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Einundzwanzigstes Kapitel.

Es durchbricht den Damm und vernichtet.

Heute sind der Jesuitenpater und Frank begraben worden. Rolla ist ruhig und gefaßt. Sie läßt Veronika keinen Augenblick von sich; mich will sie noch immer nicht sehen.

Das Feuer ist gelöscht, doch ist das Schloß fast völlig niedergebrannt. Ich schreibe dies im Pfarrhof. Einige Zimmer von mir befinden sich die beiden Frauen. Was ich hier von den geschehenen Ereignissen mitteile, erfuhr ich zum Teil aus dem Munde des an der Spitze der Seinen davongezogenen Pfarrers, zum Teil von Rolla selbst, als ich sie nach meiner Rückkehr Zum ersten- und zum letztenmal an Franks Leiche sah. Da ich nicht weiß, was der morgige Tag bringen kann und ich mit dem Vergangenen abschließen will, so sei das Geschehene als Fortsetzung, vielleicht als Schluß von Rollas Aufzeichnungen erzählt.

Eben sagt mir jemand, daß Rolla und Veronika in die durch das Feuer und den Kampf halb zerstörte Kirche gegangen seien, wohin sich die zurückgebliebenen Frauen mit ihren Kindern und ihren geretteten Habseligkeiten geflüchtet haben. Das halbe Dorf liegt in Trümmern, die Fluten sinken mit jeder Minute.

 

Als Rolla Veronika durch Franks Namen von dem Pater zurückgerufen hatte, verbrachten die beiden Frauen den Rest der Nacht zusammen, eine in den Armen der anderen, sich einander ihre Geschichte zuflüsternd. Bei Tagesanbruch kehrte Veronika zu ihrem Bruder zurück, Rolla nach Hause, wo sie schrieb, sich dann angekleidet aufs Bett warf, aber bereits nach einer Stunde wieder auf war.

Das Wetter hatte sich nicht geändert; immer noch wälzte sich Gewölk über das Tal. Die Alpen ragten völlig unverhüllt wie Felseninseln aus den Nebelwellen hervor, ein grauer Himmel spannte sich darüber.

Der Wind heulte fort und fort und riß unaufhörlich Lawinen herab. Die Leute kamen von den Dammarbeiten zurück und berichteten, daß man nichts weiter tun könne; es sei kein Material mehr vorhanden und das Wasser werde binnen kurzem die Höhe der Wälle erreichen. Man erzählte von fürchterlichen Verheerungen in den oberen Gegenden.

Rolla begab sich nach diesen Nachrichten ins Dorf zum Flusse, wo sie alles so fand, wie die Leute gesagt hatten. Trotzdem war der Pfarrer noch an Ort und Stelle und ließ von den Ausgeruhten das Menschenmögliche leisten.

Veronika befand sich im Pfarrhofe.

Der Pfarrer fürchtete, daß der Pater ihre Lage benutzen und etwas gegen sie ausführen werde. Um sich gegen einen Überfall zu schützen, hatte er auf dem Weg zur Wasserfallalm Wächter aufgestellt. Sie besprachen sodann die Möglichkeit meiner Rückkehr zu der von mir bestimmten Zeit und daß es notwendig sei, die südlichen Schluchten zu besetzen, da der Pfarrer aus dem Süden Kunde erhalten, wie dort bereits die meisten Täler den Welschen zugefallen. Er hoffte auf eine starke Schar Vaterlandsverteidiger vom Norden her; wahrscheinlich seien die Männer überall durch die Wassersnot aufgehalten.

Rolla blieb eine Weile bei dem Freunde, verließ ihn und begab sich ins Dorf, wo die Weiber heulend ihre Häuser ausräumten. In der Kirche sah sie viele Beterinnen. Aber anstatt nach dem Pfarrhof oder dem Schloß zu gehen, schlug sie die entgegengesetzte Richtung ein. Der Pfarrer hatte geäußert, daß er keine Kenntnis habe: ob auch im oberen Tale der Fluß bereits übergetreten sei. Da er keinen Boten abzusenden hatte, wollte Rolla dieses Amt übernehmen.

Sie wandert die Straße dahin, den Blick starr vor sich hin gerichtet, jeden Augenblick glaubend, daß die gelbe Schlammflut sich über den Weg wälzen werde. Da sah sie jemand auf sich zukommen, der ihr gewiß über alles genau Bescheid erteilen konnte. Um schneller benachrichtigt zu sein, ging sie ihm entgegen.

Zuerst schritt sie langsam, dann eilte sie. Plötzlich stand sie mitten im Wege still. Die Augen weit geöffnet, ließ sie die Erscheinung sich nähern. Sie hatte ihn diese Nacht gerufen und nun kam er. Ihr seit ihrem Wahnsinn fast visionärer Geist erkannte den seinen.

In seliger Ungeduld erwartete sie, daß die Gestalt an ihre Seite treten und sie in der gespenstischen Gegenwart hinsinken würde.

Auf einmal hörte sie von seiner Stimme ihren Namen rufen, da verlor sie das Bewußtsein. Ihr letzter Gedanke war: »Das ist der Tod, das ist die Vereinigung.«

Als sie wieder zur Besinnung kam, lag sie auf blühendem Heidekraut, der Lebendige neben ihr kniend. Es dauerte lange, bis sie es begreifen konnte.

Frank war wirklich dort gewesen, wo wir ihn vermutet; meine Briefe hatten ihn sämtlich erreicht. Aus dem letzten erfuhr er Rollas Heilung, trotzdem hielt er sie für sich verloren. Damit sie sich völlig frei glauben sollte, ließ er uns sogar die Nachricht von seinem Tode zugehen, eine Nachricht, die uns nie erreichte. Dann vernahm er nichts mehr von uns. Leidenschaftliche Sehnsucht trieb ihn wieder nach Europa zurück. Er ging nach Frankreich, stürzte sich in die Revolution, wurde verwundet. Kaum genesen, begab er sich durch die Schweiz nach Tirol, wo er in dem Tale leben wollte, darin er für sich und Rolla so stolze Luftschlösser gebaut. Hier war ihm die Geliebte entgegengetreten.

Rollas Zustand grenzte an Verzückung. Zum erstenmal in ihrem Leben war sie menschlich schwach; sie sagte ihm nicht, was sie ihm geworden sei. Auch Frank wagte nicht, nach mir zu fragen. Die armen Menschen!

Sie stehen auf, fassen sich bei der Hand, gehen auf der Landstraße zurück und auf dieser dem Dorfe zu. Bei einer Wendung des Weges sieht Frank das Schloß. Er glaubt zu träumen. Rolla bricht in ein fröhliches Lachen aus und führt den Sprachlosen weiter. Sie passieren das Dorf, sie kommen dem Schloß näher und näher. Frank fragt nicht, Rolla sagt nichts. Frank sieht alles fertig dastehen, wie es von ihm gedacht worden. Es ist wie ein Wunder! Sie steigen die Anhöhe hinan, treten durch das hohe, gotische Portal unter die Tannen des Schloßhofes, in die Halle. Sie gehen die Treppen hinauf. – Frank erkennt alles. Lange sitzen sie in Rollas Zimmer, wo sie ihm jeden Gegenstand zeigt. Dann führt sie ihn ans Fenster und deutet auf die Landstraße hinab.

»Diesen Weg bist du gekommen. Ich habe darauf gewartet – wie viele Jahre wohl?«

Auch zum Spiegel tritt sie mit ihm, legt ihre Wange an seine und steht lange in das Anschauen der beiden Gesichter versunken.

»Was ist aus uns geworden?« sagte sie leise. Darauf küßte sie ihn.

Wortlos holt sie sodann einen Schlüssel, bedeutet den Geliebten, ihr zu folgen, schließt eine Tür auf, die sie noch niemals geöffnet und tritt mit Frank in das Gemach ihrer Erinnerungen ein. Sie öffnet das Fenster und läßt das trübe Tageslicht hineinscheinen, auf die verwelkten Lorbeerkränze, auf das todbleiche Haupt der Niobe.

Sie sieht sich alles mit ihm an, dann heißt sie ihn sich niedersetzen, bleibt vor ihm stehen und sagt ihm: »Dies alles hat dein Freund für dich und mich getan. Seit einem Monat bin ich sein Weib. Mit dem Kuß, den ich dir vorhin gab, habe ich die Ehe gebrochen.«

Darauf setzte sie sich ihm gegenüber, wendet kein Auge von ihm, antwortet ihm auf nichts, bleibt selbst bei seiner Verzweiflung einer Statue gleich.

Nur einmal sagt sie: »Ich bin wahnsinnig gewesen und kann es wieder werden. Daran denke.«

Er wirft sich vor ihr nieder, preßt seinen Kopf in ihren Schoß und umfaßt sie. Sie legt ihre Hand auf sein Haupt und streichelt sein Haar. Wieder vergehen Stunden; da schrecken beide auf. Im Dorf wird die Sturmglocke geläutet. Sie hören Schüsse.

»Der Fluß hat den Damm durchbrochen, der Jesuitenpater den Pfarrer überfallen.«

»Wir müssen hin,« sagte Rolla.

Sie gehen und lassen alles offen. Die Kammerfrau kommt ihnen nachgestürzt: die Beamten seien mit den Leuten in das Dorf dem Pfarrer zur Hilfe gezogen, die Mägde sämtlich ins Gebirge gelaufen. Rolla befiehlt der Jammernden, den Geflohenen zu folgen.

Als sich die beiden auf der Landstraße befinden, glaubt Frank zu erkennen, wie vom Gebirge her sich ein Trupp dem Schlosse nähert. Er sucht Rolla zu bewegen, mit ihm zurückzukehren, sie jedoch will nicht.

»Aber das Haus – –«

»Laß sie damit tun, was sie wollen. Was geht das dich und mich an?«

Sie gehen weiter, sich mühsam durch den Sturm kämpfend, sie hören im Dorf den Kampf toben und sehen den Fluß übergetreten. Eine wilde Aufregung bemächtigt sich beider.

Bald wird die Flut sie erreicht haben.

»Wir wollen sterben!« ruft Rolla.

»Du mußt leben bleiben,« erwidert ihr Frank. »Denke an deinen Gatten.«

»Er kann nicht mehr mein Gatte sein; er ist es nicht mehr. Mit uns dreien ist es vorbei.«

Sie sind im Dorfe angelangt und müssen lange suchen, bis sie einen Weg finden, wo sie nicht von den Fluten zurückgedrängt werden. Lautlos, ein schweigend mordendes Ungeheuer, steigt das Wasser an den Häusern hinauf. Wo es einbricht, gerät es in wilde Strudel. Es schluchzt und ächzt, wie ein ertrinkender Mensch.

Der Kampf hat sich ganz nach der höher gelegenen Kirche zu und auf den Platz vor den Pfarrhof hingezogen. Durch das Geknatter der Büchsen ist Geschrei und Weibergeheul hörbar. Ein Haus brennt – es brennt das Dorf. Der grelle Schein flackert über die Gruppen der Kämpfenden und die anschwellenden Wasser. Diese haben bereits den Platz erreicht und werden denselben sogleich überfluten. Vor der entfesselten Wut des Elementes muß die der Menschen flüchten. Der Kampf zieht sich in die Kirche hinein, die jetzt auch zu brennen beginnt. Durch beide Türen drangen die Parteien in das Heiligtum; an der Spitze der einen der Pfarrer, an der anderen der Pater. Frank und Rolla suchen gleichfalls hineinzukommen und zu dem Pfarrer zu stoßen. Erstickender Qualm und Dampf schlägt ihnen entgegen. Weiber drängen heraus, die sich vor dem Kampf und dem Feuer retten; aber sie hören die mächtige Stimme des Pfarrers und Frank schafft für sich und Rolla Bahn.

Sie dringen durch.

Wo sich der Altar befindet, steht alles in Flammen, Aus den lodernden Gluten steigt noch immer Augustins Kreuz auf.

Um den Altar tobt der Kampf. Der Pfarrer mit den Seinen sind die Weichenden. Mit verbranntem Gewand und blutigem Antlitz hetzt der Pater die Zaudernden auf den Priester. Dieser erwartet sie. Seine Leute fliehen. – Der Pfarrer steht ganz allein.

Da keiner der Männer das Herz hat, den Priester in seinem Heiligtum niederzuschlagen, so dringt der Pater allein auf ihn ein. Er wirft sich auf ihn. Frank erkennt die Todesgefahr, aber es ist nicht möglich, durch die Scharen des Paters zu dem Verlorenen zu dringen.

Da sieht er dicht beim Altar ein Weib auftauchen, wie aus den Flammen empor. Es ergreift das brennende Kreuz, reißt dasselbe vom Altar herab, schwingt es. – – Ein schrecklicher Schrei, darauf alles in Flammen und Qualm, darauf allgemeine wilde Flucht.

Aber sie leben!

Frank hat Rolla aus der Kirche getragen, der Pfarrer seine Schwester. Kaum hat Veronika den Boden berührt, als sie sich von ihrem Bruder losreißt und davonstürzt. Rolla sieht es und ruft Frank zu: »Es ist Veronika. Sie will sterben. Rette sie.«

Darauf ein wilder Lauf dem Strome zu. Der Feuerschein beleuchtet den Weg.

Der Pfarrer sieht Frank und Rolla seiner Schwester nacheilen und kann ihnen nicht folgen, denn er muß den Kampf entscheiden.

Rolla steht auf einem Damm, dem einzigen, der dem Wogenandrang noch Widerstand leistet. Sie starrt auf die Stelle hin, wo sie Frank dem Mädchen sich nachstürzen gesehen. Dort ist alles gelbe, wirbelnde Flut. Sie weiß, er wird sie retten, aber dabei untergehen.

Sie wartet darauf.

Endlich glaubt sie etwas weiter unten, wo die Brücke zusammengebrochen ist, einen Körper auftauchen zu sehen. Er wird von zwei Armen gewaltig über die Fluten emporgehalten.

Rolla schreit auf: »Hierher!«

Zwischen Mensch und Element entspinnt sich ein grausiger Kampf; aber der Mensch ist der Stärkere. Frank entreißt Veronika den Fluten, dringt vorwärts und vorwärts, bis zu der Stelle, von wo aus er sich immerfort rufen hört.

Mit beiden Armen faßt Rolla Veronikas Leib und zieht sie zu sich empor. Noch einmal sieht sie über dem Wasser das geliebte, schöne Haupt, vom Schein der Flammen beleuchtet. Dann sinkt es unter.

Der Pfarrer kommt. Rolla übergibt ihm seine Schwester und sagt ihm, wer sie gerettet. Der Pfarrer stürzt fort und kehrt mit Männern zurück. Es gelingt ihnen, ein Boot aufzutreiben. Der Pfarrer und zwei Männer schiffen sich ein. Sie entzünden Kienspäne und wollen abstoßen. Im letzten Augenblick besteigt auch Rolla den Nachen. Unterdessen bringt man Veronika ins Dorf zurück, daraus die Partei des Paters entflohen.

Mit größter Lebensgefahr suchen sie nach Franks Leichnam. Rolla sitzt die ganze Zeit über im Vorderteil, tief über Bord geneigt. Sie leuchtet den Männern. Plötzlich sehen sie vor sich eine hohe Flammensäule auflodern: das Schloß brennt.

»Laßt es brennen,« sagt Rolla und sieht nicht auf.

Erst am Morgen finden sie ihn. Er war auf die Wiese gespült worden und lag friedlich auf einem blumigen Fleck, von dem sich das Wasser bereits wieder verlaufen hatte. Die Männer trugen ihn in den Pfarrhof, wo Veronika unterdessen wieder zum Leben gekommen war. Sie wollte wissen, wer sie gerettet habe – da führte Rolla sie zu dem Toten. Sie erkannte ihn sofort.

Am Nachmittag kam ich mit den Waffen zurück. Ich hatte bereits von dem Brand des Schlosses gehört und mein Pferd fast zu Tode gehetzt. Die Leute waren mit Löschen beschäftigt; von ihnen erfuhr ich, wo Rolla sei.

Sie hatte mich erwartet und trat mir im Hausflur entgegen.

»Er lebte,« sagte sie kalt und gelassen, »aber jetzt ist er tot. Er starb als Held. Komm mit mir zu ihm.«

Sie schritt voran, stumm den Pfarrer hinwegwinkend, der sich an meine Brust werfen wollte.

Sie hatten ihn in dem Zimmer des Pfarrers niedergelegt und ganz mit Veilchen und Narzissen überschüttet. Veronika saß zu seinen Füßen und wandte kein Auge von seinem Gesicht. Das war ganz unentstellt, so feierlich schön, so großartig friedlich, von einer solchen erhabenen Ruhe, wie ich es niemals zuvor gesehen.

»Das ist seine Sühne für Anna,« sagte Rolla laut und feierlich.

Ich trat dicht zu ihm und beugte mich tief auf ihn herab. Als ich wieder aufblickte, war ich mit Rolla allein bei ihm.

Sie gebot mir, mich auf Veronikas Platz zu setzen, wandte sich von mir ab dem Toten zu und erzählte mir alles. Sie schloß: »Ich kann dein Weib nicht länger sein. Er hat mir befohlen, leben zu bleiben und ich gehorche ihm. Verlaß mich jetzt und suche es zu tragen.«

Dann sah ich sie noch einmal beim Begräbnis wieder. Sie schritt mit Veronika Hand in Hand dicht hinter der Leiche; mich schaute sie nicht an.

Da der Kirchhof noch unter Wasser stand, begrub man ihn auf dem Hügel über dem Pfarrhof. Man überblickt von dort aus das ganze Tal, die ganzen Alpen, Pfarrer Andreas sagte mir, daß es sein Lieblingsplatz gewesen sei.

Die Rede, die unser Freund an dem offenen Grabe hielt, war des Toten und des Lebenden würdig. Rolla blieb tränenlos.

 

Eben schreibt mir Rolla, daß Veronika sie begleiten wird. Sie nimmt für immer Abschied von mir.

In einer Stunde reise ich ab, Pfarrer Andreas nach, den ich bei der Hauptarmee zu treffen hoffe. Ich werde mein unseliges Weib wiedersehen.


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