Louis Weinert-Wilton
Die Panther
Louis Weinert-Wilton

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20

Lady Shelley war eine große, etwas üppige Blondine von sehr selbstbewußter Haltung, und es war verständlich, daß ihr Erscheinen in den Gesellschaftsräumen des Strandhotels allgemeine Aufmerksamkeit erregte. Sie mußte einmal eine außergewöhnlich schöne Frau gewesen sein, aber nun waren ihre Züge bereits etwas scharf geworden, und das Gesicht mit der ein wenig zu starken Nase, dem hochmütigen Mund und den kalten Augen wirkte nicht gerade sympathisch.

Sie kam in Begleitung einer verschüchterten, eingetrockneten Gesellschaftsdame, und Hearson mit dem Colonel und dem Inspektor Elliot gaben ihr das Geleit.

Man machte ihr überall höflich Platz, denn sie war eine sehr bekannte Persönlichkeit, und in den Gruppen, die sich hinter ihr schlossen, lebten die verschiedenen Geschichten auf, die über sie in Umlauf waren. Sie hatte eine etwas romantische Vergangenheit hinter sich, indem sie es von der Sekretärin eines millionenreichen Grubenbesitzers in Wales zu dessen Gattin und nach seinem plötzlichen Tod zur Lady Shelley gebracht hatte. Um diese Etappen ihres Lebens woben sich verschiedene Gerüchte. Ihre erste Ehe mit Sir William Lyndsell, einem Witwer, sollte nichts weniger als harmonisch verlaufen sein, und man munkelte sogar, daß der Schlaganfall, dem ihr Gatte erlegen war, durch eine sehr stürmische häusliche Szene verursacht worden sein sollte. Tatsächlich hatte er seine Witwe nur mit einem verhältnismäßig kleinen Legat bedacht und in seinem Testament auch sonst eigenartige Verfügungen getroffen, die sich auf eine mehrere Jahre zurückliegende geheimnisvolle Affäre bezogen, die fast schon in Vergessenheit geraten war.

Mrs. Lyndsell verschwand dann für längere Zeit aus England, um ihre schmale Rente in den verschiedenen Spielsälen des Kontinents aufzubessern, in denen sie eine der auffallendsten und umworbensten Erscheinungen wurde. Dort lernte sie auch den alternden Lord Shelley kennen, und der exzentrische Mann überraschte seine Familie und die Gesellschaft mit einem neuen Streich, indem er die schöne Mrs. Lyndsell kurzweg heiratete.

Sie zählte damals ungefähr dreißig Jahre, er einige fünfzig, und es gab in den Gesellschaftsrubriken der gesamten Presse wochenlang einen gewaltigen Aufruhr. Man ließ es Lady Shelley ziemlich deutlich fühlen, daß man sie nicht für voll nahm, aber sie setzte sich kühl darüber hinweg. Sie schuf sich einen eigenen Kreis, der allerdings nicht sehr glänzend und auch nicht ganz einwandfrei war, aber ihr genügte er, und Lord Shelley stand derart unter dem Einfluß seiner jungen Frau, daß auch er sich damit abfinden mußte. Allmählich allerdings kam es aber doch zu ernsten Auseinandersetzungen, und vor etwa fünf Jahren war sogar das Gerücht in Umlauf gekommen, daß Lord Shelley allen Ernstes die Scheidung betreibe. Aber kaum einige Monate später zeigte er der etwas infam schmunzelnden Welt die Geburt eines Erben, des elften Earl of Shelley, an.

»Verdammt . . .!« entfuhr es dem schlummernden Murphy halblaut, als er mit seinen Erinnerungen so weit gekommen war, und seine plötzlich sehr munter blickenden Äuglein suchten unwillkürlich nach der hohen Gestalt von Mr. Aubrey Rayne. Er wußte nun mit einem Mal, wer dieser junge Mann war, der ihm soviel Kopfzerbrechen verursacht hatte. Er erinnerte sich genau der Bilder, die er vor einigen Jahren von ihm gesehen hatte, sowie der interessanten Bemerkungen, die darunter gestanden hatten, und er brannte darauf, Zeuge des Augenblicks zu sein, in dem Lady Shelley und dieser Bewohner von Spittering Farm einander begegnen würden.

Aber der elegante Mann war plötzlich spurlos verschwunden, und die Lady blickte aus der Ecke, in die sie sich mit ihrer Begleitung zurückgezogen hatte, kühl und etwas zerstreut auf die wogende Menschenmenge. Sie kannte viele der Anwesenden, empfand aber nicht das Bedürfnis, mit ihnen in Berührung zu kommen, und die eisige Miene, mit der sie hier und da einen Gruß erwiderte, schützte sie vor jeder Zudringlichkeit.

Ihr einziger Wunsch war, so rasch wie möglich an den Spieltisch zu kommen, um wieder einmal ihr Glück zu versuchen. Sie hatte mit größter Mühe einige hundert Pfund zu diesem Zweck aufgetrieben, und der Betrag mußte sich wesentlich vervielfachen, wenn sie ihrer drückendsten Sorgen wenigstens für einige Zeit ledig werden wollte. Ihre finanzielle Lage hatte sich allmählich geradezu katastrophal gestaltet, und es gehörte die unerschütterliche Ruhe von Lady Margaret dazu, nicht den Kopf zu verlieren. Wenn auch der heutige Abend wieder einen Fehlschlag brachte, sah sie keine Hilfe mehr. Die Rente von ihrem ersten Gatten war auf Jahre hinaus verpfändet, und von Shelley hatte sie außer dem knapp bemessenen Nadelgeld, das kaum für ihre bescheidensten persönlichen Bedürfnisse reichte, nichts mehr zu erwarten. Der unberechenbare Lord war nach einigen peinlichen Vorkommnissen hart geworden, und zum erstenmal mußte die energische Frau die Erfahrung machen, daß alle ihre Künste bei einem Manne versagten.

Seither hegte sie gegen ihren Gatten einen tödlichen Haß, und Lord Shelley wäre vielleicht weniger unerbittlich gewesen, wenn er Lady Margaret besser gekannt hätte. Aber sie war nicht die Frau, etwas zu übereilen, und solange sie sich über Wasser halten konnte, bestand keine Notwendigkeit, zu den immerhin gefährlichen äußersten Mitteln zu greifen. Nun begannen aber plötzlich selbst die letzten kostspieligen Geldquellen zu versiegen, und wenn sie an ihre Verpflichtungen dachte, so sagte sie sich, daß sie den gewissen Weg doch würde einschlagen müssen. Selbst das fabelhafteste Spielglück am heutigen Abend konnte nur einen Aufschub bedeuten und ihr lediglich die Möglichkeit bieten, die notwendigen Vorbereitungen zu treffen.

Die stattliche Frau war von ihren ernsten Gedanken so in Anspruch genommen, daß sie weder für die verschiedenen umständlichen Erklärungen Hearsons, noch für die fade Geschwätzigkeit des schneidigen Inspektors ein Ohr hatte. Sie warf nur hier und da zerstreut und ungeduldig ein Wort ein und hätte dieser langweiligen Konversation schon längst ein Ende gemacht, wenn ihr nicht daran gelegen gewesen wäre, noch vor dem Spiel mit Rowcliffe eine dringende Sache in Ordnung zu bringen.

Aber der Colonel war auffallend schweigsam und zurückhaltend und von einer Unruhe, die er kaum zu verbergen vermochte. Falls Jetta Ormond jetzt plötzlich auftauchte, mußte er in die peinlichste Lage kommen; und er hatte damit zu rechnen, wenn er nicht schleunigst wieder in die Direktionsräume zurückkehrte.

Er wollte daher die Gelegenheit, da Lady Margarets kalte Augen wieder einmal auf ihm ruhten, benützen, um sich mit einer flüchtigen Entschuldigung eilends zu empfehlen, aber sie schob plötzlich ihren Arm leicht in den seinen und zog ihn vertraulich einige Schritte beiseite,

»Ich habe eine gewisse Sache nicht vergessen«, sagte sie halblaut und leichthin, »aber es war mir bisher nicht möglich, sie zu regeln. Und ich muß Sie auch heute noch um eine weitere Frist bitten. Sagen wir« – sie dachte einige Sekunden nach, bevor sie den Satz mit großer Bestimmtheit beendete – »von vier Wochen. So lange müssen Sie noch zuwarten.«

Rowcliffe war dieses Thema nicht sehr angenehm, und er hielt es für gut, die Miene eines höchst überraschten biederen Geschäftsmannes aufzusetzen.

»Meines Erachtens ist ja die Angelegenheit bereits erledigt«, gab er mit hochgezogenen Brauen etwas gedehnt zurück. »Die achthundert Pfund waren vor vierzehn Tagen fällig, und nachdem sie nicht erlegt wurden . . .«

Er sprach nicht aus, denn Lady Shelley hatte ihre Hand mit einem jähen Ruck aus seinem Arm gezogen, und er fühlte einen Blick, der ihm arges Unbehagen bereitete.

»Sie wollen doch hoffentlich nicht sagen, daß Sie daraus ein Besitzrecht auf den Schmuck ableiten?« fiel sie eisig ein. »Es wäre dies für Sie allerdings ein glänzendes Geschäft, aber so war es nicht ausgemacht. Sie erhielten die Steine lediglich als Pfand für das Darlehen, und ich muß Sie dringendst ersuchen, sie auch weiterhin nur als solches zu betrachten. Es hängt für mich zuviel davon ab, wie Sie ja wissen, und ich möchte Sie auch noch daran erinnern, daß Sie mir strengstes Stillschweigen über unseren Handel zugesagt haben. Ich könnte in die ärgsten Ungelegenheiten kommen und müßte Sie dafür verantwortlich machen.« Sie nickte ihm flüchtig zu, und als sie sich abwandte, war ihr Gesicht so gelassen, als ob sie über irgendeine nichtige Sache gesprochen hätten.

Sie nahm nun den Weg in den Spielsaal, und während ihr die schattenhafte Gesellschafterin mit Hearson und dem Inspektor folgte, atmete der Colonel befreit auf, da die Gefahr, die ihm den ganzen Abend verbittert hatte, geschwunden war. Er hatte mit dem Geschenk an seine Freundin zum mindesten eine arge Voreiligkeit begangen, allerdings in der Annahme, daß Lady Margaret kaum in der Lage sein würde, das Pfand je auszulösen. Er war über ihre mißlichen Verhältnisse genau unterrichtet und wußte, wie schwer es ihr bereits wurde, auch nur den kleinsten Kredit zu finden. Damit hatte er gerechnet, aber nun mußte er darauf vorbereitet sein, daß sie ihm eines Tages doch das Geld auf den Tisch legen und den Schmuck zurückfordern würde.

Wie er es angesichts dieser Möglichkeit anstellen sollte, ihn von Jetta raschestens wiederzubekommen, darüber vermochte er sich augenblicklich noch nicht schlüssig zu werden, aber es mußte einen Weg geben. Lady Shelley war eine sehr energische Frau, und Rowcliffe hielt zu sehr auf seine gesellschaftliche Stellung, um eine öffentliche Erörterung gewisser Geschäfte für wünschenswert zu halten. Er fühlte sich bei dem Gedanken, welch einen Skandal es gegeben hätte, wenn seine Freundin nicht so folgsam gewesen wäre, äußerst unbehaglich und wollte nun die günstige Gelegenheit benützen, Jetta schleunigst heimzuschaffen. Als er aber in dem kleinen Salon angelangt war und, etwas betroffen, das Licht wieder eingeschaltet hatte, kam er von seinem Vorhaben sofort ab. Jetta Ormond lag friedlich schlummernd in einem Fauteuil und schlief so gründlich, daß sie selbst sein wiederholtes Räuspern und seinen mehrmaligen Anruf nicht vernahm.

Noch lauter zu werden, konnte sich der Colonel nicht entschließen, denn es bot sich ihm plötzlich eine Möglichkeit, auf die zu hoffen er nicht gewagt hatte. Er konnte seine ermüdete Freundin ihrem gesunden Schlaf überlassen und mittlerweile weiter seinem Vergnügen nachgehen. Schließlich hatte er dafür die gewiß stichhaltige Entschuldigung, daß er es nicht über sich gebracht hätte, sie zu wecken.

Rowcliffe fand diesen Einfall so vortrefflich, daß er rasch wieder das Licht verlöschte und zur Sicherheit auch noch die Tür versperrte. Dann rief er, um ja nichts außer acht zu lassen und einen Zeugen zu haben, einen der Diener herbei.

»Miß Ormond ist etwas ermüdet, und hat sich zurückgezogen«, erklärte er diesem. »Sorgen Sie dafür, daß sie nicht gestört wird. Falls sie sich aber selbst melden sollte, so holen Sie mich sofort aus dem Spielsaal.«

Wenige Augenblicke später schritt er gut gelaunt und unternehmungslustig durch die Reihen der grünen Tische, und fast zur gleichen Zeit erhob sich auch der gemächliche Mr. Murphy von seinem Stuhl, auf dem er fast den ganzen Abend friedlich geschlummert hatte. Er streckte etwas umständlich die stämmigen Beine, rieb sich die Augen und säuberte seine Hosen und die Weste sorgfältig von der Zigarrenasche, mit der er sich bestäubt hatte. Dann steckte er sein feistes Gesicht neugierig in den Tanzsaal, wiegte sich eine Weile nach dem Takt der Musik in den massigen Hüften und wechselte hierauf einige Schritte weiter zum Spielzimmer.

Lady Shelley saß gerade gegenüber dem Eingang, und Hearson hatte es sich angelegen sein lassen, ihr einige angemessene Partner zu besorgen. Er selbst spielte nie, aber dafür war Inspektor Elliot eifrig bei der Sache, und Murphy konnte mit Staunen und Neid wahrnehmen, wie er eben einen ansehnlichen Haufen Geld zu sich heranzog.

Lady Margaret setzte mit hartnäckiger Gelassenheit, und je mehr sie in Verlust geriet, desto höher wurden ihre Einsätze. Einmal mußte ja die bisherige Serie der Nieten ein Ende haben, und ein einziges halbwegs günstiges Spiel konnte sie sofort wieder retten.

Der Oberinspektor blinzelte verschlafen und gelangweilt durch den großen Saal, aber er ließ den Tisch gegenüber nicht eine Sekunde aus dem Auge. Diese große üppige Frau, von der er schon so viel gehört hatte, und die mit unerschütterlicher Ruhe Schein um Schein auf den Tisch legte, beschäftigte ihn außerordentlich, und ebenso interessant war für ihn sein Kollege Elliot, der lässig mit einem Pack Banknoten hantierte, die wohl das Mehrfache seines Jahresgehaltes ausmachten.

Murphy seufzte tief auf, und sein Blick begegnete den etwas überraschten Augen von Mr. Hearson, der auch schon eilig auf ihn zukam.

»Verzeihen Sie, daß ich mich nicht weiter um Sie gekümmert habe«, entschuldigte er sich hastig, »aber ich mußte annehmen, daß Sie sich bereits zurückgezogen hätten. Sie waren ja so müde . . .«

»War ich auch«, bekräftigte der Oberinspektor, indem er lebhaft mit dem Kopf nickte. »Zum Umfallen müde. Aber dann habe ich rasch ein kleines Schläfchen gemacht und nun geht es wieder.«

»Interessiert Sie das Spiel«, fragte der höfliche Hearson, »oder spielen Sie vielleicht selbst? Es würde mir ein Vergnügen sein, Ihnen eine Partie zusammenzustellen. Natürlich kein Hasard«, fügte er lebhaft hinzu, als er die erschreckt abwehrende Geste Murphys bemerkte, »sondern ein einfaches bürgerliches Bridge. Ich für meine Person bin auch ein entschiedener Gegner aller dieser wahnwitzigen Glücksspiele, aber ein großer Teil unseres Publikums verlangt nun einmal danach. Deshalb sind wir auch um die Konzession eingekommen, wie Sie vielleicht wissen werden«, erklärte er gleichsam entschuldigend, indem er sich mit seiner Brille zu schaffen machte.

»Jawohl, ich weiß«, bestätigte der Oberinspektor, »und ich finde es ganz in der Ordnung. Warum soll ein schlecht besoldeter Polizeibeamter, wie mein Kollege Elliot, nicht die Freude haben, eine Menge Geld zu gewinnen«, fuhr er harmlos fort, »wenn es Leute gibt, denen es nichts auszumachen scheint, in ein paar Stunden ein paar hundert Pfund zu verlieren. Wie zum Beispiel die Dame, die an seinem Tisch sitzt. Sie wirft die Banknoten hin, als ob es Papierschnitzel wären.« Er schob die dicke Unterlippe vor und blinzelte Hearson launig an, aber dieser verkniff die Lippen und schüttelte sehr mißbilligend den Kopf.

»Es ist Lady Shelley, von der Sie vielleicht bereits gehört haben«, erklärte er halblaut. »Sie ist eine unserer leidenschaftlichsten Spielerinnen, und ich fürchte, daß sie dabei weit über ihre Verhältnisse geht.«

»Seitdem ich zusehe, hat sie fünfhundertfünfzig Pfund gesetzt und nicht ein einziges Mal gewonnen«, konstatierte Murphy trocken, und Hearson warf ihm einen schnellen, überraschten Seitenblick zu. Die Entfernung bis zum Spieltisch betrug gute zehn Schritte, und der Oberinspektor mußte wunderbare Augen haben, wenn er derartige Einzelheiten bei der abgedämpften Beleuchtung beobachten konnte.

Der höfliche Herr hüstelte leicht und schien noch etwas bemerken zu wollen, aber dann wurde er von etwas anderem in Anspruch genommen, und auch Murphy nahm solches Interesse daran, daß seine großen, fleischigen Ohren lebhaft ins Pendeln gerieten. Neben dem Tisch, an dem die blonde Lady Margaret nervös an ihrem bedenklich schwindenden Banknotenbündel fingerte, war plötzlich von irgendwoher die hohe Gestalt Aubrey Raynes aufgetaucht. Er stand mit verschränkten Armen und blickte aus halbgeschlossenen Lidern in das kalte Gesicht der Frau, deren Augen starr auf die Hand des Bankhalters gerichtet waren. Wenn das Blatt sich nicht bald wendete, so waren ihre letzten Hoffnungen zunichte geworden. Ihre Barschaft reichte gerade noch für wenige Einsätze, und sie sah keine Möglichkeit, weiteres Geld aufzutreiben. Ihre Gedanken wurden immer düsterer und verzweifelter, und plötzlich begann auch noch irgend etwas anderes sie zu irritieren. Sie vermochte sich darüber keine Rechenschaft zu geben, aber sie hatte ein äußerst seltsames Gefühl, das ihr den letzten Rest ihrer mühsam behaupteten Fassung raubte. In ihre starren Mienen kam ein unruhiges Zucken, und die weiße Hand, die die Karten hielt, begann leicht zu zittern.

In diesem Augenblick klappte Aubrey Rayne seine Zigarettendose etwas geräuschvoll zu, und die blonde Frau wandte unwillkürlich den Kopf herum.

Sie sah ein Paar graue Augen voll auf sich gerichtet, und ihre Bestürzung war so groß, daß sie für Sekunden jede Selbstbeherrschung verlor. Sie starrte den jungen Mann mit vorgeneigten Schultern an, als ob er eine Erscheinung aus einer anderen Welt wäre, und ihre Bestürzung war so auffallend, daß alle Mitspieler der Richtung ihrer entgeisterten Blicke folgten.

Aber der stattliche Mann sog mit halbgeschlossenen Lidern lässig an seiner Zigarette, und Lady Shelley hatte sich bereits wieder völlig in der Gewalt. Sie machte, ohne vom Tisch aufzusehen, noch einige Einsätze, aber man merkte, daß sie nicht mehr bei der Sache war.

Eine Viertelstunde später raffte Lady Margaret Shelley die wenigen Scheine, die ihr noch geblieben waren, zusammen und verließ, stolz und hoheitsvoll, wie sie gekommen war, den Spielsaal.

Kaum war der Stuhl von Lady Margaret frei geworden, als ihn der junge Mann mit dem melierten Haar einnahm, und man erzählte sich am nächsten Morgen, daß er innerhalb einer knappen Stunde die Kleinigkeit von über zweitausend Pfund gewonnen haben solle.

Murphy hatte an der weiteren Entwicklung der Dinge kein Interesse mehr, und kaum hatten sich hinter Lady Shelley die Flügeltüren geschlossen, als er auch schon wieder gewaltig zu gähnen begann und die kleinen Äuglein kaum mehr aufzuhalten vermochte. Er warf dem aufmerksamen Hearson noch einen verabschiedenden Blick zu, den er mit einem sehr herzlichen Winken begleitete und schlürfte dann mit steifen Knien davon. Es lag zwar wieder etwas Komödie in diesem jämmerlichen Rückzug, aber einige Müdigkeit verspürte der Oberinspektor nun doch. Seit seinem umständlichen Aufbruch aus London an diesem Morgen waren volle achtzehn Stunden verstrichen, und eigentlich hatte es in dieser Zeit für ihn nicht eine Minute Ruhe gegeben. Sogar das Schläfchen im Speisesaal war sehr anstrengend gewesen, denn mit geschlossenen Augen dazusitzen und doch nicht die geringste Kleinigkeit um sich herum zu verpassen, erforderte eine aufreibende Sinnesanspannung. Aber dafür konnte Murphy mit den Ergebnissen seiner Tagesarbeit zufrieden sein, und während er schläfrig die Treppe hinaufstieg, arbeitete sein Kopf äußerst lebhaft, um in das bunte Gemisch seiner Erhebungen und Beobachtungen zunächst einmal etwas Ordnung zu bringen.

Sehr wichtig war es ihm, daß er nun wußte, woran er mit dem eleganten Mr. Rayne war, da er dadurch auch über die übrigen Leute von Spittering Farm einen sehr wertvollen Aufschluß erhielt. In der Sache selbst brachte ihn diese Kenntnis allerdings nicht viel weiter, aber schließlich hatte er ja nun bereits so viele Fährten aufgestöbert, daß die erste und schwerste Arbeit wohl getan war.

Die Geschichte von den Panthern, die so wenig versprechend begonnen hatte, schien sich zu einem äußerst verwickelten Fall zu gestalten und Dinge aufzurollen, die sich heute auch nicht annähernd absehen ließen. Es gab da plötzlich überraschend viele Fäden, aber es mußte sich erst erweisen, ob sie wirklich irgendwo zusammenliefen und ein Netz ergaben, in dem man das gesuchte Wild stellen konnte.

Vorläufig wußte sich Murphy das meiste noch nicht zusammenzureimen, und wenige Minuten später erfuhr er noch etwas, was ihm einiges Kopfzerbrechen verursachte.

Als er eben im Begriff war, die Tür seines Appartements aufzuschließen, schoß dicht neben ihm ein Schatten aus dem Boden.

»Ich habe Ihnen etwas Wichtiges zu sagen, Sir«, tuschelte Ben Kitson, gerade noch zur rechten Zeit, um der gewaltigen Faust des etwas nervösen Oberinspektors einen halben Zoll vor seiner Magengrube Einhalt zu tun.

Murphy öffnete mit der einen Hand die Tür, mit der andern faßte er den Mann beim Kragen und wirbelte ihn wie einen Kreisel ins Zimmer. Der im besten Schlaf gestörte Hannibal ließ ein dumpfes grimmiges Knurren hören und liebäugelte mit der weiten Hose des Eindringlings, aber die Nähe seines Herrn legte ihm einige Zurückhaltung auf.

»Los!« knurrte Murphy mißtrauisch. »Wenn es sich herausstellen sollte«, fuhr er mit bedenklicher Freundlichkeit fort, »daß du dich um diese Stunde ganz unnötigerweise in den Gängen herumtreibst, gibt es einen Tritt, daß du in einem Schwung bis vors Tor fliegst.«

Der Stromer von gestern tat mechanisch den gewohnten Griff nach den Hosen, und in seinem tadellos rasierten Gesicht spiegelte sich so etwas wie gekränkte Würde. Seit dem Tag, an dem er völlig umsonst dreimal gefrühstückt und zum Nachtmahl ungefähr acht Portionen der köstlichsten und nahrhaftesten Speisen vertilgt hatte, hatte er ungeheuer an Haltung gewonnen. Außerdem war ihm ein Begriff von seinem Persönlichkeitswert geworden, da unter den Damen der Küche ein förmlicher Wettlauf um seine Gunst entstanden war.

»Sir«, sagte er daher unerschrocken und selbstbewußt, »Sie werden schon sehen.«

Und dann begann er zu erzählen, was sich im Park vor seinen Augen zugetragen hatte. Er befleißigte sich einer knappen und klaren Darstellung, und der Oberinspektor hörte mit hängender Unterlippe und vibrierenden Ohrenspitzen zu.

»Hast du dir die Burschen näher angeschaut?« fragte er, als der andere geendet hatte, und Ben nickte lebhaft.

»Der erste, der aus der Veranda kam, war beiläufig so groß wie ich und hinkte etwas, aber sein Gesicht war ganz unter der Hutkrempe versteckt. Dafür habe ich aber den kleineren, der sich über ihn hermachte und ihm die Taschen ausleerte, sehr deutlich gesehen. Und ich habe ihn auch sofort wiedererkannt«, fügte er wichtig hinzu, »als ich später um das Hotel herumging. Er hat ein Gesicht wie ein Schafbock und ist der Schofför von einem großen, jungen Herrn, der drinnen bei der Gesellschaft war. Sie haben eben leise miteinander gesprochen, als ich vorüberkam, und ich habe mich sicher nicht getäuscht, Sir.«

»Teufel«, brummte der Oberinspektor ehrlich überrascht, indem er sich ratlos den Schädel kratzte. Aber dann machte er plötzlich eine einladende Handbewegung nach der Tür, und sein Ton war zwar etwas höflicher als früher, aber noch immer höchst bedrohlich. »Halten Sie über die Sache reinen Mund und legen Sie sich zunächst einmal schleunigst aufs Ohr. Pünktlich um acht Uhr brechen wir auf, und Sie können mir die Stelle zeigen, wo Ihnen die arme Taube in Ihr gefräßiges Maul geflogen ist. – Von welcher Farbe war sie eigentlich?«

»Schwarz, Sir«, gab Ben nach kurzer Überlegung zurück und machte sich schleunigst davon, da ihm jede Erinnerung an seine so weit zurückliegende Vagabundenzeit äußerst peinlich war.

Der glänzende Festabend im Strandhotel endete in den Morgenstunden mit einem argen Mißton, von dem jedoch nur wenige Eingeweihte erfuhren.

Nachdem er an dem Tisch von Aubrey Rayne gegen vierhundert Pfund verloren hatte, erinnerte sich Colonel Rowcliffe in seiner Katerstimmung plötzlich an seine Freundin, kam aber schon nach wenigen Augenblicken verstört wieder in das Speisezimmer zurückgestürzt, wo eben die letzten Gäste im Aufbruch begriffen waren.

»Miß Ormond ist beraubt worden«, raunte er Hearson atemlos zu und eilte dann auf den Inspektor los, der eben die ansehnliche Beute des Spielabends in seiner Brieftasche verstaute. Dem Mann des Gesetzes gegenüber wurde er in seiner begreiflichen Aufregung und Entrüstung bereits lauter. »Man hat Miß Ormond im kleinen Salon überfallen und ihres Schmuckes beraubt«, schrie er, aber im selben Augenblick stand auch schon Hearson neben ihm und legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm.

»Ich bitte Sie, kein Aufsehen«, flüsterte er beschwörend. »Was ist geschehen?«

Der Colonel schöpfte keuchend Atem, um das Furchtbare hervorzusprudeln, aber in diesem Augenblick wurde er Mr. Raynes ansichtig, der eben dem Ausgang zuschritt.

Mit einem Sprung war Rowcliffe in der Tür und versperrte ihm mit ausgebreiteten Armen den Weg. »Bevor Sie diesen Raum verlassen, werden Sie mir gefälligst eine Aufklärung geben«, stieß er drohend hervor.

»Worüber?« fragte der große Mann gelassen, und zum zweiten Mal an diesem Abend fühlte der Colonel den unangenehmen Blick an sich heruntergleiten. Aber diesmal stand für ihn zuviel auf dem Spiel, um sich dadurch einschüchtern zu lassen.

»Über den Verbleib des Schmuckes, den Ihre Tänzerin getragen hat«, krächzte er tonlos und reckte sich so hoch wie möglich.

Aber schon in der nächsten Sekunde sah er sich noch um einige Köpfe höher emporgehoben und flog wie ein Ball vor die Füße des entsetzt herbeieilenden Mr. Hearson. Dann schritt der junge elegante Mann gelassen durch die freie Tür, und selbst der schneidige Inspektor Elliot fand in dieser heiklen und peinlichen Situation nur ein ratloses Räuspern.

Dafür überschüttete ihn der aschfahle Rowcliffe mit einer Flut von Vorwürfen. »Daran tragen Sie die Schuld«, stieß er keuchend hervor. »Wenn Sie Ihre Pflicht erfüllen würden, anstatt die ganze Nacht Ihren Vergnügungen nachzugehen, könnten solche Dinge nicht passieren. Man wird ja in Chesterhills bald seines Lebens nicht mehr sicher sein.«

Hearson faßte den aufgeregten Mann hastig unter dem Arm, und mit dem höchst gekränkten Elliot eilten sie zu dritt Miß Jetta zu Hilfe, die in einem bejammernswerten Zustand noch immer in ihrem Stuhl lag.


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