Louis Weinert-Wilton
Die Panther
Louis Weinert-Wilton

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

14

Das Strandhotel hatte an einer seiner Seitenfronten eine kleine glasverdeckte Veranda, die an die Räume der Verwaltung anschloß und lediglich den Mitgliedern des Direktoriums vorbehalten war. Der Ausblick auf die alten niedrigen Häuser und Fischerhütten des Ortes bot zwar kein sonderlich erfreuliches Bild, aber man war hier unter sich, und Mr. Hearson hatte deshalb auch den Sheriff Mr. Pettford und den Inspektor Elliot hierher geleitet. Es ging gegen sechs Uhr, und bevor er Murphy holte, wollte er mit den Herren noch einiges besprechen. Er war selbst durch zwei Perioden Sheriff gewesen, ehe er dieses beschwerliche Ehrenamt Mr. Pettford, einem reich gewordenen Gütermakler, angehängt hatte, kannte sich in allem aus und war von erstaunlicher Rührigkeit.

»Es wird sich empfehlen, daß wir nicht alle gleichzeitig aufbrechen«, meinte er bedächtig. »Vielleicht fahren die Herren voraus, und ich folge mit Mr. Murphy auf einem anderen Wege nach. Wir treffen uns dann bei dem Steinbruch, wo der Fußpfad zu dem Gehölz abzweigt.«

Der kleine kugelrunde Sheriff hörte mit großen Augen aufmerksam zu und nickte lebhaft, wie er es immer tat, wenn sein Vorgänger etwas sagte oder bestimmte, und der Inspektor blies mit affektierter Gelassenheit Rauchringe in die Luft. Die geheimnisvollen Verbrechen der letzten Tage bedeuteten eine höchst unliebsame Unterbrechung seiner gewohnten weit angenehmeren Tätigkeit, und er war darüber gar nicht erbaut. Noch weniger gefiel ihm die Einmischung von Scotland Yard, und er machte kein Hehl daraus.

»Nun, wir werden ja sehen, was man am Viktoria-Embankment in Wirklichkeit kann«, sagte er mit seiner heiseren Stimme bissig, indem er zum Aufbruch rüstete. »Ich fürchte, der Londoner Hexenmeister wird mit seinem Hokuspokus auch nicht viel ausrichten. Eine Keilerei unter lichtscheuem Gesindel, die etwas zu kräftig ausgefallen ist. In solchen Fällen ist nie etwas herauszubekommen.«

Er brachte seine Ansicht mit großer Bestimmtheit vor, und Hearson nickte nachdenklich, indem er irgendwohin in die Ferne blickte.

»Ich fürchte fast auch, denn« – er wiegte bekümmert mit dem Kopf und wurde noch leiser – »ich muß Ihnen offen gestehen, daß mich Mr. Murphy sehr enttäuscht hat.«

»Sehen Sie«, triumphierte der Inspektor selbstbewußt, und er gewann noch mehr an Haltung, als er später den Kollegen von Scotland Yard persönlich kennenlernte.

Es dauerte fast eine Stunde, bis Hearson mit Murphy bei dem verabredeten Treffpunkt anlangte, und der Oberinspektor war so fertig, daß er sich, kaum am Ziel angelangt, erschöpft auf den Boden niederließ. Sie befanden sich in einer kleinen, flachen Mulde, die senkrecht zu der nur wenige Schritte entfernten Landstraße verlief und zur Rechten von einer etwa hundert Fuß langen Gesteinmauer eingesäumt war.

Inspektor Elliot gab die näheren Erklärungen. Er hatte schon beim ersten Anblick des gefürchteten Londoner Detektivs sein Selbstbewußtsein wiedererlangt und glaubte sich wegen des Mannes, der schwitzend und stöhnend im Gras lag und mit schläfrigen Augen zuhörte, nicht allzu sehr bemühen zu müssen. Er zeigte die Stelle, an der der Fahrer der Automobile Association den Schwerverletzten aufgefunden haben wollte, und den Platz, wo man an diesem Morgen auf den Toten gestoßen war. Beide Punkte lagen unmittelbar an der etwa drei Meter hohen unregelmäßigen und rissigen Felswand, aber der eine vor und der andere hinter einer vorspringenden Ecke. Irgendwelche besondere Spuren waren nicht zu entdecken gewesen, obwohl das Wäldchen und seine Umgebung im ersten wie im zweiten Fall eingehend abgesucht worden waren.

»Bis auf die gewisse eigentümliche Fährte, von der ich Ihnen bereits gesprochen habe«, erlaubte sich Mr. Hearson an dieser Stelle bedeutsam einzuflechten, worauf der Inspektor mit einem bedenklichen ›Nun ja‹, Murphy aber mit einem ›Verdammt noch einmal!‹ reagierte, und der kleine dicke Sheriff mit großen Augen lebhaft nickte.

Die ganze Besichtigung währte keine Viertelstunde, und als der Inspektor mit seinen Erläuterungen zu Ende war, trat tiefes Schweigen ein.

»Wünschen Sie vielleicht noch über irgend etwas Auskunft?« wandte sich endlich Hearson zaghaft an Murphy, aber dieser haschte gerade nach Hannibal, der eben einen Vogel im nächsten Gebüsch eräugt hatte und bereits auf dem Sprung war. »Nein, danke schön. Ich weiß jetzt wirklich alles. Der Herr Kollege hat das großartig gemacht. Und ich bin überzeugt, daß uns der Bursche schon ins Garn laufen wird. – Wenn es sich überhaupt um so etwas handelt«, fügte er etwas unklar hinzu und legte Hannibal der Sicherheit halber an eine starke Leine.

»Dann können wir also wohl wieder aufbrechen«, schlug Hearson höflich vor, und Murphy stimmte, ohne sich aus seiner bequemen Lage zu rühren, mit großer Lebhaftigkeit zu.

»Jawohl, meine Herren, brechen Sie auf. Ich kann mir denken, daß Ihre Zeit kostbar ist, aber bei mir ist das etwas anderes. Mich kriegt man nicht von diesem netten, schattigen Plätzchen, solange nicht die verdammte Sonne untergegangen ist. Ich habe, weiß Gott, heute schon genug geschwitzt und muß mich etwas ausruhen. Wenn es kühler geworden ist, werde ich hübsch gemütlich zum Hotel hinunterschlendern. Der Weg ist ja nicht zu verfehlen, und ein bißchen Bewegung wird mir auch gut tun, da ich von der Autofahrerei und dem Nachmittagsschläfchen etwas steif geworden bin.«

Er schlenkerte verabschiedend mit der gewaltigen Hand, aber Hearson erhob mit großer Entschiedenheit Einspruch. »Das ist ausgeschlossen. Wir können Sie doch nicht allein lassen.«

»Doch, das können Sie«, beruhigte ihn Murphy. »Mir tut sicher niemand etwas, und außerdem habe ich ja Hannibal bei mir. Sie kennen den Köter noch nicht. Wenn mir jemand zu nahe kommt, hängt er ihm sofort am Hosenboden.« Er drehte sich auf die Seite und traf alle Anstalten, es sich noch bequemer zu machen. »Also, wie gesagt, lassen Sie sich nicht aufhalten.«

Mr. Hearson mußte mit dem Sheriff und dem Inspektor wohl oder übel abziehen, aber erst in einiger Entfernung begannen sie ihre Meinungen über den seltsamen Mr. Murphy auszutauschen, die schließlich der schneidige Elliot in das ungeschminkte Urteil zusammenfaßte: »Senil und vollständig vertrottelt. Viel anders habe ich mir Scotland Yard auch nie vorgestellt.«

Murphy lag wenigstens eine Viertelstunde regungslos auf dem Bauch, hielt den Kopf in die Hände gestützt und blinzelte nach dem schmalen Pfad hinüber, der ungefähr zehn Schritte vor ihm längs der Steinwand hinlief. Er hatte diesen ausgetretenen Fußsteig bereits vor einigen Nächten und dann neuerlich in den Mittagsstunden Zoll für Zoll abgesucht und war nun zurückgeblieben, um dies nochmals zu tun. Er liebte in solchen Fällen die Gründlichkeit und mochte es nicht, daß man ihm dabei auf die Finger sah.

Er ließ noch eine Weile seine Ohren spielen, dann war er plötzlich mit einem elastischen Satz auf den Beinen und faßte den unternehmungslustig vorwärts stürmenden Hannibal kurz.

»Such!« befahl er halblaut, und der Köter streckte die geknickte Rute und hatte auch schon die Nase auf dem Boden. Der Oberinspektor schlug einen Bogen bis zu der Stelle, wo der Pfad von der Landstraße abzweigte, und nahm dann Schritt für Schritt den Weg zurück. Seine scharfen Augen gingen ununterbrochen nach vorne, nach links und rechts, und als er das rissige Steinmassiv zur Rechten hatte, ließ er nicht den kleinsten Zweig, der aus den Spalten hervorwucherte, unbeachtet. An der Stelle, wo man heute morgen das letzte Opfer gefunden hatte, war noch ein dunkler Fleck zu sehen, und Hannibal sog mit gefletschten Zähnen und gesträubtem Haar den Wind ein.

Als Murphy den jenseitigen Rand des Gehölzes erreichte, lag kaum einen Büchsenschuß weit vor ihm die verwitterte Parkmauer von Spittering Farm, und von rechts her leuchteten im Rot der untergehenden Sonne die schmucken Landhäuser von Chesterhills.

Der Oberinspektor nahm das Bild nachdenklich eine Weile in sich auf, dann löste er Hannibal von der Leine und trat auf dem Pfad, auf dem er gekommen war, den Rückweg an.

Hannibal kam nicht oft in die Lage, sich in der freien Natur austoben zu können, und nützte daher die Gelegenheit gründlich aus. Er stob, langgestreckt wie ein flüchtiger Hase, mit seinen krummen Läufen bald nach vorne, bald irgendwohin zur Seite, und nur die verschiedenen einladenden Sträucher und Steinblöcke konnten ihm immer wieder einen kurzen Aufenthalt abringen. Als Murphy sich der Stelle näherte, wo die Felswand in einem spitzen Winkel vorsprang, war der unternehmende Hannibal wieder einmal voraus, und sein Herr kümmerte sich nicht weiter um ihn. Plötzlich aber vernahm er wenige Schritte vor sich ein grimmiges Knurren, und als er um die Ecke bog, stand der Hund mit krampfhaft eingestemmten Beinen an der Steinmauer und zerrte an einem Gegenstand, den er nicht losbekommen konnte.

Mit einem Sprung war Murphy an seiner Seite und riß ihm das Ding aus den Zähnen. Es war ein etwa handgroßer Stoffetzen, der ungefähr in Kniehöhe aus dem Gestein hing und trotz aller Bemühungen nicht herauszubekommen war. Er saß so tief und so fest wie ein Zipfel, der in eine Waggontür eingeklemmt ist – und kaum war dem Oberinspektor dieser Gedanke gekommen, als er sich blitzschnell aufrichtete und einige Schritte zurücktrat, um sich die Sache genauer zu besehen.

Hannibal wollte wieder auf seine Beute losfahren, aber der gewisse leise Pfiff durch die Zähne riß ihn nieder.

Der Spalt, der das Tuch festhielt, unterschied sich in nichts von den übrigen Sprüngen, die kreuz und quer durch die Felswand liefen, aber als ihn Murphy mit den Augen verfolgte, ergab sich, daß er die Form einer unregelmäßigen Tafel von ungefähr zwei Fuß Breite und fünf Fuß Höhe hatte. Die Ränder schlossen so dicht, daß der neugierige Mann von Scotland Yard bloß an wenigen Stellen die Klinge seines kräftigen Taschenmessers durchzubringen vermochte, aber dann verschwand sie stets bis ans Heft. Nur in seinem oberen Verlauf klaffte der Riß etwas weiter, und die Klinge ließ sich ohne sonderlichen Widerstand vorwärts schieben.

Aber plötzlich gab es ein scharfes Knistern, und Murphy ließ mit einem Ruck das Messer fahren.

Sekundenlang sah er mit zusammengekniffenen Augen, die dicke Unterlippe zwischen den Zähnen, nach dem Messergriff in dem Stein, dann nahm er einen Ast und schlug das Messer vorsichtig aus dem Spalt. Hierauf schnitt er das heraushängende Ende des Stoffetzens ab, untersuchte es genau und steckte es dann sorgsam in seine Brieftasche.

Die Dämmerung war bereits hereingebrochen und unter den Bäumen lagen schon die ersten Schatten der Nacht. Aber der Oberinspektor saß noch immer regungslos auf dem Hang gegenüber der Steinwand und grübelte über das Rätsel nach, das ihm der Fußpfad dort drüben aufgegeben hatte. Er ahnte schon längst, daß es hierbei um eine weit verwickeltere und wahrscheinlich auch bedeutsamere Sache ging, als um die beiden geheimnisvollen Verbrechen der letzten Tage, und er suchte einen Faden zu finden, der ihn von hier zu dem Kernpunkt des Problems führen könnte. Bis jetzt hatte er nur wenige Bruchstücke des Mosaikbildes, das er zusammenzufügen hatte, aufzustöbern vermocht, und dazwischen klafften derartige Lücken, daß es ein vergebliches Beginnen schien, den Zusammenhängen mit uferlosen Kombinationen nachgehen zu wollen. Er verfügte vorläufig lediglich über ein Papierschnitzel mit den nichtssagenden Worten: » . . . der kleinen Lady mit der Pantherkatze . . .«, einen Brieftaubenring mit seinem Namen, eine außergewöhnliche Tierfährte und über das Stückchen Stoff, das ihm eben in die Hände gefallen war. Und dabei hatte er den Landstreicher Kitson, den besorgten Mr. Hearson, ferner den gewissen Aubrey Rayne mit der zusammengewürfelten exotischen Gesellschaft von Spittering Farm kennengelernt, und schließlich war ihm Bill Short in den Weg gelaufen.

Das wichtigste von allem war aber wohl die Felswand, die er vor sich hatte. Er wußte nun, wie die Überfälle geschehen waren und welchen Weg der Täter genommen hatte. Und wenn er der Spur kurz entschlossen nachging, konnte er wahrscheinlich um einen Schritt vorwärts kommen. Aber es schien ihm weit zweckdienlicher, damit zu warten. Wenn er sofort zu Werke ging, würde er sicherlich den Bau leer finden; übereilte er aber die Sache nicht, so konnte er vielleicht eines Tages hier das geheimnisvolle Wild stellen, das er suchte.

Es ging bereits gegen neun Uhr, als Murphy ins Hotel zurückkehrte. Er erwiderte die untertänige Begrüßung des schielenden Portiers mit einem matten, kummervollen Kopfnicken und keuchte schwer und steifbeinig die Treppe hinauf, während Hannibal mit eingezogenem Schweif mißmutig hinter ihm dreinkroch.

Erst in seinem Zimmer kam der Oberinspektor wieder einigermaßen zu sich. Er schloß sorgfältig die Tür, klappte die Jalousien zu und nahm dann Hannibal das Halsband ab. Nur er und Spang durften sich dies erlauben, ohne die Zähne des unliebenswürdigen Köters zu fühlen zu bekommen, und Hannibals Sorge um seinen Schmuck war berechtigt, denn es gab wohl kaum einen zweiten dieser Art. Er bestand aus zwei aufeinandergelegten elastischen Stahlbändern mit einem Sicherheitsverschluß, und das äußere Band war dicht mit Metallperlen besetzt, die sich in schmalen, waagrecht und senkrecht verlaufenden Rinnen verschieben ließen.

Murphy säuberte die Metallreifen mit einer kleinen harten Bürste und schob dann lange Zeit an den winzigen Knöpfen herum. Er wünschte zwar nicht, daß Spang in die Lage käme, sich über diese Chiffrebotschaft je den Kopf zerbrechen zu müssen, aber die Möglichkeit war immerhin vorhanden. Nach allem hatte er es mit einem äußerst verschlagenen und gefährlichen Gegner zu tun, und man konnte nicht wissen, was geschah.


 << zurück weiter >>