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Viertes Kapitel.

Neues Leben.

Nach einigen Tagen verließ Fernow mich wieder. Ich hatte ihm meine Seele aufdecken und ihn darin lesen lassen können, wie in einem Buche. Daß er manches verschweigen mußte, wußte ich ja.

Luise kam. Sie hatte dem Leichenbegängnis meines Gemahls beigewohnt und war von Rührung und Wehmut noch ganz geschwächt, was sie jedoch nicht hinderte, über den Pomp des Vorganges in höchste Ekstase zu geraten. Sie behandelte mich nach alter Art wie ein krankes Kind und mochte befürchten, daß ich meinem jungen Gatten möglichst schnell am gebrochenen Herzen nachsterben würde.

Fernow hatte mich nicht verlassen dürfen, ohne mir über die Mutter, die mir zu leiden schien, völlige Wahrheit zu geben. Ich erfuhr, daß sich ein Herzleiden eingestellt, und er verschwieg mir auch nicht, daß eine heftige Aufregung einen Herzschlag zur Folge haben könne. Wie ein Kind wurde daher meine Mutter von Luisen behandelt. Da ihre hauptsächlichste Anschauung von Kindern die war, daß es kleine, arme, hilflose Wesen seien, die fortwährend eingewickelt und beruhigt werden müßten, so betrieb sie diese Ammenbeschäftigung bei meiner Mutter mit einer wahrhaft fürchterlichen Zärtlichkeit. Wenn sie gegen die zarte, wehrlose Gestalt mit einem Armvoll Tücher und Decken anrückte, mußte ich jedesmal wahre Schlachten liefern, deren Ausgang mein Mütterchen in ihrem Lehnstuhl in stiller Ergebung abwartete. Ich siegte nicht immer.

Hier sei gleich erwähnt, daß Luise bedenkliche Gelüste zeigte, noch in ihren alten Tagen Schloßherrin zu werden. Sie war eben ein Charakter.

In tiefster Zurückgezogenheit verstrich der Sommer. Dann entschied ich über meine Zukunft: war ich doch wieder Rolla, die Schauspielerin!

Unsere Hofbühne blieb mir selbstverständlich verschlossen; aber ich hatte gehört, daß mich das Publikum sehnlichst zurückerwartete, daß also kein Ersatz für mich gefunden worden war. Verschiedene ausgezeichnete Bühnen ließen mir ihre Anerbietungen stellen, die sämtlich überaus ehrenvoll für mich waren. Eine kurze Zeit schwankte ich; dann entschloß ich mich für die Hofbühne einer Residenz, deren eigentlicher Lenker der kunstsinnige Monarch in eigener Person war. Der Intendant kam selbst zu mir gereist, um mir im Namen seines Herrschers die bedeutendsten Vorschläge zu machen. Als auch Fernow mir zusprach, nahm ich, wie gesagt an. Im Herbst siedelten wir über.

Da ich ja noch recht jung war, behielt ich mein altes Repertoir völlig bei. Wieder war die erste Rolle, in der ich auftrat, Gretchen. In dem Erfolg, den die Künstlerin errang, schien mir das Haus seine Teilnahme für die Frau versichern zu wollen. Nie vorher hatte man mich so gerühmt. Dennoch wollte mir bedünken, als sei mein Gretchen lange nicht mehr so gut gewesen. Die alte Harmlosigkeit schien mir genommen zu sein, die schöne Unbewußtheit. Ich hatte erlebt und gelitten, ich war reflektierend geworden. Ausführlich schrieb ich darüber an Fernow und bekam von ihm zur Antwort, was ich mir selbst gesagt.

Ähnliches geschah mir mit allen alten Rollen. Meine Gestalten waren wie Blumen, die ja noch recht frisch sein mochten; aber mir erschienen sie doch nicht mehr so duftend, als ob sie eben erst gebrochen wären. Gewisse schlichte, innige Töne, die meinen Ruhm begründet, fand ich gar nicht mehr; desto gewaltiger gelang mir der Ausdruck des Leidenschaftlichen. So wandte ich mich denn sehr früh, viel zu früh, dem Tragischen zu.

In mein Wesen war etwas gekommen, das meine Mutter erschreckte, mich namenlos quälte und das zuweilen, so sehr ich es auch zu unterdrücken versuchte, einen wilden Ausbruch nahm. Es lag über meiner Seele wie die Eisdecke über dem Bergstrom; die Flut schlägt dagegen. Sie will den kalten Zwang zersprengen, sie will sich entfesseln. Aber noch ist der Frühlingssonnenschein nicht gekommen, der die Bande schmilzt und die Ufer mit Blumen schmückt.

In diesen Jahren ersparte ich mir mit jenem Strom des Lebens zu treiben, der mich in den Strudel und die Sturmflut der Gesellschaft hinausgerissen hätte. Ich blieb ruhig am sichern Ufer, ließ sie über mich murmeln und flüstern und die Achseln zucken, allein dem allerdings schmerzlichen Glück meiner Kunst lebend. Aber wie vermißte ich ihn, wie fehlte mir der Freund. Als ob ich nicht gewußt hatte, warum mich meine Mutter so traurig ansah, warum sie oft so tief schmerzlich aufseufzte. Doch ich schüttelte den Kopf. Nein, gute Mutter, das geht nicht, das nicht! Ich sprach es nicht aus; aber sie verstand mich, wie ich sie verstand.

Jeden Sommer brachten wir die großen Ferien auf dem Schlosse zu, jeden Sommer besuchte Fernow uns dort. Einmal brachte er mir ein Manuskript mit, das ich lesen sollte. Es war ein Trauerspiel. Als ich nach dem Dichter fragte, hieß es: ich würde später von ihm erfahren.

Ich nahm die Blätter des Abends mit mir auf mein Zimmer; sie waren mit einer kühnen, stolzen Schrift beschrieben. Dem Datum nach war das Stück vor zehn Jahren verfaßt worden.

Ich hatte mein Nachtkleid angelegt, war allein und begann zu lesen. Mehreremal wollte ich das Manuskript wegwerfen. Schließlich tat ich es auch. Aber ich nahm es doch wieder auf und las bis zu Ende.

Mein Gesicht glühte, meine Pulse fieberten, mein Denken war wie zerstückt. Ich war begeistert und empört zugleich; nie war mir Ähnliches geschehen. Ich war außer mir.

In meinem Zimmer schritt ich auf und ab, bis eine unverständliche Qual und ein ebensolch unverständliches Entzücken mich in einen Zustand von Bangigkeit versetzten, daß mir's schien, als brächen Wände und Decke über mir zusammen. Ich riß das Fenster auf. Mir war's, als ob ich mich retten müßte.

Ich wollte die Mutter wecken; aber da sah ich in Fernows Zimmer noch Licht. Ich nahm den Leuchter und ging durch die lange Reihe stiller Gemächer zu ihm.

»Wachen Sie noch?«

Statt der Antwort öffnete er mir.

»Was ist geschehen? Ist die Mutter krank geworden?«

»Die Mutter schläft ruhig; aber ich, glaub' ich, bin krank.«

»Sie haben das Manuskript gelesen?«

»Können Sie noch fragen. Lassen Sie mich herein.«

»Wollen wir nicht – –«

»Hinausgehen. Nein, ich muß Licht um mich haben, ich muß Sie ansehen können.«

Schweigend ließ er mich an sich vorüber und schloß die Tür. Wir standen uns gegenüber. Ich sah recht gut, wie bleich er war.

»In welcher Absicht taten Sie mir das? Denn Sie hatten eine Absicht; Sie tun nichts ohne Absicht.«

»Es ist eine geniale Dichtung.«

»Es ist eine geniale Dichtung! Sehen Sie nicht, daß ich ganz zermalmt davon bin?«

»Sie befinden sich allerdings in einem sonderbaren Zustand.«

»Ich leide, also studieren Sie mich nicht! Oder ist es wieder eines Ihrer Experimente?«

»Ich bitte Sie – – «

»Ruhig zu sein? Hören Sie mich! Dieses dämonische Werk, das mich mit Abscheu und zugleich mit Bewunderung erfüllt, hat einen Sturm in mir aufgewühlt, der sich nicht so leicht wird beschwichtigen lassen. Sie müssen das gewußt haben, denn Sie kennen mich. Während ich las, jauchzte ich dem Dichter zu; aber zugleich schauderte mir vor ihm, warnte mich mein Geist vor ihm! Diese titanische Empfindung, diese prometheische Leidenschaft, diese verbrecherische Kühnheit in glühenden Bildern, gewaltigen Worten auszusprechen, was kaum zu denken gewagt werden darf – –. Wer ist es?«

Fernow zauderte mit der Antwort.

»Wer ist es?« drängte ich heftig. »Wenn er lebt, muß ich ihn kennen. Ich muß, sage ich Ihnen! Also reden Sie. Nein, reden Sie nicht, ich will es nicht wissen! Was fällt mir plötzlich ein?! Sie haben es doch nicht geschrieben? Was schwatzte ich! Das ist ja nicht möglich!«

»Dieser Meinung bin ich auch. Aber in der Aufregung, in der Sie sich befinden, werden Sie kein Wort von mir zu hören bekommen.«

»So beruhigen Sie mich. Geben Sie mir ein Gegengift.«

»Das wird am besten ein kurzer Spaziergang sein.«

Er legte mir ein Tuch um und führte mich hinaus. Wir gingen durch den Garten und Park; die kühle Nachtluft tat mir wirklich wohl. Der Sternenhimmel und das stille, feierliche Dunkel übten ihre alte Wirkung auf mich aus und bald dachte ich an meine leidenschaftliche Erregung wie an einen wüsten Traum zurück. Was hatte mich überkommen, wie konnte ich mich so fortreißen lassen?! Ich schämte mich.

»Schelten Sie mich!« bat ich. »Ich fürchte, ich war wieder einmal ganz jenes unvernünftige Ding, das damals die Gräfin Orsina vor Ihnen raste. Anlage zur Tollheit soll ja in meinem Hirn stecken. Ich muß mich wirklich in acht nehmen.«

»Das Genie hat Ihnen diesmal einen Streich gespielt« versetzte Fernow heiter. »Ich hätte daran denken sollen, daß man Zoll für Zoll Tragödin ist.«

»Freilich! Unsereins ist ja von vornherein bei einer solchen Lektüre unzurechnungsfähig. Lesen wir doch nicht Worte, sondern erleben Tatsachen. Ich will Ihnen nur bekennen, daß ich die ganze Zeit über jene Heldin gewesen bin.«

»Natürlich wäre es unmöglich, das Stück zu geben?«

»Unmöglich! Welche Schauspielerin sollte das spielen? welches Publikum das anhören? Aber genial ist es; übergenial. Lösen Sie mir das Rätsel. Wie kommt es, daß ich von diesem Mann noch nichts erfahren habe, daß dieser Dichter nicht wie eine Sturmflut in unsere Literatur hereingebraust ist? Hat er noch mehr geschrieben? Ist etwas von ihm gedruckt? Wie kamen Sie zu dem Manuskript?«

»Sie muten mir doch nicht zu, auf alle diese Fragen in einem Atem zu antworten?«

»Also der Reihe nach. Zuerst und vor allem! Wer ist er?«

»Ich denke, Sie wollen nichts mehr von ihm wissen? Es wäre vielleicht auch besser, ich schwiege.«

»Befürchten Sie einen Rückfall? Diese Vorsicht kommt nach der Unvorsichtigkeit zu spät. Bekennen Sie also.«

»Auf eigene Verantwortung?«

»Die nehme ich auf mich.«

»Also hören Sie: Der Dichter ist wie seine Dichtung: man muß ihn bewundern und man wird sich gegen ihn empören. Er ist auch als Mensch von jener verbrecherischen Rücksichtslosigkeit, die Sie in seinem Drama zugleich entzückt und verletzt hat. Ich kenne keinen, der so viel geliebt und so viel gehaßt wird.«

»Wie, Sie kennen ihn?«

»Er ist mein Freund, der einzige, den ich jemals besaß.«

»Sie haben einen Freund – einen solchen Freund! Und das erfahre ich jetzt erst! Habe ich mir alle diese Jahre nur eingebildet, Ihre Freundin zu sein? Aber ich tue Ihnen schon wieder unrecht. Sie hatten natürlich Ihre triftigen Gründe, mir von diesem merkwürdigen Menschen nicht zu erzählen.«

»Allerdings hatte ich meine triftigen Gründe. Eine derartige, im höchsten Grade problematische, ja dämonische Natur hätte Sie damals nicht nur auf das heftigste beunruhigt, sondern wäre Ihnen auch völlig unverständlich, ja ungeheuerlich erschienen.«

»Sie haben recht, vollkommen recht – wie immer,« versetzte ich mit einem schweren Atemzuge. »Aber jetzt werden Sie mir von Ihrem › Freunde‹ erzählen.«

»Deshalb gab ich Ihnen das Manuskript zu lesen –

Wir studierten zusammen. Lange bevor ich ihn kennen lernte, hatte ich von ihm gehört. Während mein ganzes Empfinden sich gegen die durch seine Persönlichkeit ausgeübte Tyrannei auflehnte, flößte mir dieser Renaissancemensch zugleich die heftigste Bewunderung ein. Er gründete damals eine studentische Vereinigung, welche den kühnsten – den extremsten Freiheitsideen huldigte. Als ich diesem Bunde beitrat, sah ich ihn zum erstenmal. Obgleich ich mich darauf vorbereitet hatte, ihn zu hassen, verging bei seinem Anblick meine Empfindung gegen ihn wie eine Seifenblase. Seiner Schönheit und Liebenswürdigkeit gegenüber war kein Widerstand möglich. Wenn er die Locken seines jungen Jupiterhauptes schüttelte, wenn seine Augen im heiligen Zorne gegen irgendeine Erbärmlichkeit der Welt und des Lebens aufleuchteten, seinen Lippen hinreißende Beredsamkeit entströmte, so kam mir's oft vor: als sei aus einem vergangenen Geschlecht einer übriggeblieben, von einer Kraft und Gewalt, wie diese schwächlich gewordene Menschheit sie nicht mehr hervorbringt. Ein neuer Prometheus, trotzte er den alten Göttern, wollte er vom Himmel den Blitzstrahl der Wahrheit herabreißen, ihn unter die Menschen zu schleudern, womöglich die Welt in Brand zu stecken. Etwas Phrase mochte allerdings dabei sein und jedenfalls viel Sturm und Drang; dennoch war es ein wunderbarer Mensch.

Einer seiner Hauptsätze war: es gibt keine Leidenschaft mehr in der Welt. Nun, er führte durch sich selbst den Gegenbeweis. Es gibt in der Welt keine Persönlichkeit mehr, zürnte er und war doch selbst eine volle. Sein Hohn, seine Satire konnten schonungslos sein; doch richtete er sie nicht nur gegen andere, sondern auch gegen sich selbst und das ohne jede Koketterie. Ich fand ihn oft über sich verzweifelnd: Ich bin angekränkelt wie sie alle, und sollte abgehauen werden wie ein fauler Baum. Wozu gibt es Äxte und Messer. Haut zu! Nein, laßt nur! Ein fauler Baum, der über einem Abgrund hängt, stürzt schließlich von selbst hinab. Eine Stunde darauf erhob er sein Haupt in unbegrenztem Selbstbewußtsein von neuem.

Demokrat, der er sein wollte, war er doch durch und durch Aristokrat. Als er jedoch in einer Zeit, wo Deutschland das Jahr 1813 noch nicht vergessen hatte, Napoleon öffentlich verherrlichte, konnte er sich nicht länger halten. Dazu kam, daß die Vereinigung von der Universität kassiert wurde; er selbst sollte vor Gericht gezogen werden. Ich überredete ihn zur Flucht.

Weil ich mich ihm nicht unterwarf, liebte er mich. Wir haben viel zusammen erlebt. Das Manuskript fand ich kürzlich unter den Erinnerungen jener Zeit. In müßigen Stunden hatte er die ungeheure Tragödie wie im Spiel hingeworfen und sich dann nicht mehr darum gekümmert.«

»Aber er lebt doch noch? Wo ist er?« »Als ich Sie kennen lernte, ging er gerade fort. Da in Europa nichts aus ihm geworden war, wollte er sehen, ob in Amerika etwas aus ihm werden würde. Vor etwa einem Jahre erhielt ich nach langem Schweigen wieder den ersten Brief. Er hat Tolles erlebt, scheint mir aber ganz der Alte geblieben zu sein.«

Er schwieg. Ich mußte ihn drängen, weiter zu sprechen.

»Sie müssen nämlich wissen, daß er vor kurzem zurückgekehrt ist. Ich bin ihm bis Hamburg entgegengereist.«

Ich unterdrückte einen Ausruf.

»Wie haben Sie ihn gefunden?«

»Wie ich erwartet hatte; unzermalmten Herzens, ein trotziger, herrlicher, despotischer Mensch, der gewiß nach wie vor von vielen gehaßt und – von vielen geliebt wird. Natürlich ist er unverheiratet, muß auch unverheiratet bleiben, da bei ihm eine Ehe gegen eine Frau sowohl, wie gegen sich selbst, ein Verbrechen sein würde. Er ist ein Mann, der ein Weib zuerst selig und dann unselig machen muß. Ein zweites, sogenanntes Glück, gibt es bei ihm nicht. – – Er hat die Absicht, mich in diesen Tagen hier aufzusuchen. Ich kann ihm jedoch abschreiben. Fast möchte ich es tun.«

»Warum?« fragte ich ihn und sah ihm fest ins Gesicht.

Er erwiderte nichts.

Nach einer Stunde stand ich in meinem Zimmer am geöffneten Fenster und sah das Morgenrot aufglühen. Den jungen Tag begrüßend schwangen sich die Lerchen auf.

»Erst selig, dann unselig, ein zweites gibt es bei ihm nicht.«

Da ging die Sonne auf. Licht und Glanz füllte die Welt. Ich grüßte die Himmelsflamme des Lebens.

 

Welche Schuld war es, die mich an diesem Tag verhinderte, Fernow frei ins Gesicht zu sehen. Auch vermied ich, mit ihm allein zu sein. Keiner berührte den Vorfall und das Gespräch der Nacht, so daß ich alles hätte für einen Traum nehmen können. Aber auf meinem Zimmer lag noch das Manuskript und kaum war es Abend geworden, zog ich mich zurück.

Fernow blieb bei der Mutter. Sicher wußte er, was ich jetzt tun würde.

Ich ließ die Vorhänge schließen und Lichter anzünden. Aber zu lesen begann ich erst, als ich wußte, daß im Schlosse alle zur Ruhe gegangen.

Von neuem versenkte ich mich in die dämonische Dichtung. Ich wollte mit Ruhe lesen: »objektiv«, wohl gar »kritisch«.

Was halfen mir Vorsätze! Von neuem faßte mich der Sturm und dieses Mal noch ungestümer, da ich jetzt nicht die Personen des Dramas, sondern den Dichter selbst zu mir reden hörte. Nur eine Frau kann eine solche Sophistin sein! Mit welchem Geschick verstand ich, gewisse Stellen der Dichtung fortzudisputieren und ihrem unzweideutigen Sinn einen anderen unterzuschieben! Mit welcher Kunst verstand ich zu idealisieren und zu apotheosieren! Was mich gestern noch empört hatte, suchte ich heute durch Ausdrücke wie »Byronisch«, »Faustisch« und so weiter, großartig zu machen. Doch großartig blieb er auch dort, wo er unverständlich erschien. Und dann – er hatte ja nicht für ein Publikum geschrieben, sondern nur für sich selbst; wie er selbst auch der Held war. – – Und war die Heldin nicht die Frau, die er gleichsam für sich geschaffen?! Wie geschah mir, als ich in dieser Gestalt Gedanken fand, die ich selber schon gefühlt. Welch ein Rausch ergriff mich! Ich sprach die Heldin und hörte entzückt, wie ich mich selbst sprach. Welche Töne standen mir plötzlich zu Gebot, welch ein übermächtiger Ausdruck! Als sie starb: den Giftbecher, den er ihr reichte, ausschlürfend, wie eine Bacchantin die Schale – wie fühlte ich da ihren Tod als der Wonnen letzte und höchste! Mit welcher mächtigen Überzeugung begriff ich, daß die selige Schuld: mit diesem Manne den Becher einer verbrecherischen Liebe in einem einzigen Zuge bis zur Neige geleert zu haben, ihr als den einzigen Trunk, den sie danach noch schlürfen durfte, den Giftpokal an die Lippen drücken mußte. Und doch warf ich mich außer mir hin, aufschreiend: »Sie ist tot!« Und lange lag ich in halber Besinnungslosigkeit da – –

Als Gretchen den Dämon fühlte, graute ihr's; als jene Heldin in dem Geliebten ihren Zerstörer ahnte, jauchzte sie ihm zu.

Wieder gab es eine schlaflose Nacht. Fernows Licht brannte nicht mehr; aber wenn auch – schwerlich, daß ich ihn diesmal aufgesucht hätte. Ich schlich mich zum Zimmer der Mutter, wie ich schon einmal getan. Aber heute wagte ich nicht, die Schwelle zu übertreten. Es scheuchte mich fort, ich floh hinaus, um mich draußen wie ein ruheloser Geist todmüde zu irren. Als der Morgen graute, lag ich in tiefster Ermattung angekleidet auf meinem Lager.

Und dennoch – obgleich tausend Stimmen in mir zu Mahnern erwachten, sprach ich das Wort nicht aus, das das Verhängnis von mir abgelenkt hätte. Mein Geist lag wie in Banden geschlagen. Willenlos, hilflos ließ ich das Schicksal seinen Weg nehmen, keine Hand dagegen rührend und wenn es mich auch hätte zermalmen sollen.

Aber ich sollte dadurch jawohl eine große Künstlerin werden? Wenigstens war das seine Meinung. Wie gleichgültig mir das war!

Acht Tage vergingen. Jeden Abend las ich in dem Manuskript und, wenn es menschlichen Kräften überhaupt möglich gewesen, hätte ich hintreten können, die Heldin zu spielen. Trotz meiner wilden Nächte war ich am Tage ruhig, ja gleichmütig. Die Mutter blieb ahnungslos, selbst Fernow zu täuschen gelang mir.

Auch das verwirrte mir fast den Verstand: da ist er und liebt dich und gibt dich dem andern.

Wenn er nur fortgegangen wäre!

Da erfuhr die Mutter, daß Fernow einen Freund erwartete. Auch sie war erstaunt, nie etwas von diesem Freunde gehört zu haben, sie, die doch so vieles von ihm wußte. Sie schien mir betroffen zu sein, gedankenvoll zu werden. Vielleicht verbindet sie, so dachte ich mir, irgendeinen Vorgang aus seinem Leben mit diesem Freunde. Dann aber freute sie sich herzlich auf den Gast und ordnete selbst dessen Zimmer. Fernow und ich sahen uns scheu an. Beinahe wäre es damals um der Mutter willen doch noch unterblieben.

Fernow war ihm entgegengefahren; am Abend wurden beide erwartet. Ich schob Kopfschmerz vor und verbrachte den ganzen Tag auf meinem Zimmer. Am Morgen hatte mich die Mutter liebreich gescholten, daß ich mich gegen die große Freude, den einzigen Freund unseres Freundes bei uns zu sehen, so ablehnend verhalte.

Als gegen Abend die Mutter kam, um sich besorgt nach meinem Befinden zu erkundigen, behauptete ich, mich besser zu fühlen, begab mich auch mit ihr hinunter. Natürlich kam das Gespräch auf den Erwarteten. Ich erklärte der Mutter, daß ich Mißtrauen gegen seinen Charakter hege: er sei eine problematische Natur. Von neuem glaubte ich bei der Mutter eine Betroffenheit zu bemerken. Von mir darüber befragt, geriet sie in Verwirrung, so daß der alte Verdacht in mir wach wurde: gewiß stand der Fremde mit einem Ereignis aus Fernows Leben im Zusammenhang, von dem sie wußte.

Obgleich ich mich heftig nach Einsamkeit sehnte, gab ich meinem Verlangen nicht nach und blieb bei der Mutter. Als sie mich fragte, ob ich nicht den Herren entgegengehen wolle, wies ich dies fast unfreundlich zurück. Es war kühl geworden. Da ich ein leichtes Sommerkleid trug, ging ich hinauf, ein wärmeres anzulegen. Mit einem Trotz, über den ich selbst lächeln mußte, wählte ich ein Kleid, dessen stumpfes Grau mir möglichst unvorteilhaft stand. Damit noch nicht zufrieden, zog ich mir auch die Blumen aus dem Haar, mit denen ich mich täglich schmückte.

Das getan, wollte ich mich wieder hinunterbegeben, blieb aber oben. Ich setzte mich, ergriff ein Buch, las aber kein Wort. Ich warf den Band fort, holte meinen Stickrahmen, tat aber keinen Stich. Dann ging ich auf und ab und als mich das von neuem unruhig zu machen drohte, fing ich an, eine Rolle zu memorieren. Darüber vergaß ich mich so, daß ich zusammenschreckte, als draußen plötzlich der Wagen vorfuhr.

Vom Fenster aus sah ich ihn aussteigen. Er ging mit Fernow ins Schloß. Ich aber blieb stehen, blickte in das Abendrot, bis dieses erlosch und der Diener mich zur Tafel rief.


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