Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vierzehntes Kapitel.

Vorbereitungen.

Luise schlug die Hände zusammen.

Sie sei freilich eine unverständige Person; aber das müsse sie denn doch sagen: wenn das vernünftig sein solle, dann könne ihr armer Kopf sich ja wohl gleich bei Herrn Doktor Axel Fernow in die Kur begeben.

»Und der Mann soll Tolle heilen!« schloß sie entrüstet. »Ja tollemachen, das kann er!«

Um den dunklen Sinn dieses Satzes zu erläutern, sei hier erwähnt, daß Fernow in der letzten Zeit studiumshalber, zum schaudernden Entsetzen Luisens, viel die Irrenanstalt besucht.

Zugleich ist es notwendig, einzugestehen, daß seit kurzem mein lieber Freund in Luisens Augen nicht mehr das »Exemplar von Mann« war. Wenn sie jetzt jeden Morgen über den leeren Ölbehälter seiner Lampe ihre Betrachtungen anstellte, so geschah dies nicht mehr aus Besorgnis über die langen Nachtwachen; sondern im hellen Zorn über seine unerhörte Verschwendung von Brennmaterial. Hätte Fernow noch allein in seinem Zimmer zu Mittag gespeist, so müßte ihn eine empfindlich bemerkbare Abnahme seiner Lieblingsspeisen stutzig gemacht haben. Da es aber schwer zu ermöglichen gewesen, daß er am allgemeinen Mittagstisch einzig und allein einen Teller versalzene Suppe, ein zähes Stück eines allerältesten Ochsen oder verbrannten Kalbsbraten vorgesetzt bekommen hätte (Luise konnte doch unmöglich des einen wegen, ihre »Reputät« als Meisterin der Küche bei allen aufgeben!), so blieb Fernow, wie ehemals über die Gunst, jetzt über die Ungunst unserer Gestrengen völlig im unklaren.

Diese unglaubliche Verblendung war allerdings nur durch den Umstand möglich, daß Luisens Neigung durchaus kein lieblicheres Antlitz besaß, als ihre Abneigung. Und wenn sie sich auch im Anfang von ihren Gefühlen für das Exemplar von Mann so weit hatte hinreißen lassen, daß sie ihm bei einer zufälligen Begegnung Augen machte, deren Blick (so sehr dies bei einer Jungfrau von Luisens Tugend möglich war) Zärtlichkeit bedeuten sollte, wobei dann ihre strengen Lippen ein verlegenes, sauer-süßes Lächeln umspielte – so hatte Fernow selbst in jenen holdseligsten Zeiten sie wohl für eine zwar sehr ehrenwerte, aber nicht gerade besonders liebenswürdige Dame gehalten.

Ohne sich im mindesten daran zu kehren, daß sich durch seine Schuld ein weiches Frauenherz allmählich verhärtete, lebte Fernow in unserm Hause, als ob es auf der Welt keine so majestätische Repräsentantin des unleugbar sehr wohlklingenden Namens Luise gebe. Tagtäglich durchschritt er mir nichts dir nichts den heiligen Raum ihrer Küche, ohne vor dieser Schwelle irgendwelche Ehrfurcht zu empfinden. Aber in geradezu tödlicher Weise verwundete er Luisens Gefühle, indem er selbst an Sonnabend Nachmittagen sich ohne jede Rücksicht gegen ihren frischgescheuerten Fußboden benahm. Die Mutter und ich hatten fortwährend zu beschwichtigen. Doch bin ich noch heute der festen Überzeugung, daß auch ohne diese Besänftigung kein Ausbruch ihrer Entrüstung erfolgt wäre. Uns, die Mutter und mich, liebte Luise; gab es aber einen Menschen auf der Welt, den sie fürchtete, so war dies Doktor Axel Fernow. Er imponierte ihr gewaltig. Der unglaubliche Umstand, daß ihm ihre stattliche Person so wenig bedeutend erschien, flößte ihr unendlichen Respekt ein. Eben noch in vollem Affekt über eine vermeintliche Beleidigung, bezeigte sie bei dem unerwarteten Eintritt des Doktors die größeste Fassung. Während der Mund stumm blieb, hatte nur das, was sie gerade in den Händen hielt, unter dem vollen Ausdruck ihrer empörten Empfindung zu leiden.

Aber wahrhaft unerschöpflich war sie in den Variationen des Themas: was das jetzt für eine Welt sei, in welcher junge Frauenzimmer mit jungen Mannespersonen solches Wesen zusammen betrieben, noch dazu mutterseelenallein!

Allerdings: wir »studierten« – ei freilich! Sie könne ja in ihrer Küche jedes Wort hören und oft genug sausten ihr die Ohren davon! Zu was wohl um Himmels willen der Doktor mit der Rolla zu studieren brauche. Das möchte sie, eine dumme Person wie sie sei, denn doch gar zu gern wissen. Studieren – die Rolla studieren! Als wenn die nicht bloß ihr hübsches Mäulchen aufzutun brauchte, um alle Welt »verplext« zu machen. Verdreht sei der Doktor, verdreht sei die Rolla, verdreht die Mutter, verdreht sie selbst, daß sie nicht alle viere wieder zur Vernunft bringe.

Wäre solcherart Luise fast zu Fernows Feindin geworden, so hielt die Mutter, die, wo sie einmal vertraute, das unerschütterlich für immer tat, fest zu ihm. Diese beiden verehrten Menschen so innig miteinander verkehren zu sehen, bereitete mir ein beständiges Glück. Sie verstanden sich, wie zwei edle Gemüter das immer tun; und wenn die Mutter Fernows Methode nicht völlig begriff, so glaubte sie doch nicht minder an den Lehrer, wie die Tochter selbst. Ihre größeste Sorge war, daß Fernow aus Teilnahme für mich zu viel Zeit von seinem Beruf fortnehme. Aber er beruhigte uns beide dadurch, daß er uns bewies, wie die Stunde, welche er mir jeden späten Nachmittag schenkte, seine einzige und beste Erholung sei. Auch gehe er nun nicht mehr, wie er das früher fast jeden Abend getan, in das Theater; sondern genieße dies Vergnügen höchst königlich zu Hause. Er beteuerte uns, daß ihm dies letztere weit besser bekäme, da er früher von einem Stücke doch nur einen oder höchstens zwei Akte habe ablauschen können. Nun wickele sich alles weit gemächlicher für ihn ab.

So oft ihm möglich, machte er der Mutter in deren Zimmer einen Besuch. Ich wußte, daß sie in vielem seine Vertraute geworden, worüber ich völlig ununterrichtet war. Alles, was ich von seinen persönlichen Verhältnissen erfahren, war: daß seine wohlhabenden Eltern längst tot und er in seinen Jünglingsjahren eine Art von Wilhelm Meister gewesen. Meine Mutter wußte mehr. Als sie einmal eine Bemerkung hinwarf, die darauf schließen ließ, daß Fernow sehr unglücklich, ja, dem Untergange nahe gewesen sei, fühlte ich einen Schmerz um ihn, der mich seit jenem Augenblick nie wieder verließ. Mit gesteigerter Verehrung beobachtete ich an ihm sein stets gleiches, gemäßigtes Wesen, seine schöne Ruhe, seine ernste Schaffensfreudigkeit. Immer sehnlicher wuchs mein Wunsch, ihm seine Wohltaten nicht dadurch zu lohnen, daß ich ihm, die ich ihn so gern durch meine Freundschaft beglückt hatte, neues Leid brachte.

Ich hatte eine Ahnung, als ob er auch hierüber mit der Mutter gesprochen. Nun, diese schien ja beruhigt zu sein.

Auch über die Schicksale seines Theaterlebens mußte er sie unterrichtet haben. Sehr fiel mir auf, daß meine stille, sanfte Mutter ganz außer sich geriet, als sie hörte, daß Fernow mit mir das Gretchen studiere. Ich versuchte nicht, über so viel Geheimnisvolles nach zu denken; aber auch ich sollte bemerken, wie die eingehende Beschäftigung mit Gretchen dem Freunde ein süßer Schmerz zu sein schien, eine Erinnerung, in der er schwelgte, trotz der Qual, die sie ihm gab. Ich war im höchsten Grade betroffen und mußte nun oft daran denken, was er mir darüber gesagt hatte: »Ich habe nur einmal ein gutes Gretchen gesehen, als ganz junger Bursch. Das habe ich allerdings niemals vergessen.«

Sah ich die Mutter und den Freund zusammen, so wollte mich bedünken, als ob von der Milde der Mutter ordentlich auf den Freund übergehe. Sobald er in ihr Zimmer trat, war er wie in geweihter Stimmung: so sanft und gütig mochte er bei einem seiner Schwerkranken sein! Dafür sah ihm aber auch die Mutter jedesmal mit stillem Lächeln entgegen. Länger als es sonst Sitte ist, ruhten die beiden Hände ineinander; beide so weiß, beide so vornehm! Wenn der Freund uns vorplauderte, immer Gutes und Tüchtiges, fuhr die Mutter fort, ihre Blumen zu machen, für welche Fernow eine Teilnahme zeigte, als ob sie die größten Köstlichkeiten des Lenzes wären. Er brachte der Mutter schöne Vorbilder, seltene und kostbare Blüten aus Gärten und Treibhäusern, oft mit vieler Mühe erworben. Auch für die liebenswürdige Kunst sann er auf neue Lehrmethoden und erreichte dadurch, daß die Blumen der Mutter weit künstlerischer gebildet wurden als diejenigen, welche gerade Mode waren. Meine Mutter erhielt infolgedessen von den ersten Magazinen Bestellung und entschloß sich, nach den Ratschlägen des Freundes, ein förmliches Atelier einzurichten, in welchem sie bald eine große Zahl junger Mädchen ausbildete und beschäftigte.

Beglückte mich so die Verehrung, ja Ehrfurcht, mit der ich meine Mutter von dem Freund behandelt sah, konnte ich mich oft nicht enthalten, von ganzem Herzen zu wünschen: wär' er doch ihr Sohn! Aber der Sohn der Mutter hätte mein Bruder sein müssen.

 

Fernow hatte recht: dem armen Gretchen ward in seiner richterlichen Gegenwart oft angst und bange. Er war unerbittlich, unbestechlich! Seine Natürlichkeitsmanie nahm bei diesem Gretchenstudium einen erschrecklichen Charakter an.

»Ach, daß es doch so schwer ist, natürlich zu sein,« war mein täglicher Seufzer. Dabei mußte ich jedoch mehr und mehr einsehen, wie begründet Fernows leidenschaftliche Forderung war und wie sehr beim deutschen Theater gegen die heilige Natur gefrevelt wird.

Da schwatzt man auch bei der Schauspielkunst so viel von Idealismus und Realismus und liefert dadurch wieder einmal den Beweis: welche Herkulesarbeit es für die meisten Menschen sein muß, vernünftig zu sein. Muß es denn immer gerade Idealismus sein? Kann denn der Weg nicht auch zwischen diesen beiden Extremen ganz bequem und sanft hinführen?

»Wenn Sie Ihr Publikum nicht zu überzeugen vermögen, ist Ihre ganze Kunst wertlos. Diese Überzeugung ist meiner Meinung nach nur dann zu erzielen, wenn Ihr Spiel uns so in die Illusion zu versetzen und in ihr zu erhalten weiß, daß wir, die Wirklichkeit vergessend, Dichtung und Spiel für Wirklichkeit nehmen. Dies ist aber nur dann möglich, wenn auch das Spiel immer bei der Wirklichkeit bleibt. Nun kann jedoch die Wirklichkeit nur zu oft recht häßlich sein: sie ist es. Sie von allem Häßlichen zu befreien und zu reinigen und ihr so die Verklärung des Schönen zu geben, muß Ihr erstes und vornehmstes Bestreben sein. Wenn Sie das tun – und Sie können es, ohne im geringsten die Natur verleugnen zu müssen – so idealisieren Sie Ihren Stoff. Sie bleiben real, denn Sie fußen auf dem Boden der Wirklichkeit – Sie sind ideal, weil Sie mit Ihrem Haupte den Himmel grüßen.

Einen vorzüglichen Beleg, zu welchen Irrtümern die absolut reale Richtung, die völlige Natur auf der Bühne verleiten kann, geben die Italiener. Diese Menschen spielen, daß alles Spiel aufhört. Aber was müssen Sie dabei mit in den Kauf nehmen! Gewinsel, Geheul, Sterberöcheln, Todeszuckungen – alles mit solcher Natur wiedergegeben, daß man sich voll Ekels von derartiger niederländischer Malerei abwende. Was im Gegensatz zu diesem die Idealisten dem Schauspiel für Unheil gebracht, davon liefern in ihren klassischen Tragödien die Franzosen ein abschreckendes Beispiel. Da stolziert alles auf dem Kothurn, da sind alle Falten Draperien, da ist jede Bewegung Pose, jedes Wort Pathos. Sehen Sie dagegen einmal im Theater Français Molière spielen und Sie werden von diesem Abend eine Epoche in Ihrer schauspielerischen Entwicklung datieren. Sie erfahren, was Ihre Kunst bei der Vereinigung mit dem Idealisten zu leisten vermag.

Allerhöchstes, eben das Kunstwerk.

Und nun zu unserm Gretchen.

Was nehmen wir heute vor?«

»Die Szene nach dem Kirchgang abends zu Haus war an der Reihe.«

Ich trat ins Stübchen, setzte die Lampe hin, ging, das Fenster zu öffnen. Mir ist so schwül, mir ist so angst! Ich möchte, daß die Mutter nach Haus käme! Ich schauere, ich schelte mich aus. Die Angst zu verscheuchen, trällere ich ein Lied.

Dann finde ich das Kästchen und darin den Schmuck. Ich staune, ich putze mich auf: ich finde mich hübsch. Mein eigner, ungeschmückter, junger Hals fällt mir ein. Ich seufze, ich bedauere mich ...

Ich glaubte, recht liebenswürdig gewesen zu sein; aber der Freund schüttelte den Kopf.

»Noch weit einfacher!« ermahnte er, »noch weit bürgerlicher und schlichter; Sie machen in dieser Szene noch immer viel zu viel. Das Publikum muß kaum merken, daß Sie gut spielen, so ungemein einfach muß der kleine Vorgang geschehen. Besonders das erste. Ihre ahnungsvolle Empfindung, daß Ihnen etwas geschehen werde, ein großes Glück und ein großer Schmerz, müssen Sie weit unbewußter geben. Ein junges Ding, dem ein wenig bang zumute ist, weiter nichts. – – Also noch einmal.«

Es geschah noch viele Male.

»Ich bitte Sie um alles,« beschwor mich der Freund, »gebrauchen Sie keine weichen Töne, die Gretchen nun einmal gar nicht verträgt. Der Dichter hat sie so fein und zart geschildert, daß die Schauspielerin sehr vorsichtig zu Werke gehen muß, um nicht durch zu viel Farbe die reinen Konturen zu verwischen, oder mit zu lebhaftem Kolorit auf eigene Hand hineinzumalen. Die Linien sind die einfachsten, klarsten, keuschesten, die jemals gezeichnet worden sind.

Vor allen Dingen: keine Sentimentalität! Gretchen ist nicht empfindsam. Das Veilchen auf der Wiese ist es auch nicht, trotzdem es dazu von den klugen Menschen gemacht worden ist. Gretchen ist ein Veilchen: Es blüht bescheiden, aber duftet ganz kräftig.

Und Gretchens Geschichte? Sie ist kaum eine andere als Bärbelchens und jedermann weiß, daß das eine sehr alltägliche Geschichte ist: Ein junges, verliebtes Ding verführt und verlassen, verzagend und verzweifelnd – manch einem Mädchen, das hold und gut, abends am Brunnen auf ein gefallenes Bärbelchen schmält und dann vor dem Schlafengehen sehnsüchtig ein Lied von Liebe und Treue singt, ergeht es, wie es dem guten Gretchen ergangen. Freilich der Muttermord und der Brudermord und dann, in einem schrecklichen Augenblick der unfreiwillige Kindesmord – das ist fürchterlich! Der Beilschlag des Henkers ist in dieser Tragödie der notwendige Schluß. Und der notwendige Schluß ist: das gerichtete, das gerettete Gretchen von triumphierenden Engelscharen in die geöffneten Himmel getragen.«

Solcherart unterwies mich Fernow in Gretchens Geschichte, und erschloß mir so das volle Verständnis dieser allersüßesten Gestalt.

»Ob dem Publikum Ihr Gretchen so gefällt wie mir, das ist allerdings etwas zweifelhaft,« bemerkte er mit einem Gesicht, über das ich lachen mußte.

»Schlägt Ihnen das Gewissen, nachdem Sie die Tat verbrochen?« fragte ich ihn mit verstelltem Ernst. »Ich mache Sie für die Folgen verantwortlich!«

Er starrte mich ganz erschrocken an.

»Verantwortlich – Folgen? – – O weh, Doktor Axel Fernow, was haben wir da angerichtet?!« Aber sofort sprach er sich wieder Mut ein. »Pah, Folgen! Gutes kann nur gute Folgen haben. Unser Gretchen ist ein ganz anderes Geschöpf, als das junge Fräulein im Schleppkleide, welches auf unserem Theater ihrem Heinrich auf dem Kirchgang begegnet. Zuerst ist diese Demoiselle naiv, dann gefühlvoll, zuletzt hochtragisch; und diese Mosaik von Empfindungen heißt dann: ›Entwicklung!‹ Übrigens, wenn Sie meinen, daß ich Ihnen durch meine Gretchenvorträge gerade keinen Freundschaftsdienst erwiesen habe, so könnten wir ja einige pikante Nuancen einschachteln, damit die im ersten Rang das gute Kind nicht gar zu langweilig finden: so einige kräftige Drucker! Es ist gerade nicht schwer und wirkt ungeheuer. Sie können das schließlich, ohne sich dabei von mir helfen zu lassen. Eindruck, Effekt machen Sie jedenfalls mehr damit. Also, überlegen Sie's!«

Ich lachte meinen klugen Lehrmeister aus.

»Ich bin groß und spiele mein Gretchen: Ihr Gretchen! Und wollen sie uns nicht, nun, so ist man – wieder groß und verachtet. – – Ist es so recht, mein gewaltsamer Herr?«

Dem war's recht.


 << zurück weiter >>