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Sechzehntes Kapitel.

Umfaßt von meinen Armen

Die Folgen dieses Besuches zeigten sich bereits bei unserer nächsten Probe der Kerkerszene. Jene gewissen Töne, die ich gar nicht zu finden vermocht hatte, waren plötzlich da. Fernow hatte recht gehabt: manche Züge übertrug ich direkt aus dem Irrenhaus in mein Spiel, So erwies sich zum Beispiel jene unheimliche Beweglichkeit der Hände, namentlich ihr ruheloses Hin- und Herfahren über die Stirn als von größester Wirkung.

Bevor ich indessen fortfahre, muß ich an dieser Stelle von einer andern Episode berichten, welche, wie manche Zwischenspiele in Dramen, so auch für das Trauerspiel meines Lebens sehr folgewichtig sein sollte.

Oft war zwischen Fernow und mir von meiner großen Tragödin die Rede. Ich hatte ihm erzählt, wie sich durch diese Gestalt die Frage meines künstlerischen Seins oder Nichtseins entschieden. Denn wäre sie nicht vor mich getreten, ein herrlicher Ausdruck alles dessen, was formlos, gleich einem Nebelbild in mir lag, so hätte ich damals vielleicht doch in der dumpfen Schreibstube eines Seminars gesessen, vor mir die Zukunft eines ewigen Gouvernantentums. Dank mir selbst war es anders geworden. Frei konnte ich meine Schwingen regen und mich von der Erde emporheben lassen, auch einer Sonne zu.

Ich hatte Fernow bekannt, wie sie in der Theaterakademie an meiner Heiligen gerissen; worüber dieser gleichmütig die Achseln gezuckt: »Du weißt, es ist gemein.« Meine Begeisterung für die Künstlerin teilte er.

»In gewissen Rollen, besonders in der Darstellung vornehmer, kühler Frauennaturen erscheint sie mir unübertrefflich. Ihre Antigone, ihre Iphigenie und die Prinzessin im Tasso sind wohl die edelsten, die höchsten Verkörperungen, die von diesen verklärten Gestalten überhaupt gegeben werden können. Aber wie gesagt: kühl bis ans Herz hinan! Mit Leidenschaften wußte sie nichts anzufangen; ihre Orsina zum Beispiel war völlig verfehlt. So gibt sie denn das überzeugendste Beispiel meiner Theorie: man kann nur das mit mächtiger Wirkung darstellen, was man selbst mächtig empfindet.«

»Sie wollen doch nicht behaupten, daß sie überhaupt nicht fähig sei, leidenschaftlich zu fühlen?«

»Das weiß ich nicht; jedenfalls gestattet sie es sich nicht und jedenfalls vermochte sie nie, Leidenschaften zu überzeugendem Ausdruck zu bringen.«

»Ist sie verheiratet?«

»Nein.«

»Und jene schändlichen Verleumdungen?«

»Beweisen wieder einmal, daß auf dieser Welt alles möglich ist. Wie sagt die alte Sibylle im Faust: »Aus eins mach' zehn.« – – Sie müssen nämlich wissen, daß diese Frau berüchtigt tugendhaft ist.«

»Sie scheinen ihr daraus einen Vorwurf zu machen.«

»Ich will Ihnen meine Anschauung nicht vorenthalten. Die edelste aller Gestalten ist eine Frau, die aus Tugend tugendhaft ist. So oft ich einer solchen reinsten und höchsten Weiblichkeit begegne, feiere ich das wie ein Fest. Es gibt aber wiederum Fälle im Leben, wo ich die absolute Tugend einer Frau für ihr Unglück halte.«

»Und diese große Künstlerin?« – –

»Ist eine sehr unglückliche Frau.«

»Sie mit ihrem Genius unglücklich!« rief ich aus, ganz Fernows Theorie vergessend. »Unglücklich durch ihre Tugend?! Gehen Sie: das ist ja paradox!«

»Sie begreifen das nicht?« meinte Fernow mit einem schwermütigen Lächeln. »Mag es Ihnen immerhin noch eine Weile unbegreiflich bleiben. Heute sage ich Ihnen nur das: hätte Ihre Göttin sich gestattet, mehr Weib zu sein, so wäre sie eine größere Künstlerin geworden als sie es war.«

Ein anderes Mal teilte er mir folgendes über sie mit.

»Ihr Abtreten von der Bühne war eine Notwendigkeit. Zuerst erkrankte ihr Gemüt, dann ihre Brust. Ich sah sie, wie sie kaum imstande war, ihre Rolle zu Ende zu spielen. Dem Publikum, das die Künstlerin ungemein hoch hielt, war es eine wahre Qual, diesen Kampf zwischen psychischer Stärke und physischer Schwäche als Zuschauer beiwohnen zu müssen. Zuletzt war das Haus leer, wenn sie auftrat. Das machte ihr Übel zu einem tödlichen. Sie wohnten ja wohl ihrer Abschiedsvorstellung bei; es war ein schrecklicher Abend! Das Publikum jauchzte ihr zu, glückselig, daß es die verehrte Künstlerin in einem Zustand von scheinbarer Kraft sah. Ich befand mich an jenem Abend hinter den Kulissen, wissend, daß es die letzte Lebensäußerung einer Sterbenden sei. Ihre Iphigenie war ihr Schwanengesang. In derselben Nacht bekam sie einen Blutsturz. Ihr Arzt schickte sie nach Nizza; ich, den sie auch konsultierte, erklärte mich entschieden dagegen. Es war ja nichts als Verlängerung der Qual. Doch hoffte sie wohl noch immer und so reiste sie denn hin. Sie wissen vielleicht nicht, daß sie wieder hier ist.«

»Sie kennen sie, Sie kommen zu ihr, Sie wissen, wie es ihr geht und Sie sagten mir nichts?!«

»Gewiß nicht. Sie mußten beruhigt werden, statt aufgeregt.«

»Aber jetzt bin ich mit Gretchen fertig. Sie wollen ja, daß ich leide; gönnen Sie mir daher diesen Schmerz!«

»Ich kann Ihnen auch nichts anderes sagen als daß sie stirbt.«

»Sie ist doch bei ihrer Familie?«

»Sie hat keine Familie. – – Aber jetzt fragen Sie mich nichts mehr; denn ich beantworte Ihnen nichts mehr.«

»So mögen Sie denn wissen,« rief ich außer mir, »daß ich glücklich sein würde, wenn ich nur ein einziges Mal sie fühlen lassen könnte, wie ein Mensch um sie leidet.«

Fernow erwiderte nichts und ging.

Einige Zeit nach diesem Gespräch sagte er eines Tages zu mir: »Da Sie fast in jedem Stück zu sterben haben, ist es nicht mehr als billig, daß Sie sich auch einmal ein Sterben ansehen. Heute abend werde ich kommen und Sie mit in das Spital nehmen.«

»Zu einer Sterbenden?«

»Ja. Fürchten Sie nichts. Es wird nicht grausig sein, sondern feierlich.«

»Wer ist es? Ein Mädchen oder eine Frau?«

»Eine Frau. Ich möchte Ihnen jedoch das Nähere erst später sagen.«

Nachdem er gegangen, bereitete ich mich auf das Ereignis vor... Ich sollte zum erstenmal der Majestät des Todes gegenübertreten, den erhabenen Augenblick erleben, wo eine Menschenseele in jenen Schlummer hinabtaucht, von dem wir nicht wissen, ob er einen Traum hat. Wohl würde es feierlich sein!

Es war Nacht, als wir unseren Gang antraten. Keiner von uns sprach. Fernow war so ernst, als gingen wir zu dem Sterbebett seiner Schwester.

Im Spital angekommen, führte uns unser Weg durch die Säle. Trüber Lichtschimmer erhellte sie notdürftig.

Die langen, weißen Bettreihen bestrahlte es matt: mir kam vor, als sei jedes einzelne ein Sterbelager. Lautlos wandelten die schwarzen Gestalten der Nonnen durch die Gänge. Ich hörte Ächzen und Wimmern, ich sah beim Vorüberschreiten todblasse Gesichter und wieder war es des Lebens ganzer Jammer, der mich packte.

Die Sterbende, zu der wir wollten, hatte ein Zimmer für sich. Leise traten wir ein, Fernow zuerst. Auch hier brannte nur ein schwermütiges Nachtlicht.

Bei unserem Eintritt erhob sich die Schwester, die am Bett gesessen, kam auf uns zu und flüsterte Fernow Bescheid zu.

»Ihr Puls ist kaum noch zu fühlen. Aber sie ist völlig ohne Schmerzen und bei vollem Bewußtsein. Sie erwartet Sie sehnlichst.«

»Hat sie einen Wunsch geäußert?«

»Ja. Sie möchte erst am Morgen sterben; es soll alles Licht um sie her sein. In dem Fall, daß es früher geschieht, möchte sie es hell im Zimmer haben. Ich konnte es nicht eher besorgen, als bis Sie kamen.«

»So besorgen Sie es, wir werden schwerlich bis zum Morgen warten können.«

Trotzdem ich, die ich ganz nahe stand, das Flüstern der beiden kaum verstanden hatte, war es von der Kranken gehört worden. Sie rief Fernow.

Wir traten an das Bett, wo ich mich auf dem Platz der Nonne niederließ, während sich Fernow zu ihr herabbeugte.

»Wie fühlen Sie sich?«

Sie hatte die Augen geschlossen. Ihr Gesicht war fahl und jetzt schon wie entgeistert. Ich konnte nicht einmal erkennen, ob die Sterbende jung oder alt sei.

Sie zwang die bereits schwer gewordenen Augenlider in die Höhe; ich sah ihren erlöschenden Blick.

»Wie ich mich fühle? Selig-schmerzlos – wie niemals. Werde ich noch die Sonne aufgehen sehen?«

»Nein.«

»Wahr, bis zuletzt.«

»Ich erwartete Sie; denn ich möchte Ihnen noch manches sagen.«

Ich machte eine Bewegung, um aufzustehen; aber Fernow drückte mich sanft nieder.

»Mein ganzes Leben lang war ich eine Wartende und Harrende: ich wollte glücklich sein. Nun werde ich's. Kein Auferstehen, keine Seligkeit. Das ist ja eben das Schöne dabei.«

Erschöpft schwieg sie; die Augen fielen ihr wieder zu. Fernow wollte ihr zu trinken reichen; ich nahm ihm das Glas aus der Hand. Er verstand mein Gefühl und ließ mich gewähren. Darauf setzte ich mich wieder.

Lange Zeit verharrten wir so. Die Schwester kam herein, wurde aber wieder hinausgeschickt. Wieder warteten wir; eine Stunde und noch länger.

Dann schlug sie von neuem die Augen auf.

»Ich fühle die Erlösung. Laßt es hell um mich werden.«

Fernow rief die Schwester. Diese brachte viele Kerzen, die wir anzündeten. Es war ganz festlich.

Ich sah am Kopfende des Bettes, versuchte zu beten, vermochte aber nur meine Hände zu falten. Dabei konnte ich kein Auge von ihr abwenden. Der Tod verklärte ihre Züge, machte sie unirdisch schön. – – Wo hatte ich dieses wundersame Antlitz schon einmal gesehen?!

»Ich sterbe – – Doktor, ich will Ihnen etwas verraten: ich sterbe, ohne jemals recht gelebt zu haben. Ich habe immer gedarbt, immer geschmachtet. Und da mir der unermeßliche Krösusschatz in den Schoß strömte; da ich, Tantalide, den vollen Pokal an die Lippen setzen konnte, wies ich beides zurück. Ich stieß die Liebe fort und drückte die Kunst an mein Herz! Ich riß mir die Rosen ab und setzte mir Dornen auf! Wie kalt lag es auf meiner Brust, wie schwer auf meinem Haupt: Jetzt weiß ich's: ich hatte zu einem liebenden Weibe mehr Talent als zur Künstlerin. – – Ich habe viele Trauerspiele gespielt. Wie oft mußte ich sterben und mein gutes Sterben wurde beklatscht. Jetzt fällt der Vorhang, lautlos ist's im Hause, die Lichter verlöschen. – – Stumm liegt die Welt wie das Grab.«

Entsetzt hatte ich auf sie hingestarrt. Fernow sah mich an, sein Blick erstickte meinen Schrei. – – Wieder eine lange, lange Pause. Dann und wann durchfuhr ein Schauer ihren Körper. Mit meinem erstickten Wehschrei im Herzen wartete ich auf ihren Tod. Aber noch einmal sprach sie: »Einsam habe ich gelebt, aber ich sterbe nicht einsam. Seitdem Sie wieder mein Arzt geworden sind, war es mein Wunsch, in die ewige Ruhe zu dämmern, Ihre Hand in der meinen. Geben Sie mir sie jetzt.«

Fernow umfaßte ihre beiden Hände und hielt sie fest umschlossen.

»Vor mir der Tag und hinter mir die Nacht!«

Aus der Sterbenden war eine Verzückte geworden. Sie hatte sich aufgerichtet: weit offenen Auges schien sie in unendliche Fernen zu blicken.

Ich war aufgestanden, ich warf mich vor dem Bett auf die Knie, ich schlang um sie, die nichts Irdisches mehr sah, meine Arme. – – So hielt ich sie umfaßt, bis alles vorüber war.

 

Dieser Tod war das tragische Ereignis meiner Jugend.

Einst wäre es mir als ein Glück ohnegleichen erschienen, hätte ich vor meiner Heiligen hinknien dürfen, mich durch die Berührung ihres Gewandes weihen zu lassen; und nun – umfaßt von meinen Armen war sie gestorben.

Seitdem sie aus dem Süden zurückgekehrt, war sie Fernows Patientin gewesen. Ohne Familie, ohne Freunde hatte sie selbst gewünscht, daß man sie in ein Spital schaffe. Da ich doch nicht hätte zu ihr dürfen und mir überdies meine Ruhe erhalten bleiben mußte, hatte Fernow es mir verschwiegen. Aber er verschaffte mir das leidvolle Glück, an ihrem Sterbebette zu knien.

Wenn er dabei noch außerdem seine besonderen Absichten gehabt, so erreichte er diese vollkommen. Mein ganzes Innere war durchwühlt von einem erhabenen Schmerz.

»Vor mir der Tag und hinter mir die Nacht!«

Mir dieses Wort mit der Inbrunst einer Schwärmerin zu dem Motto meines Lebens machend, wandte sich dieses von nun an mit all seinem Streben dem schönen Himmelslicht zu: einst in die ewige Nacht tauchend, wollte ich hinter mir Tag zurücklassen.

An einem Herbsttag ward sie begraben. Fernow bot mir in seinem Wagen einen Sitz an, was ich indessen ausschlug. Rechtzeitig fand ich mich vor der Spitalkirche ein, von wo aus der Trauerzug seinen Weg nehmen sollte. Es war hier als solle eine Königin zu Grabe getragen werden.

Die Straße war abgesperrt und ihre Eingänge von Polizisten besetzt. Eine lautlose Menschenmenge drängte sich dort. In unübersehbarer Reihe standen die Wagen, so daß ich mich nur mit Mühe in der Nähe der Kirchentür aufstellen konnte.

Da stand ich nun. Vom Himmel, der sich dicht mit grauen Wolkenmassen behängt, rieselte es unaufhörbar herab. Es war unsäglich trübselig!

Es tat mir nun doch leid, daß ich Fernows Anerbieten nicht angenommen hatte: dieser Vorgang auf der Straße war nach jenem feierlichen Augenblicke ein zu trostloses Nachspiel! Eine Farce nach einer Tragödie.

Ich befand mich nämlich mitten in einen Haufen von Weibern eingeklemmt. Sie gehörten sämtlich dem Theater an: Schließerinnen, Ankleiderinnen, Wäscherinnen. Sie sprachen natürlich über die Verstorbene und waren natürlich ungemein gerührt. Einige benutzten die günstige Gelegenheit, sich den Genuß von Tränen zu gönnen. Nachdem die ersten Stürme ihres Beileids vorüber, suchten sich die Gemüter durch vertrauliche Mitteilungen aus dem Leben der Verstorbenen zu beruhigen. Danach erneuter Ausbruch von Jammer und Tränen, erneutes Beruhigen durch die menschenfreundliche Betrachtung: was das für eine Frau gewesen! Nachdem dies Thema erschöpft, kamen gewisse Anekdoten an die Reihe, die widerwärtigsten Kulissengeschichten! Darauf die Berichte über ihr Sterben, wobei jede etwas wissen wollte: was dieser gehört, was jener gesagt, wie dies gewesen, wie das. Erneuter Gebrauch der Taschentücher und heftiges Schelten: wie lange es dauere! Folgte die eingehendste Kritik des ganzen Begräbnisses. Folgte erneutes Wehklagen. Dann heftiges Drängen bei der Nachricht, daß sie kämen! Als die Wagen anfuhren, wurden diese inspiziert. Daß der Hof Equipagen geschickt, versetzte die ganze Gesellschaft in entzückte Rührung. Noch ehe der Sarg kam, stiegen viele aus dem Trauergeleit ein. Ich erfuhr auf das genaueste, wer sie seien. Sogar eine Durchlaucht war darunter! Von der königlichen Bühne seien die und die nicht erschienen – natürlich nicht! Man wisse warum. Das war die A., das der R., das die B. Daß die C. gekommen, war zu schön von ihr! Die Trauertoiletten wurden bekrittelt, ebenso die Kränze, die bestimmt waren, der Toten ins Grab nachgeworfen zu werden. Dabei wurde in Paranthese von dieser und jener diese und jene pikante Geschichte erzählt.

Wie betäubt lehnte ich an der Wand. Mein Schmerz ward durch Widerwillen entweiht.

Endlich verstummten in der Kirche Musik und Gesang. – – Erneuertes Drängen und Ausstrecken der Hälse. Ob ein Hochzeitszug, ob ein Leichenzug, ob ein Trauerspiel, ob eine Posse – wenn es nur etwas zu sehen gab!

Der Sarg kam. Er war über und über mit Blumen bedeckt und wurde von Schauspielern getragen. Ältere Mitglieder der Bühne, die mit der Toten zusammen gespielt, hielten die Zipfel des Bahrtuches. Wir waren die Augen trüb, so daß ich nicht lesen konnte, was auf den langen Atlasbändern in Goldschrift gedruckt stand. Die Lektüre besorgte meine Umgebung. Unter unmäßiger Bewunderung, von Tränen und Schluchzen unterbrochen, wurden die pathetischen Worte einer großen Künstlerin ins Grab nachgerufen, von den gemeinen Stimmen abbuchstabiert, Gott im Himmel! dann taxierten diese Weiber sogar, wie viel Bänder und Kränze gekostet!

Länger ertrug ich's nicht. Es gelang mir, mich durchzudrängen und unter eine andere Gruppe zu flüchten, wo man wenigstens schwieg – – Jetzt begann die dem Sarg vorangehende Trauermusik zu spielen. Der Zug ordnete sich. Endlich konnten Wagen und Fußgänger sich in Bewegung sehen. Als eine der letzten schloß ich mich dem Geleit an.

Es war ein weiter Weg nach dem Kirchhof. Der graue Himmel, die schmutzige Straße, die Luft voll nassen Nebelgeriesels – es war gerade die rechte Stimmung! Meinen jungen Kopf füllte ein Gewühl von Gedanken.

Auf dem Kirchhof wehte der Herbstwind die letzten braunen Blätter von den Bäumen. Sie raschelten über die Gräber dahin, dahin über welke Kränze, über die vom ersten Frost erstarrten Blüten. Ganz entsetzt blickte ich mich um. – – War dies wirklich derselbe schöne Ort, der das Paradies meiner Kindheit gewesen? Hatte ich mir wirklich einmal nichts sehnlicher gewünscht, als darauf auch ein Grab zu haben?! Eine ungeheure Angst faßte mich. Die majestätischen Klänge des Trauermarsches wühlten mir die Seele auf. Licht, Frühling, Sonnenschein – ich wollte leben!

Ich stand entfernt von der Gruft, so daß ich von den vielen Reden, die daran gehalten wurden, nur wenig verstand. Es sprachen: der Geistliche, der Intendant, mehrere Schauspieler. Was ich hörte, klang prächtig und erhaben. Um mich her wurde viel geschluchzt – ich konnte nicht weinen. Als sie den Sarg unter Klängen und Chorlied niedersenkten, grüßte ich still hinüber. Ich mußte denken: Da stehen all die Menschen; jeder mit einem Schmerz prunkend, von dem er nichts fühlt. Und hier bin ich, von allen Trauernden die Bescheidenste und Unscheinbarste und – umfaßt von diesen Armen ist sie gestorben!

Ich suchte mit den Blicken den Freund und sah ihn abseitsstehend wie ich. – – Ich grüßte mit den Augen hinüber.

Du und ich, wir beide könnten auch eine Rede halten. Dich hat sie erkannt und wohl gewußt, von welcher Hand sie ihre erkalteten Hände fassen ließ. Könnte ich es ihr einmal nachtun!

Er hatte mich bis dahin wohl nicht gesehen; jetzt schien auch er etwas zu suchen und zu finden. Während sie auf den Sarg die Kränze hinabwarfen, begegneten sich unsere Blicke.

Der Schwarm hatte unsere Tote endlich einsam gelassen; nur Fernow und ich standen noch an dem blumigen Hügel, auf dem ich jetzt auch meine bescheidene Spende niederlegte: all die wenigen Blumen, die mir in meinen Töpfen erblüht waren.

»Sie war ein reines Weib und eine wahre Künstlerin. Weil sie eine echte Priesterin war, meinte sie eine Vestalin sein zu müssen. Sie hat ihrer Göttin schwer gedient – ruhe sie aus! Sie aber, liebe Freundin, die auch Sie in Ihrem Herzen ein Opferfeuer entzünden wollen, sollten unserer Hinabgegangenen ein Wort – einen Eid nachrufen, der Sie wie ein Talisman gegen das Unheil schützt, dem dieses schöne Leben zum Opfer gefallen.«

Und ich, kaum wissend, was ich sprach, flüsterte hinab:

Die Flamme lodert und die Sonne steigt!

 


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