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Fünfzehntes Kapitel.

Die Kerkerszene

Ich übte an den Vormittagen den schrecklichen Auftritt ein, wobei Luise jedesmal händeringend zur Mutter kam: jetzt sei ich wahr und wahrhaftig toll geworden! und sich weigerte, allein in der Küche zu bleiben, solange ich daneben »herumrase«. Ganz unglücklich machte sie der Umstand, daß ich mich dazu »hergebe«, ein schlechtes Frauenzimmer vorzustellen und noch dazu so eine, die ihr Kind umgebracht. Kurz: Luise war das Lieschen, die für das arme Gretchen keinen Funken von Mitgefühl besaß. »Das müsse ein sauberer Mann sein, der solche Sachen geschrieben,« meinte sie in höchster, sittlicher Entrüstung.

Ohne Fernow wäre ich durchaus der allgemeinen Auffassung gefolgt und hätte Gretchen im Kerker wahnsinnig sein lassen. Er belehrte mich eines Bessern.

Der Arzt und Psycholog kann sich keinesfalls mit dem Wahnsinn des armen Kindes einverstanden erklären. Daß unser Publikum sich daran gewöhnt hat, Gretchens Kerker zugleich als die Zelle einer Tollen anzusehen, ist bei unseren Theaterverhältnissen ganz natürlich. Ein wahnsinniges Gretchen gibt ein prächtiges Motiv zu schauspielerischen Effekten aller Art, Überlegen wir uns einmal die Lage des armen Mädchens.

Faust hat Gretchen verführt. An dem Schlaftrunk, den sie der Mutter gegeben, damit sie glücklich sein sollten, ist diese gestorben. Ihr Bruder ist von dem Geliebten erstochen, der Mörder entflohen, Gretchen verlassen. Aus dem unschuldigen Kind ward fast über Nacht ein unseliges Weib, dem in der Kirche ehrbare Frauen ausweichen und von dem die Mädchen am Brunnen eine noch viel schlimmere Geschichte erzählen, als sie das Lieschen dem Gretchen vom Bärbelchen erzählt hat. In ihrem verödeten Häuschen, darin sie allein mit dem bleichen Geist ihrer Mutter und dem blutigen Schatten ihres Bruders lebt, mag sie ein Dasein führen, in dem jeder Augenblick ein Jammer ist, von keiner Menschenseele zu fassen. Schon damals mag es halber Wahnsinn gewesen sein. Von Zeit zu Zeit sieht die Kupplerin nach ihr, dann und wann schleicht sie sich zu der Mutter Gottes in den Zwinger hinaus, dieser ihre Seufzer und Blumen zu bringen, deren Tau ihre Tränen sind.

Während Faust die Blockberg-Bacchanalie begeht, gebiert sie ihr Kind. Mit Tränen und Küssen mag sie es erstickt, an ihrer Brust mag sie es erdrückt haben. Erst nachdem es geschehen, kommt der entsetzliche Gang: Nachts am Bache hinauf, über den Steg, in den Wald hinein, zum Teich!

Die kleine Leiche wird gefunden, zu Gretchen kommt das Gericht – »Kindesmörderin« schreit man sie an. Sie wird vor das Tribunal geschleppt, sie wird verurteilt. Man legt ihr Fesseln an, wirft sie in den Kerker, kleidet sie in ein Sterbehemd. – Das kann auch eine stärkere Vernunft, als das arme Gretchen sie hat, verwirren und zerstückeln.

Aber wahnsinnig ist sie deshalb doch nicht! Sie vermag, wozu keine Wahnsinnige imstande ist, über ihren Zustand zu denken.

Blicke ich auf meine schauspielerische Entwicklung und die Bühnenerfahrungen vieler Jahre zurück, so kann ich diese Lehrmethode: sich ein Drama zu novellisieren, nicht genug empfehlen. Ich habe niemals eine Rolle gespielt, ohne mir dieselbe vorher als ein Begebnis erzählt zu haben. Indem ich mir die hohe Sprache der Dichter auf diese Weise gewissermaßen in meine eigene übersetzte, ward mein Verhältnis zu den Figuren ein weit vertraulicheres. Die Schicksale meiner Gestalten gewannen durch dieses Verfahren derartig für mich an Wirklichkeit, daß ich fähig gewesen, eine Dichtung mit dem vollsten Ausdruck der Überzeugung als etwas wirklich Geschehenes zu berichten. Das Resultat dieser Erfahrungen in einen Satz zusammengefaßt lautet: jede Auffassung einer Rolle beruhe auf einer gründlichen psychologischen Studie; der Schauspieler entwickle sich seine Gestalten, wie dies vor ihm der Dichter getan.

Noch immer war Fernow in der Kerkerszene nicht mit mir zufrieden. Gewisse Töne, die er an manchen Stellen für durchaus nötig hielt, konnte ich nicht finden.

»Es ist nicht das rechte, es ist nicht Natur; übrigens ist es gar nicht von Ihnen zu verlangen. Wie sollen Sie einen komplizierten Seelenzustand darstellen können, von dem Sie keine einzige Erscheinung im Leben beobachtet haben. Ich weiß nicht, wie Sie es herausbringen sollen.«

Darüber verstrichen Wochen.

Zu einer für ihn ganz ungewöhnlichen Zeit (es war vormittags) trat Fernow bei mir ein.

»Ich muß Ihnen heute zumuten, einen seltsamen Gang mit mir zu tun.«

»In Ihre Irrenanstalt, nicht wahr?«

»Ja. Wir können nicht länger damit warten; Gretchen verlangt es.«

»Aber Gretchen ist ja nicht wahnsinnig.«

»Ihr Besuch gilt auch keiner eigentlich Wahnsinnigen. Ich hätte Ihnen von dem traurigen Fall bereits früher gesprochen, wenn mir Ihre Gemütsverfassung dazu geeignet erschienen wäre. Sie sind jetzt um vieles ruhiger, so daß ich Ihnen die Geschichte der armen Anna nicht nur erzählen, sondern Sie auch zu ihr bringen kann. Können Sie gleich mit mir gehen?«

Ich machte mich sofort zurecht.

Fernow fuhr fort: »Jeder Schauspieler sollte in einer Irrenanstalt lernen und wäre es auch nur um dort zu sehen, wie er Wahnsinnige – nicht spielen soll. Es wird nicht das einzige Mal bleiben, daß ich Sie dahin führe. Solche Studien nach dem Leben können für Sie nur von Nutzen sein. Ganz abgesehen von dem Vorteil, den die Künstlerin aus solchen Besuchen zieht, schadet es auch Ihrem Menschen nicht, einmal zu erfahren, was es auf der Welt für Elend gibt:

›Des Lebens ganzer Jammer faßt mich an.‹

Manchen Zug werden Sie überdies, wie Sie noch heute erfahren sollen, aus dem Irrenhause geradeswegs auf die Bühne bringen können. Sie bekommen Trauriges zu sehen; also wenn Sie sich fürchten – –«

Ich stand bereits in Hut und Mantel vor ihm.

»Kommen Sie.«

Wir gingen.

Nach einer Weile begann Fernow: »Wissen Sie, daß wir zu einem wirklichen Gretchen gehen?«

»Sie meinen, zu einem verlassenen Mädchen, das ihr Unglück verstört hat.«

»Ich meine viel Schlimmeres. – – Anna ist eine Kindesmörderin und zwar eine, welche die schreckliche Tat mit vollem Bewußtsein beging.«

»Nein, nein!« rief ich aus, so daß die Menschen stehenblieben und mich anstarrten.

»Wollen Sie fahren?«

»Wenn es Ihre Zeit erlaubt, möchte ich lieber zu Fuß gehen; wir wären zu schnell dort. – – Bitte, sagen Sie mir alles.«

»Das ist bald geschehen. – – Anna ist eine Waise; sie war Putzmamsell in einem vornehmen Modegeschäft, merkwürdig hübsch und überaus tugendhaft. Wie Heinrichs Gretchen von ihrem Kammerfenster aus über die hohe Stadtmauer hinweg die Wolken ziehen sieht und dabei seufzt, so mag auch dieses Gretchen in ihrem Dachstübchen getan haben. Wenn sie aus Spitzen und Blumen allerlei hübsche Sachen machte, saßen die Gefährtinnen um sie her, einander ihre Liebhaber rühmend. Die eine konnte einen neuen Hut beneiden lassen, die andere sogar eine goldene Kette. Anna hörte still zu; auch dann, wenn sie verspottet wurde, daß sie – ein anständiges Mädchen sei.

Sah sie dann des Abends in ihrer Dachkammer, so mochte sie ihre langen, goldblonden Haare geflochten – es ist das schönste Frauenhaar, das ich jemals gesehen – und dabei auch ihr Thulelied gesungen haben.

Unter dem Hohn ihrer Gefährtinnen, das Herz voller sehnsüchtiger Gesänge, ward Anna bei ihren Bändern, Blumen und Spitzen dreißig Jahre alt. Mutterseelenallein auf der Welt, sah sie, während sie der eleganten Damenwelt einen unverwelklichen Frühling auf die Hüte steckte, die eigene Jugend verblühen.

Ich muß sie mir immer vorstellen, wie sie an Sonntagabenden, während die Bärbelchen des Putzgeschäftes die Heldinnen gewisser Bälle waren, auf der Galerie des Schauspielhauses ihr großes Fest der Woche feierte. Vielleicht wurde gerade Faust gegeben, und sie weinte über das Gretchen im Kerker heiße Tränen.

Nun, sie wurde selber zum Gretchen. Bis zum dreißigsten Jahre tugendhaft, war sie es im einunddreißigsten nicht mehr. Ein Schmuck war nicht nötig gewesen, allerdings auch keine Frau Marthe.

Still war sie immer gewesen, aber wie sie jetzt stumm und blaß wurde, steckten ihre Gefährtinnen die Köpfe zusammen: ›So ist ihr's endlich recht ergangen.‹

›– – Das ist das Vornehmtun!

Plötzlich war sie fort.

Da eines Tages gerieten die Sibyllen, die Lieschen und Bärbelchen des Putzgeschäftes in große Aufregung. Die Besitzerin mußte sogar vor Gericht. Was die Dame dort aussagte, half jedoch nichts. Dreißig Jahre tugendhaft und im einunddreißigsten – Kindesmörderin. Viele Milderungsgründe gab es da nicht! Sie hatte heimlich ihr Kind geboren, es erstickt und den kleinen Leichnam begraben, alles bei voller Vernunft. Doch vor Gericht stand sie als eine von Sinnen Gekommene.

Ich wurde als Sachkundiger zugezogen. Ich sollte aussagen: ob ihr Verstand schon vor der Tat oder erst nach der Tat gestört gewesen. Ich mußte aussagen: Erst nach der Tat, hoher Gerichtshof.«

»Schrecklich, schrecklich!«

»Das sind Lebenstragödien.«

»Und ihr Wahnsinn ist – –«

»Nur tiefe Verstörtheit, allerdings bis zur Grenze des Wahnsinns. Während wir die Gretchenszene studierten, konnte ich bei ihr merkwürdige Wahrnehmungen machen, die mich in meiner Ansicht, daß Goethe sein Gretchen sich entschieden nicht wahnsinnig gedacht, durchaus bestärkten.«

»Aber Sie hoffen doch sicher, sie heilen zu können.«

»Sicher.«

»Und weiß sie, was sie getan? Es wäre fürchterlich! Dann lieber unheilbarer Wahnsinn.«

»Bis jetzt ist sie sich des Geschehenen nur auf Augenblicke bewußt und dann völlig traumhaft. Das wird nun freilich bald aufhören.«

»Warum muß sie denn geheilt werden?« rief ich aus. »Lassen Sie sie doch bleiben, wie sie ist! Müßt ihr Ärzte denn immer so unbarmherzig-barmherzig sein?! Sterbende, denen der Tod Erlösung vom Furchtbarsten wäre, wieder zum Leben zurückzubringen; das ist ja unerhört, unmenschlich grausam! Ihr habt gewiß Mittel, von denen ein Tropfen alle Qual für immer beendet – warum spendet ihr diesen Tropfen nicht? – – Seien Sie gut, seien Sie groß und geben Sie dieser Bedauernswürdigen, was sie für immer um den Verstand bringt.«

»Sie schwärmen.«

Ich konnte ihm nichts darauf erwidern: wir waren vor der Irrenanstalt angelangt.

Mich überlief jener Schauer, bei dem der Volksmund sagt: »Jemand geht über unser Grab.«

Wenn ich damals gewußt hätte. – –

Bemerkend, wie die Stimmung des grauenvollen Ortes sich mir schwer aufs Gemüt legte, führte mich Fernow zuerst in den Garten der Anstalt.

Es war gerade die Stunde, in welcher sich die leichteren Geisteskranken in drei streng voneinander gesonderten Abteilungen: Männer, Frauen und Kinder im Freien befanden. Sie trugen graublaue kuttenähnliche Gewänder, und nur den weiblichen Kranken waren als Kopfbedeckung ganz leichte Häubchen gestattet.

Beobachtend und bewachend hatten sich die Wärter und Wärterinnen unter sie gemischt. Die meisten wandelten miteinander umher, vertraulich mit verschlungenen Armen. Wer sich einsam hielt, wurde von den Wärtern zu den andern zurückgeführt. Viele kauerten auf den Bänken und starrten blöd vor sich hin. Andere waren mit Gartenarbeit beschäftigt. Sie gruben, pflanzten, jäteten, pflückten Gemüse. Ohne lärmend zu sein, führte manche Gruppe eine lebhafte Unterhaltung. Sie sprachen hastig und abgebrochen, oft halb unverständlich; Gebärden oder Mienenspiel waren bei vielen unheimlich lebendig und ausdrucksvoll. Die meisten Frauen hatten ihre Handarbeit mit herausgebracht. Nicht, daß sie immer bleich und elend ausgesehen hätten; aber ihre stierenden Augen, ihre verschwommenen Züge, ihre ruhelosen Hände, mit denen sie unaufhörlich hin und her fuhren, wobei sie mit welken Lippen wirre Worte vor sich hin murmelten – es waren trostlose Bilder der Zerrüttung des menschlichen Geistes. Hier stand einer, der seinen Gefährten eine pathetische Rede hielt, dort lachte ein Weib blödsinnig auf; eine andere begann zu kreischen und um sich zu schlagen. Sie wurde sofort genommen und hinweggeführt.

Unaussprechlich traurig war der Anblick der vielen blödsinnigen Kinder; ich sah kein einziges spielen.

Ich ging mit Fernow unter allen umher. Die meisten kannten ihn, viele drängten sich zu ihm. Sie redeten ihn an, klagten laut, beschwerten sich heftig, verlangten leidenschaftlich dieses und jenes, gewöhnlich ihre sofortige Entlassung. Während einige völlig sinnlos plapperten, zeigten andere vollkommnes Bewußtsein und größte Klarheit. Fernow behandelte beinahe jeden anders: Mit dem einen sprach er heiter, mit dem andern streng; den einen tröstete, den andern schalt er. Diesem versprach er Abhilfe seiner Beschwerden, bei jenem ging er auf seine fixen Ideen ein; diese wiederum wies er kalt zurück.

Ich war erstaunt, wie viel völlig Vernünftiges ich von diesen Unvernünftigen zu hören bekam.

Plötzlich faßte ich Fernows Arm.

»Um Gottes willen – hören Sie!«

Wilde Schreie, wütendes Gebrüll, Geheul, Gegrunz, völlig bestialische Laute. –

»Es ist einer der Tobsüchtigen. Lassen Sie sich nicht zu sehr davon ergreifen. Wo die menschliche Vernunft so zerstört ist, hört das Menschliche auf.«

»Wie muß das Geschöpf aussehen, dessen Sprache solche Töne sind?«

»Martern Sie Ihre Phantasie nicht mit der Vorstellung. Aber jetzt wollen wir hineingehen.«

Auch drinnen wurden mir Ohr und Seele von den entsetzlichen Tönen zerrissen.

»Sie haben alle Anlage, eines schönen Tages den Verstand zu verlieren,« hatte der Freund bei Anlaß meiner Orsina-Deklamation gesagt. Und jetzt diese Laute! Es gab auch tobsüchtige Frauen im Hause – warum sollte darunter keine sein, die einst wie ich gewesen, schaudernd bei dem Gedanken, daß es in der Welt Wahnsinn gibt.

Wir mußten an der Zelle des Tollen vorbei. Trotzdem die Wände, wie Fernow mir sagte, ausgepolstert waren, meinte ich zu vernehmen, daß er mit dem Kopf gegen die Wand stieß.

Fernow sah mich erschrocken an und faßte nach mir. Ich wankte und mochte totenbleich sein.

Vor einer der letzten Türen blieben wir endlich stehen.

»Wenn Sie sich von dem Eindruck, den das Gebrüll jenes Tiermenschen auf Sie gemacht erholt haben, wollen wir eintreten.«

Ich bat, das sogleich zu tun.

»Warten Sie, Sie können sie erst vorher sehen.«

Er schob geräuschlos eine kleine Holzplatte zurück, die in der Tür eine Öffnung verschloß und blickte hindurch.

»Wir treffen es günstig. – – Sehen Sie!«

Sie saß am Fenster von Sonnenstrahlen umfunkelt. Ihr Gesicht war von mir abgewendet: aber dem zierlichen Kopf nach mußte es reizend sein. Sie trug weder die Tracht der übrigen Kranken, noch das entstellende Häubchen. Auch die Haare waren ihr nicht abgeschnitten worden. Die Sonne schien darauf und ich hätte beinahe einen Ausruf der Verwunderung getan.

Fernow gab ein bestimmtes, leises Zeichen, auf welches hin die Irre am Fenster hastig auffuhr. Da die Tür sich öffnete und die Wärterin heraustrat, sah ich auch jetzt ihr Gesicht nicht.

»Es scheint heute recht gut zu gehen?«

»Sie hat wieder ihre tolle Idee,« antwortete die Frau gelassen.

»Gehen Sie hinunter, gute Marianne. Ich möchte mit der Dame allein bei ihr bleiben.«

Die Frau nickte und entfernte sich, ohne mich angesehen zu haben.

»Marianne war zwanzig Jahre als Kranke in der Anstalt; sie wurde geheilt, wollte aber nicht wieder fort. Sie ist eine unserer zuverlässigsten Pflegerinnen. – – Damit Ihre unbekannte Gestalt sie nicht erschreckt, werde ich vor Ihnen eintreten.«

Mit solchem Antlitz eine Mörderin! – – Gott sei Dank, daß ich in diesen sanften, schwermütigen Augen den starren Blick des Wahnsinns gewahrte, daß ich sah, wie die schlanken, blassen Hände sich ruhelos, ruhelos aneinander rieben, als ob sie von jenem schrecklichen Griffe, den sie getan, immer noch schmerzten.

Der Freund redete sie an; aber heute gab ihr der Ton der bekannten Stimme nicht das Bewußtsein seiner Gegenwart. Sie horchte auf, war sichtlich bemüht, sich auf ihn zu besinnen, ohne jedoch eine Erinnerung finden zu können. Auf einmal belebten sich ihre Züge. Ein wundersamer Ausdruck von Entzücken verklärte sie förmlich. Sie lächelte glückselig vor sich hin und fragte uns, ob wir zu ihrer Hochzeit gekommen wären.

»Aber, gute Anna, du hast ja deinen Kranz noch nicht fertig gewunden,« wich Fernow der Frage aus. Er sprach laut, langsam und nachdrücklich, damit jedes seiner Worte verstanden und möglichst begriffen werde.

»Längst ist er fertig,« murmelte die Verstörte. »Seht meine Hände an: ganz mager sind sie geworden vom langen, langen Winden, ganz weh tun sie mir davon.«

Sie hob ihre Hände auf. Die waren so blaß, so zart!

»Wo hast du deinen Kranz denn hingetan?«

Das verstand sie nicht.

»Wo sie nur bleiben?« klagte sie leise, »Myrten habe ich auch nicht mehr. Nur ein Reislein behielt ich übrig. Ich habe es eingepflanzt und nun muß ich warten, bis es wächst und blüht. Ich begieße es alle Tage mit Licht.«

Am Fenster stand ein Blumentopf mit einem längst verdorrten Stöcklein darin. Aber Anna sah nicht, daß die Blume verwelkt war. Mit stillem Lächeln war sie hingetreten, winkte uns, ihr zu folgen, Zeigte uns voller Stolz ihren Schatz, hob dann die traurige Scherbe in die Höhe, um ihr Myrtenreis mit »Licht zu begießen«.

Mich überlief's. Eine Mutter, die ihr Kind umgebracht, wartet freudvoll, leidvoll darauf, daß aus einem verdorrten Stengel Blumen: »Myrten« erblühen.

»Ist die fremde, schöne Dame auch eine Braut?« fragte Anna Fernow überlaut und sah mich unverwandt an.

Fernow machte mir ein Zeichen, daß ich nicht verneinen sollte. Ich sagte also, daß ich auch eine Braut wäre.

» Seine?« forschte die Irre weiter, auf Fernow deutend.

Ich schüttelte meinen Kopf; aber Anna glaubte mir nicht.

»Er hat dich schrecklich lieb: er stirbt ja daran! Er wird ja verrückt daran! Verrückt! Verrückt!« schrie sie auf und brach in ein gellendes Gelächter aus.

Plötzlich nahm ihr Gesicht einen unsäglich angstvollen Ausdruck an. Sie griff mit der Hand nach der Stirn und fuhr darauf immer hin und her.

Mir grauste.

Als der heftige Anfall vorüber, redete sie mich von neuem an.

»Geht dir's auch so? Du hast einen Liebsten und – und – und – –«

Sie stockte und ließ ihren armen, irren Geist in sich versinken, um im tiefsten Dunkel nach Gestalten zu suchen, die sie einst besessen, dann verloren und die nun manchmal in der Nacht ihres Denkens auftauchten, um sofort wieder in einem Gebraus von Bildern unterzugehen.

So mußten wir sie verlassen.

»Sie sagten, diese Ärmste sei zu heilen,« versuchte ich mich von dem Freunde beruhigen zu lassen. »Teilen Sie mir nur das eine mit: was wird dann aus ihr?«

Fernow zauderte mit der Antwort. Von mir zum Sprechen gedrängt, gab er sie endlich: »Derartige Kranke, die zugleich Verbrecher sind, läßt das Gesetz erst heilen, um sie dann zu bestrafen. Einen Mörder zum Beispiel, der selbst seinem Leben ein Ende machen will, und dem das mißlingt, muß ein Arzt mit aller seiner Kunst dem Leben zu erhalten suchen, um ihn aus seinen Händen vielleicht in die des Henkers zu übergeben. Denn dem Gesetz darf nicht vorgegriffen weiden. Mit Wahnsinnigen ist es zuweilen ebenso.«

»Diese soll doch nicht – –«

»Gerichtet werden? Gewiß nicht! Nur vier bis fünf Jahre Zuchthaus.«


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