ihr erster Gatte Sir William gestorben ist, drittens über das Schicksal des Kindes von Mary Baxter und viertens über das plötzliche Ableben Lord Shelleys. Wir wollen Ihnen die Sache nicht allzu schwer machen, und es wäre daher gut, wenn Sie bei der Wahrheit bleiben würden.«

Der Oberinspektor hatte mit kalter, harter Stimme gesprochen, und jede der Fragen war wie ein Keulenschlag auf die regungslose Frau niedergesaust. Der Angriff kam ihr zu unvorbereitet, und das Entsetzen ließ sie den letzten Rest ihrer geistigen Widerstandskraft verlieren. Sie war ihr ganzes Leben lang kaltblütig und ohne Bedenken jeden Weg gegangen, der ihr für ihre ehrgeizigen Pläne dienlich erschienen war, und jeder Erfolg hatte sie sicherer und skrupelloser gemacht. Nie war ihr der Gedanke gekommen, daß so lange zurückliegende Geschichten wieder lebendig werden könnten, und nur die Schwierigkeiten der letzten Wochen hatten ihr einige Sorgen bereitet. Aber seit dem heutigen Morgen war sie auch dieser wieder ledig – und nun stürzte plötzlich alles um sie zusammen.

Sie wußte, daß diese furchtbaren Fragen kaum verhüllte Anklagen bedeuteten, und ihre rasenden Gedanken suchten verzweifelt nach Antworten, mit denen sie ihnen begegnen könnte. »Ich verstehe Sie nicht«, stieß sie endlich schroff und heiser hervor, indem sie den alten, hochmütigen Zug in ihr verfallenes Gesicht zwingen wollte, aber es wurde nur eine krampfhafte Grimasse daraus.

»Dann muß ich allerdings etwas deutlicher werden«, meinte der Oberinspektor gelassen, und seine sonst so freundlichen Augen bekamen einen so stechenden Ausdruck, daß die große Frau sich scheu zusammenduckte. »Schreiben Sie, bitte, was ich jetzt sagen werde«, wandte er sich an einen seiner Begleiter, »und wir werden ja hören, was Lady Shelley darauf zu erwidern hat.«

Er nahm die dicke Unterlippe zwischen die Zähne und ließ eine kleine Pause eintreten.

»Lady Shelley«, begann er dann knapp und bestimmt, ohne auch nur einen Blick von den Mienen der Frau zu wenden, »die kleine Grace Lyndsell ist seinerzeit unter Beihilfe der Sekretärin Miß Nash aus dem Wege geräumt worden. Dafür haben wir in dem ehemaligen Gärtner von Lyndsell-House einen unbedingt verläßlichen Zeugen. Auch Mr. Johnson wird uns darüber sicher sehr wichtige Angaben machen kennen. Ebenso über die Geschichte von der Geburt des Erben von Highgate-Castle. Dieser Fall liegt übrigens so klar, daß eine Bestätigung durch Sie eigentlich nur mehr eine Formsache ist. Und was den Tod von Sir William betrifft . . .«

Zum erstenmal fand die gebrochene Frau den Mut zu einem entschiedenen Widerspruch.

»Er ist einem Herzschlag erlegen«, stieß sie keuchend hervor. »Er war schon lange Jahre leidend . . .«

»Möglich«, gab Murphy mit einem Achselzucken zu, »denn Sie haben ihm wohl arg zugesetzt; wegen des Testaments, in dem er sein ganzes Vermögen seinem verschollenen Kind für dreißig Jahre vorbehielt. – Auch Ihr Einvernehmen mit Lord Shelley war nicht gerade das beste«, fuhr er mit bedeutsamer Betonung fort. »Nicht einmal der Umstand, daß Sie ihm auf so ungewöhnliche Weise einen Erben schenkten, hat auf die Dauer gewirkt. Und die ärgerliche Schmuckgeschichte der letzten Tage hat wohl den völligen Bruch gebracht . . .«

Der Oberinspektor hielt inne, und Lady Shelley starrte ihn mit Augen an, in denen der Wahnsinn stand.

»Alles das können Sie nicht beweisen«, schrie sie trotzig auf, und ihre weißen Hände gruben sich wie Krallen in die Lehnen des Sessels.

»O doch«, gab Murphy sanft zurück, »nur wird es vielleicht längere Zeit dauern. Und das hätte ich Ihnen gerne erspart, Lady Shelley, denn so eine Untersuchungshaft ist etwas sehr Peinliches, wenn man nicht daran gewöhnt ist.« Seine dicke Unterlippe begann zu zucken, und seine Stimme klang plötzlich unsicher und belegt. »Erstens schon die ungewohnte Umgebung und die furchtbare Einsamkeit. Und dann die ewigen Verhöre bei Tag und Nacht, die einen nicht zur Ruhe kommen lassen. Schrecklich, wie diese armen Leute davon hergenommen werden! Was ich da schon alles gesehen habe . . .«

Er mußte das Taschentuch ziehen, um seiner aufsteigenden Rührung Luft zu machen, und die noch vor wenigen Tagen so stolze und entschlossene Frau bot ein Bild völligen Zusammenbruchs. Ihr glasiger Blick war irgendwohin ins Leere gerichtet und ihre hohe, üppige Gestalt ganz in sich zusammengesunken. Sie schien für das, was um sie vorging, überhaupt kein Verständnis mehr zu haben, aber Murphy mußte sich seinen Jammer von der empfindsamen Seele reden. »Und schließlich hilft doch aller Widerstand nichts«, seufzte er wehmütig. »Besonders, wenn es so erdrückende Beweise gibt. Dann war alles umsonst, und man hat nicht einmal die Wohltat eines reuigen Geständnisses, das unter Umständen aus fünfzehn Jahren zehn machen kann. Oder aus . . .«

Er vollendete nicht, sondern richtete seine unruhigen, feuchten Augen auf Lady Margaret.

»Ich habe einen ordnungsmäßigen Haftbefehl, und wir werden Sie also mitnehmen müssen; sofort, und wie Sie hier sitzen. Falls Sie noch etwas anzuordnen haben, können Sie es in unserer Gegenwart tun. Mit irgendwelchem Gepäck brauchen Sie sich nicht zu beschweren, denn bei uns bekommen Sie alles.«

Er deutete durch eine kurze Geste an, daß er fertig sei, und seine Begleiter rüsteten zum Aufbruch, aber die Frau in dem tiefen Fauteuil gab minutenlang nicht das geringste Lebenszeichen von sich. Plötzlich jedoch ging über ihr starres Gesicht ein krampfhaftes Zucken, und über die blutleeren Lippen rang sich mühsam und tonlos die Frage:

»Und wenn ich spreche . . .?«

»Dann ist das natürlich etwas anderes«, beeilte sich Murphy lebhaft zu erwidern. »In diesem Fall können Sie auf eine gewisse Rücksichtnahme rechnen, und ich will Ihnen gerne« – er dachte einige Sekunden nach, bevor er langsam fortfuhr – »sagen wir: eine halbe Stunde Zeit geben, in aller Ruhe das, was notwendig ist, zu erledigen. – Natürlich dürfen Sie keinen Fluchtversuch unternehmen, der auch völlig aussichtslos wäre.«

Lady Margaret war schon wieder in ihre unheimliche Starre verfallen, aber nach einer endlosen Pause regten sich ihre Lippen kaum merklich, und der Oberinspektor gab dem Mann, der mit bereiter Füllfeder über dem Papier saß, verstohlen ein Zeichen. »Ich habe das Mädchen aus dem Haus schaffen lassen«, murmelte sie, »aber Lyndsell ist eines natürlichen Todes gestorben. Ich schwöre es. – Das Kind gehört Mary Baxter. Johnson hat mir bei allem geholfen und mich durch seine Erpressungen zugrunde gerichtet. Er hat mir auch die Sache gegeben, an der Shelley . . . Das Rasiermesser . . .«

Ihre Stimme ging in ein Lallen über, sie sah sich wie hilfesuchend um und fiel dann ohnmächtig in den Stuhl zurück. Es dauerte eine geraume Weile, bis es dem Arzt gelang, sie wieder zum Bewußtsein zu bringen, und die herbeigerufene Zofe und der Diener mußten sie kräftig stützen, um sie aus dem Zimmer zu geleiten.

»In einer halben Stunde, wenn ich bitten darf, Lady Shelley«, sagte Murphy höflich und mit seltsam bewegter Stimme, aber die gebeugte blonde Frau schien ihn nicht gehört zu haben . . .

In einer halben Stunde standen die fünf ernsten Männer in einem anderen Raum von Highgate-Castle, und der Arzt hatte nur ein hoffnungsloses Achselzucken. Das Gesicht von Lady Margaret war noch bleicher als vordem, aber es lag die Ruhe des Todes darauf.

Erst vor der Pforte wagte der Gehilfe des Staatsanwalts sich zu räuspern und vorsichtig zu einer tadelnden Bewegung anzusetzen.

»Ich hätte nicht die Verantwortung übernommen, Lady Shelley allein . . .«

»Aber ich«, fiel ihm Murphy entschieden ins Wort, indem er heftig in sein Taschentuch trompetete. »Und ich glaube, Sie sollten mit Ihrer Ansicht über diese traurige Geschichte nicht zuviel herumhausieren, wenn Sie Karriere machen wollen.«


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